Wilhelm Raabe
Zum wilden Mann
Wilhelm Raabe

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Sechzehntes Kapitel

Er hatte, wie man zu sagen pflegt, immer auf dem Sprunge gestanden, der kaiserlich brasilianische Oberst Dom Agostin Agonista, aber diesmal reiste er wirklich, und zwar auf die Stunde zum angegebenen Zeitpunkt, nämlich am Mittage des 23. Dezember. Man hatte ihn natürlich dringend von allen Seiten aufgefordert, wenigstens das Weihnachtsfest über noch zu bleiben, doch alles Bitten und Zureden war vergeblich geblieben.

»Quält mich nicht länger«, hatte er gesagt, »ich kenne meine Natur und weiß, was ihr gut ist. Diese liebe Feier im gemütvollen Vaterlande, dieses holde Fest im sinnigen, gefühlvollen Deutschland würde mich zu weich stimmen, und es ist unbedingt notwendig, daß ich mich, einige Zeit noch, ein wenig härtlich halte. Ich bin das nicht nur mir, sondern auch meinen guten braven Freunden in der Apotheke schuldig. Meine Verpflichtungen erfordern es, was mein Herz auch dagegen zu sagen haben mag.«

Damit verschwand er, verschwand spurlos, als jedermann bereit stand, ihm noch einmal die Hand zu drücken und sich ihm zu empfehlen. Der Abschied war so eigentümlich wie alles andere, was die Ankunft und den Aufenthalt des Mannes am Orte begleitet hatte. Sie kamen alle zu spät dazu: Herr Philipp aus seinem Laboratorium, Fräulein Dorette aus der Küche, der Doktor Hanff von seinem nächstliegenden Patienten.

Der Oberst hatte den Wagen an die Hintertür bestellt, war einfach eingestiegen und abgefahren; sein Gepäck hatte er vorausgeschickt, und die Gegend – sah ihm nach.

Die aus der Apotheke sagten nichts, sondern seufzten, der Doktor schlug sich vor die Stirn und rief ein wenig ärgerlich und enttäuscht:

»Ich hätte ihm doch gern noch ein Wort über meine Projekte gesagt! Man bringt einem doch nicht so um nichts und gar nichts die Gedanken in Unordnung und das Blut in Wallung – Donnerwetter, dieses Brasilien!«

Die übrigen Freunde und Bekannten kamen nach und nach verwundert und erstaunt an das Fenster der Offizin.

»Er wollte vielleicht alles unnötige Aufsehen vermeiden«, sagte Fräulein Dorette Kristeller kurz und tonlos. Ihr Bruder war selbst für den Pastor und für den Förster nicht zu sprechen. Der Apotheker ›Zum wilden Mann‹ fühlte sich durch die Trennung von seinem Jugendfreunde sehr angegriffen und wünschte, einige Tage ganz sich selber überlassen zu bleiben. Die guten Bekannten begriffen das wohl und ließen das Geschwisterpaar in der Tat über das Fest allein.

Über das Fest allein! – – – – – – – –

Da sitzen wir wieder unter den Bildern des Hinterstübchens der Apotheke ›Zum wilden Mann‹, und es ist der Abend des vierundzwanzigsten Dezembers. Ein trübes Talglicht in einem schlechten Messingleuchter, den Fräulein Dorette mit sich ins Zimmer brachte, brennt auf dem Tische. Der alte Herr saß im Dunkel, bis die alte Schwester dieses Licht brachte – im trüben Scheine desselben sitzt er in dem Ehrensessel, und die alte Schwester hat sich ihm gegenüber niedergelassen. Sie sehen beide abgemattet-sorgenvoll aus; sie feiern beide eine betrübte Weihnacht.

Nach einem langen Schweigen sagte Fräulein Dorette: »Plagmann aus Borgfelde will die Kühe gleich nach dem Feste abholen.«

Sie sagte das mit einem tiefen Seufzer; denn Bleß und Muhtz waren ihre Herzensfreude und ihr Stolz, und sie mußte sich von beiden trennen.

Ihr Bruder nickte bloß und sprach nach einer Pause seinerseits: »Ich meine, so ungefähr am fünfzehnten Januar würde die beste Zeit für die Auktion sein.«

Und die Schwester nickte auch und stöhnte: »Ja, ja, mir ist's recht! Mir ist alles recht! o Gott!«

Nun versuchte der alte Herr, um doch etwas für das Fest zu tun, wieder einmal heiter und ruhig auszusehen und rief: »Courage, Alte! Wer wird so den Kopf hängen lassen? Du sollst jetzt einmal zu deinem Erstaunen gewahr werden, mit wie vielerlei unnützem Gerümpel wir uns allgemach auf unserm Lebenswege bepackeselt hatten. Daß wir die Landwirtschaft – die Sorge und den Verdruß um Wiese und Feld los werden, ist im Grunde auch nicht so übel und jedenfalls nicht das Schlimmste. Offen gestanden, meine Knochen leisteten zuletzt doch nicht mehr das, was sie früher mit Lust taten.«

Der Trost war wohlgemeint, aber er half wenig. Plötzlich brach die Schwester in ein helles, krampfhaftes Schluchzen aus:

»O grundgütiger Heiland, es wäre mir ja alles, alles recht, es kommt nur so sehr spät! Bruder, es kommt zu spät, dieses Elend! – Wäre dieser – Mann um zwanzig Jahre früher gekommen, so würde ich ja mit Freuden mit deinem Kopfkissen meine Bettdecke hingegeben haben; aber wahrhaftig, jetzt ist es für uns zu spät im Leben geworden! Die Hypothek, die auf dem Hause liegt, liegt auch auf mir wie ein Berg! Und dazu keinen – keinen Menschen, dem man seinen Kummer klagen kann, klagen darf – ja klagen darf!«

»Nein«, rief Herr Philipp Kristeller, allen Nachdruck seiner Seele in das Wort werfend, »nein, was wir hier tragen, das tragen wir für uns allein! Fremde Nasen dürfen wir gewiß nicht in unser jetziges Dasein hineinriechen lassen, Dorothea! Es wäre nicht zu rechtfertigen gegen den Freund – meinen Freund – meinen Freund vom Blutstuhle! Ach, fasse nur Mut, liebe Dorette, und mache mir vor allen Dingen keine solche verzweiflungsvollen Mienen, du sollst sehen, wir behalten den Kopf doch noch oben und führen auch unter den jetzigen Verhältnissen ein gutes und stilles Leben weiter. Was würde meine Johanne sagen, wenn sie bis heute mein Los mit mir geteilt hätte? Sieh, die Leute können wir denken und reden lassen, was sie wollen.«

»Und ich sehe sie schon vor mir, wie sie die Köpfe zusammenstecken; der Pastor und der Ulebeule, die Herren vom Gestüt, der Amtsrichter und der Doktor. Sie werden sich schöne Historien zusammenphantasieren und uns in einem bunten Lichte an die Wand hinmalen!«

»Laß sie! Möge es nur dem alten tollen Freunde mit seinem jungen Glück gut gehen! Ich sage dir, liebe Schwester, schon die Gewißheit, daß niemand es so herzlich mit uns meint als er, wäre mir ein Trost, wenn es mir vielleicht auch noch so kläglich zumute wäre. Jetzt glaubt er, mit vollen Segeln seinem und unserem Glücke entgegenzuschwimmen; sieh, Alte, und sein Geld hat doch wenigstens zum zweitenmal einem Menschen für eine Stunde Behagen gegeben, was man wahrhaftig nicht von jedem Gelde sagen kann, und wenn es auch wie hier zwölftausend Taler wären.«

Die Schwester erwiderte nichts hierauf, sondern zuckte nur die Achseln, welches ihr dann wieder Gewissensbisse machte. Sie stand auf, ging zum Fenster und sah in den nächtlich winterlichen, gleichfalls schwer mit Hypotheken belasteten Garten hinaus und wendete sich nach drei Minuten erst ins Zimmer zurück:

»Es schneit tüchtig, Bruder. Weißt du wohl noch, Philipp, welch ein Vergnügen und welche geheime Behaglichkeit wir gerade an diesem Tage am Schnee hatten?«

»Ei gewiß«, rief der Bruder, »wie wären wir sonst wohl dies Menschenalter durch so gut miteinander ausgekommen? Dorette, heute sind wir doch die richtigen Narren gewesen, daß wir uns zum erstenmal nicht einen Tannenbaum mit Lichtern besteckt haben. Allem zum Trotz hätten wir das tun sollen! Nun das nächste Mal! – Im nächsten Jahre –«

»Wenn dein Freund vom Blutstuhle das Schiff mit den Fässern voll Gold und Edelsteinen geschickt hat, als Abzahlung – wenigstens für das Rezept zum Kristeller! Oh, und dafür dreißig Jahre lang da seinen Lehnstuhl freigehalten zu haben!«

Das war echt weiblich und also nichts dagegen zu machen: der alte Herr Philipp hielt sich an sein eigen männlich und treu Gemüt, ließ sich das Wort nicht vor dem Munde abschneiden, sondern schloß seinen Satz: »... wollen wir das diesmal Versäumte desto herzlicher und herzhafter nachholen.« Der weiblichen Einschaltung wegen fügte er jedoch im stillen noch hinzu: »Wie es auch kommen mag.«

Was die Freunde der Umgegend anbetraf, so verwunderten sie sich in der Tat sehr, als im Laufe des Winters und Frühjahrs in der Apotheke ›Zum wilden Mann‹ sich vieles sehr veränderte – als die Möbel aus den Gemächern abhanden kamen, das Vieh aus den Ställen verschwand, als der Blumengarten sich in einen Gemüseplatz verwandelte, das zierliche Dienstmädchen eine andere gute Herrschaft suchte, dem Knechte gekündigt wurde und es im Kreisblatte zu lesen stand, daß der Apotheker Herr Philipp Kristeller soundso viel Morgen Wiesen und Ackerfeld an die und die Bauern der Gemeinde und Feldmark verkauft habe. Als aber die Auktion in der Apotheke selbst wirklich abgehalten wurde, boten sie kopfschüttelnd mit; und auf dieser Auktion erstand der Förster des Apothekers Bildergalerie, der Doktor die chinesische Punschschale und der Pastor den Ehrensessel des Obersten in brasilianischen Diensten Dom Agostin Agonista.

Ein kahleres Haus gab es nachher nicht im Orte. Nur der Inhalt der Büchsen und Gläser in der Offizin blieb verschont; die Freunde und Bekannten aber überlegten und mutmaßten nach allen Richtungen hin und kamen zuletzt sämtlich auf die nicht ganz unwahrscheinliche Vermutung, daß ihr Freund, Herr Philipp Kristeller, in schlechten Papieren ganz heimlich spekuliert und sich verspekuliert habe.

Natürlich rieten sie ihm dringend, sich doch umgehend an seinen Freund, den brasilianischen Obersten, zu wenden, und begriffen nicht, aus welchem Grunde er das so sehr hartnäckig ablehnte.


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