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XV.
Neue Zeiten

Der Weringer legte den größten Teil des Weges durch das Dorf mit gebeugtem Haupt und gesenkten Blicken zurück.

Die um ihn waren und die ihn sahen, wähnten den Grund dieses Umstandes in dem Schmerz des verletzten Beines und hatten in der Tat zum Teil auch recht; allein es waren doch auch mächtige Eindrücke des Gemüts dabei im Spiele.

Schon der flüchtigste Blick auf die alte Heimat belehrte den Weringer, welche bessere Tage über Ettwangen heraufgezogen waren, seitdem er es verlassen. Der Ort war aus einem gewöhnlichen Dorfe fast zu einem Städtchen herangewachsen, viele neue Häuser mit roten Ziegeldächern blickten freundlich zwischen dem Grün der Bäume hervor, ein Geist der Ordnung, Reinlichkeit und Wohlhabenheit lächelte auf Schritt und Tritt entgegen, und mit wenigen Ausnahmen hatte jedes Haus jetzt seinen zierlichen Blumen- und Gemüsegarten.

Es konnte nicht zweifelhaft sein, dass außer der rasch aufblühenden Wohlhabenheit zu dieser Verschönerung auch das gute Muster mitgewirkt hatte, welches man an der gefälligen Bauart des Bahnhofes und der trefflichen Benutzung auch des geringsten Stückes Boden herum vor Augen hatte. Jeder, der an seinem Hause zu bauen oder zu verbessern hatte, holt sich dort nach Möglichkeit das Muster, und an dem Beispiele des Nachbarn ermunterte sich der Nachahmungssinn des Nachbarn. Bald war man selbst erstaunt, wie viel Geschmacklosigkeit und Schluderei man den armen Augen bisher zugemutet, wie viel Gut an Boden man bisher mit Füßen getreten; wo aber das bessere Einsehen und Beispiel nicht verfangen wollten, da regte wenigstens die Gewinnsucht zu Verbesserungen an indem außer dem Bahnhofspersonal eine Anzahl wohlhabender Familien, pensionierte Amtsleute u. dgl. im Orte wohnten, die eine gewisse Form und Reinlichkeit in ihren Gelassen verlangten.

Den tiefsten Eindruck auf den Weringer machte jedenfalls der Anblick seines eigenen ehemaligen Hauses.

Dieses war, da es dem Bahnhof am nächsten stand und die erforderlichen Räume bot, zu einem sehr hübschen Gasthof umgeschaffen; auf dem ursprünglichen Stockwerk stand jetzt ein zweites, beide waren hellgelb angestrichen und geziert mit einer langen Doppelreihe Fenster, die von innen hübsche, weiße Vorhänge sehen ließen.

Aber fast noch schöner und überraschender als das Haus war die nächste Umgebung desselben verwandelt.

Die weiten Nebenbaue, wie scheuer und Wagenverschläge, waren weggebrochen, und an ihre Stelle befand sich eine hübsche Trinkhalle in halbrunder Form, von weißen Holzsäulen getragen und mit frisch angestrichenen Tischen, Bänken und Stühlen reichlich bestellt; der große Zwischenraum bis zum Gasthause selbst war wohl geebnet, mit feinem Sande bestreut und mit Kastanienbäumen und Akazien bepflanzt, darunter ebenfalls Tische und Stühle standen.

Es geschah von Seite des Schwähers Beck ganz harmlos, dass er den Weringer im Vorübergehen anhielt, um ihn sein früheres Eigentum in dieser neuen Verwandlung bewundern zu lassen; und es war in der Tat gerade jetzt sehenswert, da sich viele städtisch und ländlich gekleidete Gäste eben hin und her bewegten oder saßen und in bester Laune zechten.

Der Weringer richtete sich empor und sah gerade so lange auf das für ihn außerordentlich überraschende Schauspiel als vonnöten war, um sich keine Blöße zu geben; dann machte er dem Schwäher bemerkbar, dass er später alles näher betrachten wolle, jetzt aber seines Beines halber wünschen müsse, in das Haus des Schwiegersohnes gebracht zu werden – was denn auch geschah …

»Nun, was sagt ihr?« sprach eine Stunde später der Fellmer zu einer Anzahl Ettwanger, die sich mitten im Dorfe aufgestellt hatten.

»Wir können ruhig sterben, wenn wir wollen, er hat sich doch noch einmal bei uns blicken lassen«, erwiderte der Häuer.

Einige lächelten, andere sahen ernst drein.

»Er ist im Schlaf über uns gekommen, wie das Glück, sonst hätten wir ich nimmer hier getroffen«, bemerkte einer von den Ernsten.

Es entstand nun ein lebhaftes Hin- und Herreden, ob es Zufall oder Absicht gewesen, dass der Weringer in Ettwangen erschienen sei. Die Mehrheit neigte sich wirklich der Ansicht zu, dass der Zufall den Besuch verschuldet habe.

»Im Übrigen ist das alles eins jetzt«, meinte der Häuer schließlich – »er ist einmal da und soll nicht wieder ohne Weiteres fort; seinem Merks soll er auf den Weg mit haben.«

»Das mein' ich auch«, stimmte der Fellmer ein – »Ich glaub' zwar, er hat schon im Kurzen geseh'n, was Ettwangen ist; aber er soll noch mehr sehen und uns beichten, dass er nicht vonnöten gehabt, achtspännig fortzumachen und mit seiner Großmannmacherei sich ins Gebirg zu verfahren!«

Einige der Ernsthaften, die einst warme Verfechter Weringers gewesen und auch jetzt noch mit Achtung an ihm hingen, warnten ernstlich vor aller Prahlhanserei und verbaten sich jeden Mutwillen gegen einen Mann, der trotz der neuen Häuser und besseren Zeiten noch immer eine Zierde Ettwangens wäre.

»Der Mensch lebt nicht allein vom Brote«, bemerkte einer von diesen schließlich – »das Herz will auch was haben; sein Herz hat ihn von hier hinweg genommen, das kann ihm heut noch keiner übel nehmen.«

Der Weringer fühlte indessen scharf heraus, welche Erinnerungen und Bemerkungen seine Ankunft in Ettwangen hervorrufen müsse, und war bedacht, den schlimmen Zufall wie ein Werk des freien Willens aufzunehmen. Es war daher nicht Ermüdung von der Reise noch die Notwendigkeit, das wunde Bein zu pflegen, dass er sofort nach seiner Ankunft in dem Haus des Schwiegersohnes in dem engsten Kreis der Verwandten sich zurückzog; er wollte hier auf die schnellste Weise Sammlung finden und sein künftiges Betragen regeln.

»Alles ernst und unbewegt ins Auge fassen« – das war der schließliche Vorsatz Weringers, als er abends zu Bette ging und sein erster Gedanke, als er morgens durch den verhassten Pfiff der Lokomotive geweckt wurde.

Sein Bein war durch kalte Umschläge und die Ruhe der Nacht auf dem besten Wege der Besserung; er stand also rasch auf und trat früher, als man erwartet, zu seiner Tochter und deren Mann in die Familienstube.

»Es schläft sich gut unter euerm Dach«, sagte er freundlich, sich zu ihnen setzend – »Wo sind die Kinder?«

»Die haben gestern zu viel getollt, da schmeckt es ihnen auch in ihren Betten«, erwiderte Bärbl sehr glücklich über den Anblick und die Frage des Vaters.

Überrascht wurden sie und ihr Mann einigermaßen durch Weringers Verlangen, dass man gleich nach einigen Nachbarn schicken solle, die er als Freunde von früheren Zeiten her noch schätzte.

»Ich will mit ihnen Umschau halten, was sich alles hier verbessert hat«, bemerkte er dazu.

Natürlich wurde gleich herumgeschickt, und der Weringer war mit seiner Morgensuppe kaum zu Ende, als bereits alle Gebetenen erschienen.

Es wurde, so früh es auch noch war, für einen guten Trunk aus dem Gasthof gesorgt, bald brannten die Pfeifen auch, und das Mundwerk kam in besten Geng.

Im Stillen wunderte sich eigentlich alles, dass der Weringer aus freien Stücken über Ettwangen und dessen schönes Aussehen zu sprechen begann, ja nach und nach selbst über Verhältnisse Erkundigung einzog, die man seinetwegen gern verschwiegen hätte. Endlich sagte er:

»Reden ist gut, aber sehen ist besser«, stand auf und verlangte nach einem bedächtigen Gang durch den Ort. »Ich habe auch von Eurer besseren Viehzucht gehört«, fuhr er fort, »wir wollen sie im Aug' behalten.«

Schon den Abend zuvor hatte er sich von der Wahrheit dieser Tatsache in dem Hause seines Schwiegersohnes überzeugt; sein Erstaunen wuchs, als er von Haus zu Haus den gleichen Fortschritt bei allen Nachbarn gewahrte.

»Wir haben das auch der Eisenbahn zu danken«, bemerkte man dabei – »um Geringes haben wir von weit her bessere Musterstücke bringen können, wir sind in landwirtschaftliche Vereine getreten, Preise, bessere Unterweisung, Antrieb nach Ehr' und gutem Namen – alles hat dabei geholfen; dazu ist jetzt mehr Geld im Umlauf und mit der guten Viehzucht auch ein Gutes zu verdienen.«

Um Zeit zu sparen und den Gang durch das Dorf abzukürzen, trieb man nun auf dem Gemeindeanger all die prächtigen Stücke veredelter Zucht zusammen, welche morgen auf der Eisenbahn zur Tierausstellung sollten, und der Weringer sah überraschter drein, als er es wohl wünschen mochte.

Auf dem weiteren Gange durch das Dorf trag der Weringer auch in einige Häuser seiner schlimmsten Widersacher und wusste mit einfachen und würdigen Worten manches Gute und Neue darin hervorzuheben. Er bewirkte dadurch (was vielleicht in seiner Absicht lag), dass man ihm mit doppelter Artigkeit entgegenkam.

»Wir wollen jetzt in meinen früheren Hof und tun, als wenn wir dort zu Hause wären«, bemerkte Weringer hierauf und schritt mit einiger Lebendigkeit voran.

In diesem Augenblicke trat aus einem kleinen, aber niedlich geputzten Hause eine junge, hübsche Frau in Stadtkleidern, sah den Weringer betroffen an und sagte dann etwas errötend und freundlich:

»Ei, Herr Weringer, sind Sie auch einmal bei uns? Das freut uns aber sehr!«

Der Weringer blickte sie mit großen Augen an und erwiderte: »Ich weiß nicht recht – ist's möglich?«

»Anne Kraus«, half die junge Freu seinem Gedächtnisse nach.

»Hätt' ich doch überall leichter hingeraten aus auf Dich – oder Euch – verzeihen Sie!«

Die Angeredete ging einige Schritte mit und sagte, ihre natürliche Heiterkeit wieder gewinnend, dass die die Frau des Bahnhofsinspektors Werle sei und mit einiger Eile nach dem Bahnhof müsse; sie empfahl sich auch sodann mit einer höflichen Verbeugung und wusste in recht artiger Weise anzubringen, wie sehr sie sich freuen würde, ihren Mann mit Herrn Weringer bekannt zu machen!

Dieser sah jetzt mit erstaunten Blicken auf seine Umgebung, da es ihm denn doch zu rätselhaft war, was er eben gehört und gesehen hatte. Dieses nämliche Wesen hatte er vor Jahren bei seinem letzten Gange durch das Dorf mit heim genommen, um der trauernden Familie Kraus für das nächste Bedürfnis Geld und Nahrungsmittel zu schenken; – damals lief es in zerrissenen Gewand und mit ungekämmten Haaren neben ihm her, und jetzt war ich ihm die junge Stadtmadame fix und fertig«

Die Männer, welche dem Weringer folgten, lächelten eine Weile vor sich hin, dann bemerkte der Wendelin Ebner:

»Die verdankt ihr Glück eben auch der Eisenbahn, oder vielmehr dem Turnel (Tunnel) nach Großfelden!«

»Wieso?« fragte der Weringer.

Wendelin erzählte nun, wie gleich nach Eröffnung der Eisenbahn Anne Kraus einmal nach Großfelden gefahren und ihrer heiteren Art nach alles um sich gründlich belustigt habe; während der Fahrt durch den langen Tunnel, wo es einige Minuten stockfinster gewesen, habe sie gespürt, dass sich ihr jemand unziemlich nahe, um ihr einen Kuss zu geben; kurz resolviert habe sie aber eine saftige Ohrfeige ausgeteilt, worauf sie Ruhe gehabt, bis das Tageslicht wieder in den Wagen gedrungen; – aber welche Überraschung! Statt den rechten Missetäter, einen jungen Handlungsreisenden, zu treffen, habe sie einen ziemlich bejahrten, ehrwürdigen Herrn gezüchtigt, weil wie meinte, dieser habe sich an ihr versündigt. Die Sache klärte sich auf und siehe da, der alte Herr war über diese straffe Tugend in solches Entzücken geraten, dass er ihr in Ettwangen bis ins Haus des Vaters folgte, wo sich dann herausstellte, dass der Fremde niemand anders sei als der neue Bahnhofsvorstand. Dieser habe hernach das Mädchen auf eigene Kosten in die Stadt geschickt, sie das Allernötigste erlernen lassen und hernach geheiratet, was er in der Tat bis heute auch nicht bereut habe.

Die Männer des Ortes waren durch diese oft erzählte Geschichte wieder sehr erheitert worden, auch der Weringer lächelte dazu, war aber dennoch nachdenklich geworden und trat zerstreut in das große Trinkzimmer des neuen Gasthofes.

Der Wirt empfing ihn mit warmer Zuvorkommenheit; er habe, sagte er, gestern von seiner Anwesenheit zu spät erfahren, sonst würde er ihn schwerlich so bald wieder fort gelassen haben. Natürlich. War er doch sehr begierig, den früheren Herrn seines Hauses über die herrlichen Neuerungen urteilen zu hören. Der Weringer dachte mit einem summarischen Urteil davon zu kommen, musste aber doch mit dem ehrgeizigen Manne Ober und Unterstock wie Keller und Nebengebäude durchwandern und überall an Ort und Stelle auf das Genaueste Rede stehen.

Dem Weringer war dabei nicht sonderlich zu Mute. Konnte er sich im oberen Stockwerk, das ganz neu war, vollkommen in ein fremdes Haus versetzen, so war ihm das im unteren Teile des Gebäudes doch nicht möglich, wo die Einteilung der Räume dieselbe geblieben und diese nur besser herausstaffiert waren.

Der Tisch, an welchem der Weringer sich hier niederließ, stand z. B. in derselben Ecke, wo einst sein eichener Familientisch gestanden hatte, an welchem er und die Seinen mit Knecht und Mägden so viele tausend Male Speise und Trank genossen; freilich standen an der Stelle der Wandbänke und schweren Holzstühle jetzt zierlich geformte Sessel, und statt des Kruzifixes und einiger Heiligenbilder hingen die Bildnisse einiger Generale, gefeierter Sänger und Tänzerinnen an der Wand.

Die mit Weringer gekommenen Freunde überließen ihn zum Glück eine Weile ganz sich selbst, so dass er sich aus früheren Tagen manches Familiengeschehnis wieder vergegenwärtigen konnte; er benutzte die Augenblicke auch vortrefflich und hatte in Kurzem Weib und Kinder, Auftritte der Ausfahrt und Heimkehr wieder lebendig vor Augen; erst als er plötzlich nach der linken Seite der Kammertür starrte, wo sein Weib einst bei der Nachricht, dass Haus und Hof verkauft seien, wie leblos hinsank und hierauf in herzzerreißendem Jammer sich gegen diese Gewalttat wehrte, schauerte der Weringer zusammen, kam zu sich und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf das, was eben um ihn vorging.

Die Bauern hatten in zwischen eine Zeitung ergriffen und erst den politischen Teil, sodann den volkswirtschaftlichen Anhang durchgegangen. Der Weringer war erstaunt, wie die Leute ernst und bündig das Beste herauszufinden und von allen Seiten zu besprechen wussten. Eine Art stiller Scham durchrann ihn, als er merkte – wie sehr er durch seine jahrelange Abgeschiedenheit zurückgeblieben war. Er fühlte sich auf keine Weise im Stande mitzusprechen und empfand als stummer Zuhörer eine Demütigung vor sich selbst, die ihn förmlich lähmte.

Der Zufall wollte, dass gerade heute wieder einige Zeilen des Tageblattes auf die wachsende Bedeutung Ettwangens hinwiesen; ein Gerücht, das lange schon wie ein ruheloser Vorbote hervorgetreten und wieder verschwunden war, trat heut mit größerer Entschiedenheit als jemals auf und nannte sogar bereits ein bestimmtes Haus et Comp., das eine ansehnliche Linnenmanufaktur nach Ettwangen zu verpflanzen gedenke. Diese Nachricht bildete daher selbstverständlich den überwiegenden Bestandteil der Unterhaltung und sollte nun durch einen neuen, bedeutsamen Umstand unterbrochen werden.

Denn ein Bahnzug brachte zur selben Stunde zwei Fremde in die Sonne (so hieß der neue Gasthof zu Ettwangen), die bald eine solche Aufmerksamkeit erregten, dass man darüber fast der denkwürdigen Anwesenheit Weringers vergaß.

Es waren zwei junge Männer von rüstigem Ansehen, im Alter höchstens drei bis vier Jahre verschieden, beide fein und vollkommen ähnlich gekleidet, so dass man versucht worden wäre, sie für Brüder zu halten, wenn ihr Aussehen und Betragen nicht gar so sehr dagegen gestritten hätten.

Der eine war etwas gedrungen von Gestalt, markig und gebräunt von Gesicht, hatte sehr kurzgeschnittenes, pechschwarzes Haar, eine kecken, lustigen Blick im braunen Auge und zeigte in allem ein rasches und sicheres Gebaren, während der andere, schlank von Gestalt und etwas behäbig von Temperament, das feine, kastanienbraune Haar bis in den Nacken sorgfältig gescheitelt trug und schon durch die zarte Färbung des Gesichtes verriet, dass er seine Person noch wenig der Sonne und den Winden ausgesetzt hatte.

Die Fremden traten in die Gaststube zur Sonne wie alte Bekannte, leicht und munter, die Zigarre im Mund; ein Knabe trug ihr Gepäck, zwei schöne und nicht sehr überladene Reisesäcke.

»Können wir Zimmer haben?« fragte der Kastanienbraune freundlich, mit einer gewissen vornahmen Sorgfalt vor den Wirt hinstehend – »die Zimmer müssen ineinander gehen und die Aussicht nach dieser Richtung haben.« Er zeigte über Ettwangen nach Süden hin.

»Zu Befehl, meine Herren, alles ist bereit«, sagte der Wirt, sich verneigend und dem Kellner winkend, dass er das Gepäck der Fremden auf die Zimmer bringe.

Der Kastanienbraune folgte nun sofort nach dem oberen Stocke, ohne sich nach seinem Kameraden umzusehen, der indessen an den großen Ecktisch zu den Gästen getreten war und ohne viele Umstände ein flüchtiges Gespräch angefangen hatte. Aber gleichsam wenig angeregt von dem, was gesprochen wurde, griff er nach der Zeitung, die vor ihm lag und durchflog sie wie ein sehr geübter Neuigkeitsleser mit wunderbarer Eile, ohne etwas Wichtiges zu finden; erst am Schluss des Blattes stutzte er, wie es schien, über eine Nachricht und fragte plötzlich:

»Was ist Wahres an der Sache? Hier steht von neuen Fabrikunternehmungen! Sind schon Vorarbeiten geschehen?«

Man erwiderte, dass im Orte selbst noch keinerlei Vorbereitungen getroffen seien, dass indessen an der Sache allerdings etwa sein müsste, da die Nachricht wiederholt und immer bestimmter gemeldet werde. Auch seien, fügte man hinzu, vor Kurzem einige Fremde hier gewesen, welche sich nach allem Möglichen erkundigt und mit großer Sorgfalt Bemerkungen, ja sogar Zeichnungen in ihre Taschenbücher aufgenommen hätten.

Der Fremde war den Stummel seiner Zigarre durch das Fenster, legte das Zeitungsblatt wieder hin und begab sich zu seinem Reisegefährten auf das Zimmer.

»Wir müssen rasch zugreifen, Lenhold«, rief er schon an der Türe – »die Spekulation hat bereits Vorposten gezeigt, der Schnellste wird das Feld behaupten!«

»Wieso?« fragte Lenhold, der sich bereits bequem auf das kleine Sofa niedergelassen hatte.

Der Eintretende erzählte, was er eben gelesen und gehört hatte, zündete sich mit Hast eine neue Zigarre an und fügte hinzu:

»Noch treffen wir jungfräulichen Boden für unseren Plan; das kann morgen und übermorgen alles vorbei sein! Der Ort ist für zweierlei Etablissements noch zu klein, die Umgegend liefert nicht genug Arbeitskräfte – wir müssen Reisebeschwerden, Hunger und Durst vergessen und sofort ans Werk!«

Lenhold rückte, von einer solchen Hast augenscheinlich unangenehm berührt, aus einer bequemen Lage und sagte:

»Nun, die Welt wird immer noch nicht aus den Fugen gehen, wenn wir unseren armen Leib ein wenig stärken« – stand auf und läutete der Bedienung.

Während er mit einiger Sorgfalt Essen und Trinken bestellte, machte sich sein Reisegefährte mit beispielloser Schnelligkeit ein Stück Papier zurecht und warf mit Bleistift einige energische Zeilen darauf.

»Schlusspunkt« – sagte er dann, aufstehend und das Blatt seinem Begleiter hinreichend – »diese Zeilen müssen mit der nächsten Post an einige Blätter abgehen, um eingerückt zu werden. liest man das fait accompli unserer Unternehmung und dann von Woche zu Woche die weiteren Nachrichten, so wird man sich zweimal besinnen, uns hier ins Gehege zu gehen! Die unbekannten Größen mögen wo anders in Linnen machen!«

»Das ist recht und gut, Hardenfels, aber die Post geht vor neun Uhr nicht ab, und wir zerrütten unsere Nerven durch eine sehr unnötige Eile, wenn wir nicht wenigstens eine Stunde ruhen und genießen.«

Dieses unverwüstliche Behagen Lenholds beruhigte nun auch seinen Begleiter endlich ziemlich, der an das Fenster trat und mit forschenden Blicken in die Gegend schaute. Er schien im Ganzen mit derselben wohl vertraut zu sein, bemerkte aber doch nach einer Weile:

»Die Veränderung des Ortes ist gewaltig, seit ich ihn das letzte Mal gesehen; es ist sehr möglich, dass in zehn Jahren eine ähnliche Bemerkung über das weitere Aufblühen Ettwanges gemacht wird … Nun, es ist eine Missetat gegen unsere Zeit, wenn man ihr eine Verschlimmerung der Menschen und Umstände zuschreiben will!«

Lächelnd ließ er sich nun auch neben seinem Begleiter nieder und legte seinen breitschirmigen, braunen Hut auf das Knie.

»Wenn ich bedenke«, fuhr er mit einigem Behagen fort, »was aus mir geworden wäre, wenn ich vor zehn Jahren meinem klösterlichen Erzieher nicht aus den Fängen gelaufen wäre – ich kann dem guten Geiste nicht genug danken, dass er mich verleitet hat, durch Ungehorsam ein tätiges und nützliches Mitglied dieser strebsamen Welt zu werden!«

Die Fremden ließen sich hierauf die verabreichte Stärkung aus Küche und Keller wohl behagen und verloren dann keinen Augenblick, um Ettwangen nebst Umgebung flüchtig durchzuprüfen; sie kamen erst spät und, wie es schien, sehr zufrieden in die »Sonne« zurück und ratschlagten geheimnisvoll und bis spät in die Nacht hinein auf ihren Zimmern …

Indessen war der Weringer längst wieder in das Haus seines Schwiegersohnes zurückgekehrt, um sich auf den Heimweg zu begeben.

Als es gegen Mittag Abschied nahm, sah ihn Bärbl zum ersten Male in ihrem Leben weinen. Sie wurde davon so ergriffen, dass sie sich schluchzend an seine Schulter hing und dringend bat, er möchte diesen Besuch nicht seinen letzten sein lassen. Das Wort »Großvater«, welches die herandringenden Kinder riefen, – das zum ersten Mal ihm scharf hervortretende Gefühl des Alters und namentlich das Geständnis an sich selbst, dass sein früheres Ansehen erblasst, er selbst aber von allen Seiten überholt und überflügelt sei, halfen redlich zusammen, sein Herz auf schwere Weise heimzusuchen.

Schluss des ersten Bandes

 


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