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V.
Heimkehr

Wieder war es drei Uhr morgens; im Weringerhofe tönte das Glöcklein.

Die Weringerin, welche, solange ihr Mann »in der Welt« war, das große Heimwesen zu regieren hatte, ging durch das Haus und läutete das Gesinde wach. Sie strengte die Glocke nicht sehr an und rief keinen Namen; aber das Kommando schien doch rasch und mit Respekt vernommen zu werden.

Ein Knecht, der eben von einer Nachtwanderung heimgekommen noch ein Weilchen auf dem Futtertrog »launl'n« wollte, sprach mit gleichen Füßen herab und sagte: »Gleich! Ja! Gleich!« Fast im nämlichen Augenblick ging das Springen auf dem Dachboden los – tererrapum, war der Oberknecht aus den Federn – tererrapum ein Helfer und Stallbub; die Großmagd schrie im Halbschlaf noch einmal: »Maria und Josef!« während die zweite Magd bereits lautlos in den Kleidern stand …

Das Leben, einmal im Gange, ging nun wie von selbst seinen Schritt: Treppen krachten, Türen gähnten auf, der Eimer wanderte zum Brunnen, der Schornstein rauchte, und siehe da, mit dem ersten Morgenschimmer waren auch die Kinder aus den Betten und saßen, ein Kranz blühenden Lebens, in Hemdchen um den Ofen.

Heute sollte der Vater wieder kommen …

Dieser Freudentag war den Kindern wie immer ein Fest. Der sechsjährige Severle plauderte den jüngeren Geschwistern viel von der Notwendigkeit vor, heute aus der Schule wegbleiben zu dürfen, und hofft wahrscheinlich, Bärbl, die erwachsene Schwester und die Mutter würden so nebenher die schlagende Weisheit vernehmen und sagen: »Severle, bleib daheim!« Aber die Schwester reichte den Kindern ihr Milchbrot heute recht zerstreut, und die Mutter hatte eine ganz andere Weisheit zu zergliedern, als die aus dem Munde ihres lieben Blondkopfs kam.

Die Weringerin wusste bereits den gewaltsamen Entschluss ihres Mannes. Gleich am Tage nach der Ausfahrt desselben kam der Gregor aus Degern daher gestürmt und stieß die Nachricht sozusagen mit dem Rücken zur Türe herein: er, die Pferde, der Wagen seien verkauft, und auch der Vinzenz mit dem zweiten Wagen, Pferden und Zubehör sei weggegeben. »Ich mag nicht mehr leben!« schloss er seinen verzweiflungsvollen Bericht und setzte sich stumm in einen Winkel. Die Weringerin, anfangs nicht anders wähnend als beim Gregor rapple es unter dem Dach, wurde denn doch bald gewahr, dass der wackere Bursche eine wahre Nachricht gebracht und auch Grund habe, untröstlich zu sein. Durch Zureden brachte sie den Zusammenhang der ganzen Sache heraus, Gregor erzählte, wie ihm Herr Silbermann in Degern ganz trocken erklärt habe, die zwei Lastwagen mit Pferden und Zubehör seien durch Kauf an ihn übergegangen, und wenn er als Fuhrknecht bei ihm bleiben wolle, so sei es auch recht. »Ich kann nicht von den Pferden lassen«, rief er aus, »und kann nicht bei dem Menschen bleiben; er wird die Tiere hungern lassen, wird sie schandmäßig abjagen; ich werde mit dem Fuhrwerk bald die Straßenscheuche heißen!« Die Weringerin stand lange schweigend da uns starrte vor sich hin; dann löste sie die Schlinge am Schürzenband, schritt nach der Kammer und kam im Sonntagsrock zurück. »Das heißt nichts, im Winkel sitzen«, sagte sie zu Gregor, »bleib' bei Silbermann, bis du was Besseres hast«, und dem Bärbl sagte sie: »Sorg für die Kinder und die Morgensuppe.« Damit sprengte sie Weihwasser über die Stirn, bekreuzigte sich und ging geraden Weges Degern zu. Sie war nicht gewohnt, so wichtige Dinge aus zweiter Hand zu haben; schon unter schwierigeren Verhältnissen hatte sie diesen Weg zurückgelegt, hatte im Namen ihres Mannes vor Gericht verhandelt, Prozesse geführt und gewonnen, und Herr Silbermann sollte ihr nun Auskunft geben über einen so wichtigen Handel, den sie unter Umständen sicherlich verhindert hätte. Die Auskunft fiel nun freilich mager genug aus; Herr Silbermann hatte von dem Weringer gehört, dass er die Fahrt mit zweien seiner Wagen einstellen wolle, er hatte also beschlossen, die beiden Gefährte anzukaufen und die Geschäfte auf eigene Rechnung fortzuführen. »Warum euer Mann die Geschirre vor der Zeit abgab, das muss er euch selber sagen«, bemerkte er zuletzt und gab der Weringerin damit genug Nachdenkens auf den Heimweg mit. »Er ist ein anderer als sonst«, war alles, was sie stille vor sich hinsprach; gekränkt und betrübt kam sie nach Hause und würde diese Stimmung schwerlich los geworden sein, wenn sie nicht bedacht hätte, welcher Gemütszustand ihren Mann zu dem schmerzlichen Handel fortgerissen. »Man darf sein Herz nicht noch verschlimmern«, dachte sie endlich ruhiger und kam zu dem Beschlusse, ihres Mannes Heimkehr nicht durch Fragen zu belästigen, er selber sollte sagen und erklären.

Als daher heute gegen vier Uhr nachmittags auf dem Reiterberge die acht Pferde mit dem Wagen erschienen, die Kinder mit Geschrei entgegen stürmten und im Dorfe sich Gruppen bildeten, um das oft gesehene Schauspiel wieder zu bewundern, da ging die Weringerin weiter als sonst entgegen und begrüßte ihren Mann in Ehren freundlich. Er selbst sah wohl aus, schien heiterer als lange her und beschenkte sie mit einem prächtigen Kleide; da nun auch Georg in einer ganz besonderen Freudenstimmung war, so dachte die Weringerin schließlich: »Könnt nun ihr's zufrieden sein, so muss ich es ja auch sein«, und sie würde in der Tat ihren Mann zu keinerlei Erklärung veranlasst haben, wenn er nicht abends nach dem ersten Tumult des Empfangs und der Verteilung von Briefen und Kleingepäck aus freiem Willen gesagt hätte:

»Dass der Silbermann die zwei Wagen gekauft hat, wirst du wissen; jetzt hab' ich sie noch gut an Mann gebracht, wer weiß, wie es später gegangen wäre«, und als wollte er seinem Weibe zu einer Antwort keine Zeit lassen, fügte er gleich hinzu:

»Mit unserem Georg ist's auch in Richtigkeit. Der Hartung hat den Stern in Delsburg gekauft, wir haben ihn dort getroffen, und über die Heirat sind wir einig geworden.«

Das war nun freilich eine Nachricht, welche nicht nur die Weringerin, sondern am nämlichen Abend noch das ganze Haus und am folgenden Tage Dorf und Gegend sehr beschäftigte. Die Überraschung war umso größer, als man, abgesehen von der bekannten Feindschaft Hartungs und Weringers, die Neigung ihrer Kinder auch gar nicht geahnt hatte.

Eine Heirat, welche große Hindernisse überwindet, kann immer auf eine allgemeine und warme Teilnahme rechnen. Denn überall gibt es solche, die in ihrer Liebe allem Widerstande Trotz geboten haben, noch mehr solche, die den Hindernissen erlegen sind und statt des angebeteten Richard einen sehr gleichgültigen Zacharias nehmen mussten. Aber eine triumphierende Verlobung ergreift als weltgeschichtliche Tatsache namentlich jene, die eben noch heimlich oder offen im Kampfe liegen mit den Hindernissen ihrer Liebe. Ihr Mut wird mächtig aufgerichtet, die Hoffnung neu belebt und Wunder, die schließlich über alles hinüberhelfen, verstehen sich nun von selbst.

Ein Fall dieser Art befand sich gleich in Weringers Familie.

Das siebzehnjährige Bärbl war so frei gewesen, ihr Auge bereits wählen zu lassen, und ihr Herz erklärte dazu: »Ja, der ist's!« Indem die Wahl nur einige Häuser weit einschlug und der Sohn des Hofbesitzers Beck nicht lange im Zweifel blieb, welcher Himmel seinem Herzen sich geöffnet, so konnte die Beziehung beider vergnüglich warm gehalten, am Kammerfenster säuberlich mundiert und zu öftern Malen mit Küssen besiegelt werden. Freilich hatte diese Liebe, wie jede Liebe, ihre Sorgen, und es wurde zwischen beiden oft besprochen, was am Ende ihre Hoffnungen zertrümmern könnte; aber jetzt, nachdem der Bruder Bärbls Gebirge von Hindernissen weggeräumt, da schien der Weg zu ihrer Heirat nicht bloß geebnet, sondern förmlich gedielt und glatt gehobelt. Wie ein verzaubertes Hexle fuhr das runde, bewegliche Ding in Haus und Hof herum, und der Oberknecht Urban schlug den rechten Grundton dieser Freudenstimmung an, als er eines Tages an der Stalltür lehnend sagte:

»Recht! Jetzt ist's so viel, als hätt'st auch du ihn schon!«

»Ah du – du –«, sagte sie und schoss errötend vorüber; das Röckchen schlug heftig um die runde Wade, als sie eine Bewegung machte, ihn verdrießlich anzusehen.

Der Weringer pflegte stets nach einem Aufenthalte von zehn bis vierzehn Tagen neue Last zu nehmen und nach der Hauptstadt aufzubrechen. Daher kamen bald nach seiner Heimkehr auf dem Eisenhammer und den Glashütten die gewöhnlichen Anfragen: wann Verladungstag sei. Zur größten Überraschung aber gab er diesmal zur Antwort, er fahre nicht mehr. Dieselbe Antwort erhielten auch alle diejenigen, welche sonst durch ihn kleine Sendungen und Bestellungen machen wollten.

Hatte die Nachricht vom Verkauf der beiden ersten Wagen nur im Allgemeinen von sich reden gemacht, so fiel diese neueste Kunde wie ein Donnerschlag in die Gegend; die nächsten Interessen waren jetzt getroffen, und ein Zusammenlauf von Menschen wie bei einem großen Unglück entstand im Weringerhof.

Leider hatte der Mann die Vorsicht nicht gebraucht, seine Familie zuerst in sein Geheimnis einzuweihen, jetzt half auch sie nicht einmal der Verwirrung steuern, sonder vermehrte sie noch. Die Weringerin war anfangs starr vor Schrecken, dann brach sie in lebhaft Klagen und Vorwürfe aus, dass sie fremd im eigenen Hause geworden, dass um sie her das Ärgste geschehen könne ohne Wissen, ihr guter Rat sei vor die Türe gestellt. Man bat, man beschwor den eisernen Mann, doch wenigstens diesmal noch die Fahrt zu machen oder wenigstens seinen Sohn damit zu betrauen; weder dies noch der Vorschlag wurden angenommen, dass er Pferde und Wagen gegen glänzendes Angebot abgeben möge. »Der Wagen bleibt mein Angedenken«, sagte er, »und die Pferde geh'n in keine andere Hand, solang sie leben.«

Was der Weringer gewollt und vorausgesehen, das traf auch reichlich ein. Das plötzliche Durchreißen des Verkehrs machte seine bisherige Wichtigkeit äußerst fühlbar; bis ein neuer Unternehmer Wagen und Pferde zusammenbracht, in den Geschäftsgang eingeweiht war und endlich die erste unsichere Ausfahrt unternehmen konnte, verging eine geraume Zeit und hielt Verwirrung und Sorge ungebührlich lange hin.

Diese Zeit gehörte aber auch zu den bewegtesten, die Ettwangen je gesehen.

Dorf und Gegend spalteten sich förmlich in zwei Kampfeslager, von denen eines die Vorteile, das andere die Nachteile der Eisenbahn verfocht. Alles, was gesunder Menschenverstand und Erfahrung, Aberglaube und Fiebergeburten des Gehirns zu Tage bringen können, tobte durcheinander; man sah Hungersnot und Paradieseszeiten, Himmel und Hölle durcheinandergeworfen, und einige Spitzen der Betrachtung verliefen sich im Untergang der Welt.

Der Weringer hätte Grund gehabt, zumeist an diesem Kampfe teilzunehmen, er tat es aber nicht. Scheinbar ruhig ging er mitten im Gewirr umher und sorgte, dass es Friede zunächst in seinem Hause werde.

Dies gelang auch bald. Die Weringerin fand es nun ersprießlich, dass ihr Mann jetzt nicht mehr den größten Teil des Jahres auf der Straße liegen musste, seine Gegenwart nahm ihr eine Menge großer Sorgen ab, nun konnte auch die Wirtschaft erweitert und verbessert, alles musste einfacher, behäbiger und sicherer werden.

Die Vorbereitungen zur Hochzeit Georgs trugen auch nicht wenig zur versöhnlichen und frohen Stimmung aller bei. Sie wurden von beiden Familien mit einer Art Überstürzung betreiben, als traute man dem Landfrieden doch nicht recht, aber siehe da, keine einzige Wolke schob sich zwischen die neue Freundschaft, und so konnte schon nach einigen Wochen die Hochzeit ganz nach Wunsch gefeiert werden …

»Ein Kind wäre versorgt«, bemerkte die Weringerin eines Tages, »und so Gott will, wird es auch den andern nicht fehlen. Was mich jetzt recht froh macht, ist dein festes Daheimsein, Alter, so lässt sich doch alles besser an.« Sie forderte ihren Mann auf, da es endlich einmal stiller um sie herum geworden, mit ihr einen Gang durch die Felder zu machen, und beide gingen hinaus.

Aber nicht zu seiner Erquickung machte die Weringerin aufmerksam, wie schön die Frucht stehe, wie reich die Ernte ausfallen werde und wie mancher Verbesserung dieser Boden jetzt entgegensehen dürfe. Der Weringer bemerkte zwar im Verlaufe des Gespräches einmal, wie er doch sein Lebelang selten einen Ruhetag gehabt, wie es ihm wohl tue, einmal recht grundmäßig daheim sein und bleiben zu können; aber er verschwieg, dass ihm das Schicksal unter den Weizen seiner Freude so viel Unkraut des Verdrusses gesät habe, dass er wenigstens hier auf keine Freudenernte mehr zu rechnen wisse. Wohin er blickte, starrten ihm die siegreichen Feldzeichen seiner Erzfeindin, der Eisenbahn, entgegen, die Stangen liefen knapp an seinem Hause vorüber, liefen mitten durch sein bestes Feld und rissen für immer sein Eigentum und sein Herz auseinander.

Es lässt sich daher begreifen, dass der Weringer nicht in der frohen Stimmung heimkam, welche sein Weib vermutete.

Mit Schauder dachte er daran, dass er an einen Fleck Erde gebunden sein sollte, so ihm künftig bei Tag und Nacht die siegende Feindin donnernd und pfeifend ihren Triumphmarsch vorspielen werde; mit stillem Entsetzen musste er besorgen, dass die Macht der Zeit und dieser Feindin ihm nach und nach einen Freund und Gesinnungsgenossen nach dem andern abwendig machen und ihn schließlich als einsame traurige Ruine einer alten Zeit hinstellen werde.

Doch nicht lange ließ er diese Schauer auf sich wirken. Hatte er doch vorbedacht und seine Entschlüsse gefasst. Noch einen, den schwersten Sturm des Schmerzes musste er seiner Familie erregen, um sie endlich auf die feste, sichere Insel ihre gemeinsamen dauernden Friedens zu bringen.


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