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XI.
Nachweh und Trost; ländlich, sittlich

Nach Bärbls Heirat schien dem Familienleben in Weringers Hause eine Ader geöffnet; jede Freudigkeit schien stille zu verbluten.

Namentlich die Weringerin war untröstlich. »Das hat mir den Rest gegeben«, sagte sie oft, »jetzt weiß ich, dass es abwärts mit mir geht.«

Der Weringer fand es natürlich, dass die Mutter also litt und klagte, er selbst fühlte den Verlust seines Kindes nicht weniger tief; aber er verbarg diese Empfindung, zeigte sich fröhlicher, als er war, und ermunterte sein Weib zu wiederholten Besuchen des Kindes.

Der vorrückende Sommer, die vielen und beschwerlichen Arbeiten der Ernste bereiteten endlich den ersten lindernden Balsam für das Herz der Weringerin, und als sie eines Tages vernahm, dass sich Bärbl Mutter fühle, da verwandelten sich ihre Klagen in die hellste Freude. Jetzt erst gab sie ihre Ansprüche auf die Nähe ihrer Tochter fröhlich auf, sie erblickte im Voraus ihr Kind, umringt von blühenden Kindern, dieser holde Familientraum überwog alle Schmerzen des eigenen Verlustes.

Aber während die Weringerin durch Weh zur Freude gelangte, senkten sich über ihres Mannes Gemüt immer tiefere Schatten.

Der Triumph, seiner ersten Heimat entronnen zu sein, das Behagen an dem ernsten Stillleben im Gebirge hatte nach und nach an Reiz verloren, und es regte sich nun in der Brust des Mannes ein Bedürfnis, welches er vielleicht für abgetan oder wenigstens nicht für bedenklich gehalten hatte. Früher gewohnt, mit der vielbewegten Welt fortwährend im Verkehr zu leben, immer in wohltätiger Aufregung erhalten, durch Geschäfte auswärts und daheim, musste er jetzt wie gebannt auf einem Flecke leben, es machte seiner Seele Schwindel, in dem kleinen Kreis der täglichen Geschäfte immer und immer wieder sich herumzudrehen, ohne auch nur einmal kräftig heraustreten und sein Herz durch etwas Ungewöhnliches erquicken zu können.

Dieser drückende Zustand wurde von Tag zu Tag bedenklicher und würde endlich, wer weiß welchen Durchbruch erzwungen haben, wenn nicht ein guter Zufall glücklich Rat geschaffen hätte.

Die Zeit der Scheibenschießen war gekommen, und weit vom Gebirge herab erging auch an den Weringer die Botschaft, dass er kommen möge.

Dies war eine Stimme in der Wüste.

Am folgenden Sonntag nach der Frühmesse hatte denn auch der Weringer einen blanken Stutzen um die Schulter und entschritt fröhlich den engen Schranken seines jüngsten Lebens. Balsamisch durchströmte ihn die Wohltat einer kräftigen Bewegung, die Lust, mit jedem Schritte nach den Bergen reiner und kräftiger, erweiterte Brust und Lunge, ein fast jugendliches Rot überflog seine Wangen, sein Geist ward wieder einmal helle. Obwohl der Weg bis nach Almert, wo das Scheibenschießen war, fünf volle Stunden betrug, so legte ihn der Weringer doch in viel kürzerer Zeit und ohne merkliche Anstrengung zurück, für die ihn außer der eigenen inneren Freudigkeit ein sehr munteres Fest und die Gesellschaft wackerer und seltener Menschen belohnte. Denn er fand aus weitem Umkreis Jäger, Amtsleute und Bauern beisammen, welche sich's wohl sein ließen und noch besser schossen.

Obgleich sich nun der Weringer mit diesen Männern als Schütze nicht messen konnte, so stellte doch seine große, eichene Gestalt umso mehr dar, und man wusste, dass er »was im Sacke habe«. Dies zog ihm denn auch namentlich von den Bauern eine stillschweigende Huldigung zu, die auch einen »Höhergestellten« befriedigt haben müsste.

Gegen Abend wurde der Weringer förmlich in den Schützenverein aufgenommen und erhielt vielfache Einladungen zu Besuchen im Gebirge, die er auch später oft als Vorwand benutzte, um sich wieder einmal Luft zu machen und das Hochgebirge, den Schauplatz überwältigender Szenen aus dem Wald- und Tierleben, nach allen Richtungen zu durchstreifen …

Eines Tages kam der Weringer aus dem Walde heim und fand seine Leute bei Tisch.

Er setzte sich zu ihnen, um mitzuessen; aber in dem Augenblicke, als er seinen Löffel in die Schüssel tauchte, hörten Weib, Kinder, Knecht und Mägde zu essen auf.

Er fragte verwundert: »Na, was?«

Sein Weib erklärte etwas verlegen: »Du hörst zu Grabe läuten, da soll man nicht essen, sonst erlebt man Zahnweh, Herzweh oder Fieber.«

Der Weringer wollte lächeln, unterdrückte es aber. »Da könnte man in einer Stadt«, dachte er, »wo's immer läutet, keinen Löffel Suppe ruhig essen oder Zahn, Herz, Hirn wären ihres Lebens nicht sicher.«

Einige Tage später sollte eine neue Magd ins Haus kommen. Sie schickte einen Knaben voraus mit einem neuen Besen, Brot und Salz; dann kam sie selbst. Aber sowie sie in die Stube trat, wurde sie von der Weringerin am Arm genommen und vor das Ofenloch geführt. »Guck hinein«, sagte diese; die Magd tat es und ging hierauf an ihre erste Arbeit.

»Das ist so Art hier«, sagte die Weringerin zu ihrem Manne, der zugesehen hatte, »Dienstboten halten dann treu und friedsam in dem Hause aus.«

Der Weringer hatte einst, als er noch frisch und froh mit der Welt verkehrte, manchmal gegen derlei Aberglauben sich ausgesprochen; jetzt schwieg er. »Die Menschen haben überall ihre Weise«, dachte er, »man muss sie lassen.« Er kam zu dieser Ansicht aus demselben Grunde, welcher ihn bestimmte, alles zu billigen oder zu dulden, weil es bestehend, weil es Herkommen war. Sein Nachbar, der Mainhard, teilte diese Ansicht nicht. Er war dem Aberglauben heftig entgegen, bekämpfte ihn bei jeder Gelegenheit scharf und offen, freilich ohne hindern zu können, dass sein eigenes Haus in allen Winkeln und Spalten davon wimmelte. Denn sein Weib war eine große Gläubige und Freundin von solchen Dingen, und von ihr aus verpflanzte sich das Übel auf die Weringerin. Mainhard wusste das und sprach sein Bedauern lebhaft darüber aus; der Weringer tröstete ihn aber und sagte lächelnd: »Aberglaube hat Bohnen in den Ohren; wenn er einmal Kopfweh macht, kommt ein Umschlag immer noch zurecht.« Mainhard beruhigte sich aber nicht darüber; er kam immer wieder mit polterndem Verdruss auf dieses Kapitel zurück und wünschte Abhilfe.

Einmal saß der Weringer zu Hause und verglich die Rechnungen seiner früheren und jetzigen Wirtschaft, als lebhaft an das Fenster neben ihm geklopft wurde und der Mainhard draußen sagte:

»Komm heraus!«

Der Weringer folgte diesem Wunsche und erfuhr nun, dass der Nachbar wieder einen »Kreuzfikermentsunsinn«, das heißt Aberglauben, auf der Gabel hatte. Er bat den Weringer sehr aufgeregt mitzugehen, und seine Verzweiflung klang lustig genug, als er, seinem Hause zueilend, erklärte:

»Wenn unsere Weiber eine Gluckhenn' setzen wollen, so nehmen sie das Stroh zum Nest aus dem Eh'bett, und zwar von der Weibsseit', wenn sie Hühner, von der Mannsseit', wenn sie Hahnen haben wollen. Ist das Nest fertig, so werden die Eier in eine Pelzmütz' und von da so eilig als möglich ins Nest getan, auf dass die Küchlein mit einem herauskommen; geschieht das nicht, so werden Hollunderstängel auf dem Herd gebrannt, knickern sie, so knickern die Eierschalen auch, und die Küchlein kommen heraus.«

Der Weringer blieb lachend stehen und sagte: »Was geht daraus für mich hervor?«

Der Nachbar aber fuhr eifernd fort: »Nur mit, nur mit! Was grad' das Allerschönst' dabei ist, sollst du sehen.«

Beide standen bald vor Mainhards Garten, und dieser sagte: »Da guck' hinüber!«

Der Weringer erblickte sein Weib, wie es eine kleine Leiter hielt, und auf der Leiter stand die Mainhardin, eben beschäftigt, die Gluckhenne auf die Bruteier zu setzen; sie hatte zu ihrer gewöhnlichen Kleidung einen Damenstrohhut auf von jener furchtbaren Größe und Unform, wie sie vor einem Menschenalter einmal Mode gewesen.

»Und weißt du auch, wozu das ist?« fragte der Mainhard noch verdrießlicher aufgeregt.

»Nein«, erwiderte der Weringer, verwundert und ergötzt von dem Anblick der Nachbarin.

»So will ich dir's sagen«, fuhr der Mainhard fort: »Als Jakob Schäflein haben wollte, gefleckte oder andere, da schälte er die Stäbe oder schälte sie nicht und ließ die Alten daran versehen; – nun merk! Hier soll die Gluckhenn' an dem Pfaukummet sich verseh'n, auf dass die Hühner großkoppig werden!«

Der Weringer zog den Nachbarn vom Zaune weg, um die Weiber nicht zu stören, und sagte lächelnd:

»Lieber Mainhard, was die beiden da glauben, kann geschehen oder auch nicht. kommen großkoppige Hühner zu Tag, so hilft kein Reden gegen ihren Glauben, und wenn du mit feuriger Zunge wie ein Apostel reden könntest; kommen aber keine großkoppigen Hühner zum Vorschein, so ist das allein schon Heilungsmittel und Predigt genug!«

Der Mainhard konnte nicht leugnen, dass etwas Wahres in diesen Worten liege; allein er gab sich nicht so leicht zufrieden.

Indem er eben noch hin und her stritt, kam ihm eine Erscheinung gerade recht in den Wurf: der »Zeugspeterle« nämlich, welcher nicht weit von seinem Haus unter den vier Linden saß und den Dorfkindern allerlei erzählte. Der Weringer war schon früher auf den Alten aufmerksam gemacht worden, der von dem »Zeugs« den Zauber- und Geistergeschichten, die er zu erzählen wusste, den Namen erhalten hatte.

»Da ist der alt' Hexensabbat wieder und verrückt den armen Kindern die Seelen!« rief der Mainhard. »Wollen wir nicht hin und den Satansprediger auf und davon stäuben?«

Der Weringer beruhigte ihn und sagte: »Lass uns einmal hören, was der Mann spricht, dann wollen wir weiter reden.«

Der Zeugspeterle, ein Greis von beinahe achtzig Jahren, weiß von Haar und Bart, die ihm weit herab auf Brust und Nacken fielen, hatte eben eine Geschichte beendet, und die Kinder riefen:

»Noch eins, Peterle!«

Er schloss daher die Augen, senkte den Kopf und begann nach einer Weile wieder:

»Gut … Es war einmal eine Frau, die hatte eine kleine Tochter, und beide wussten oft nicht, wie sie leben sollten; denn sie waren arm. Das war schon hart bei gesundem Leibe, wie viel härter, als die Mutter eines Tages krank wird und sich legen muss! Zum Glück ist's gerade Erdbeerzeit, und das Töchterlein läuft in den Wald und kommt wieder und bringt Erdbeeren, die schönsten und besten, und hilft der Mutter Durst und Hunger stillen. Aber einmal war's ein rechtes Unglück: keine Erdbeere rechts und links, auch keine andere Frucht, wo sie nur hinsah. Die Kleine dachte an ihre arme Mutter daheim, setzte sich hin und weinte; und wie sie so weint, geht ein Dornbusch auseinander, und eine alte Waldfrau kommt dafür. »Ei, mein Kind, und warum weinst du?« fraget sie; das Mägdelein stockt und klagt dann seine Not. »Da kann geholfen werden«, sagt die Alte, greift nach dem Dornbusch und langt eine kleine Mühle hervor. »Da merk' auf«, sagt sie, »nimm' diese Mühle heim mit dir; und drehst du rechts herum, so mahlt sie dir das feinste Weißmehl, drehst du links herum, so mahlt sie gute Graupen; legst du aber den Daumen auf den Messingknopf, so hört sie auf, und sagst du's weiter, so tut die Mühle gar nicht mehr.« Das Mägdelein hatte die Mühle in der Hand und wollte danken; aber der Dornbusch war schon zugegangen und die Alte wieder verschwunden. Da lief das Mädchen heim und probierte flink die Mühle; sie drehte rechts, da rieselte feines Mehl; sie drehte links, da holperten Graupen nieder. Jetzt war geholfen. Die Mutter wurde gesund und lebte viele Jahre glücklich; aber endlich kam ein Tag, der war der schwerste Tag in ihrem Leben. Ihr Mägdelein sagte auf einmal: »Mutter hab' ich denn die Mühl' im Kopf? Alles geht herum mit mir.« Die Mutter sagt: »Du bist krank, so geh' nur gleich ins Bett!« Und so war es auch. Das Mägdelein legte sich nieder, und wie auch die Mutter beten und klagen mochte, es stand doch nimmer auf. Nun zog ihm die Mutter ihr schönstes Kleid an und legte es in ein Grab und weinte für und für. Aber als sie nachher wieder Hunger spürte, nahm sie die Mühle, drehte sie links, und sie mahlte wie gewöhnlich Graupen; ihrer waren endlich genug, und die Mühle sollte aufhören, aber sie hörte nicht auf. Die Mutter hielt die Hand davor, das nützte aber nicht; sie ergriffe nun einen Stock und hielt ihn zwischen die Flügel; der Stock zerbrach, und die Mühle mahlte immer zu und mahlte die Stube voll und über das Dach hinaus, und endlich einen Haufen, groß wie einen Berg. Da ließ die Mutter die Mühle im Stich, sprang erschrocken auf und davon und ließ auch nie mehr von sich hören; die Mühle aber mahlt noch heutzutage, mahlt immer und immer zu, und wenn ein Haufen bis an die Wolken reicht, so kommt ein Wind und weht ihn über Land und Meer, und die Leute sagen dann: »Es graupelt! …«

Der Weringer zog seinen Nachbarn sachte bei Seite und sagte lächelnd: »Den Mann dürfen wir in seiner Weise nicht stören! Er führt ein hübsches Wort; wir wollen ihm fleißig unsere Kinder schicken und auch selber manchmal kommen!«


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