Wilhelm Raabe
Zum wilden Mann
Wilhelm Raabe

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Siebentes Kapitel

Der Regen hatte augenblicklich aufgehört; aber der Wind war dafür um ein ziemliches heftiger geworden. Nach dem, was da erzählt worden war, ließ sich ein gleichgültiges Gespräch nicht leicht anknüpfen, und doch fühlte jeder das Bedürfnis dazu im hohen Grade.

Als Ulebeule sich endlich zusammennahm und kläglich sagte:

»Es ist doch ein tüchtiger Wind!« machte Fräulein Kristeller freilich die dazugehörige Bemerkung:

»Ach ja, und die armen Leute, die jetzt auf dem Wasser sind!« aber das Gespräch war damit doch wieder zu Ende und fiel kläglich zu Boden. Herr Philipp hatte seinen schicksalvollen Brief wieder in das gelb gewordene Kuvert geschoben und trat eben mit demselben in die Tür seiner Offizin, als er stehenblieb und rief:

»Da ist der Doktor!«

»Der Doktor!« riefen aufatmend und mit glatt auseinander sich legenden Mienen alle ihm nach. »Der Doktor! richtig, er wird es sein.«

Er war es. Man vernahm draußen vor den Fenstern der Offizin, nicht des Hinterstübchens, Rädergeknarr, das Stampfen eines Gaules, Peitschengeknall und dazwischen eine laute joviale Stimme:

»Holla, heda! Giftbude! Lichter an die Fenster! Bist du da, Friedrich, so reiß das Scheunentor auf und leuchte, daß wir die Karrete und uns aus der Sündflut und dem sonstigen Orkane in Sicherung bringen!«

Das alte Fräulein lief schnell hinaus und dem gerngesehenen dritten Hausfreunde entgegen. Behaglicher lehnten sich der Förster und der geistliche Herr auf ihren Stühlen zurück. Der Apotheker stand lächelnd mit seinem vergilbten Briefe in der Hand da und horchte mit den andern. Schon hörte man jetzo auf der Hausflur des Doktors lustige Stimme, dazwischen die Stimme Dorotheas, und dann sprach noch jemand drein, gleichfalls kräftig-heiter.

»Er kommt nicht allein. Er bringt uns einen Gast oder sich einen Patienten mit«, sprach der Apotheker ›Zum wilden Mann‹, und sofort zeigte es sich, daß das erstere der Fall war. Weit flog die Tür, die von der Hausflur in das bilderreiche Hinterstübchen führte, auf, und mit dem Landphysikus Dr. Eberhard Hanff trat der Gast ein, höflich auf der Schwelle um den Vortritt sich mit Fräulein Dorothea bekomplimentierend.

»Keine Umstände, Herr Oberst«, rief der Doktor, den ältlichen, breitschulterigen, stattlichen alten Herrn mit dem schneeweißen Haar, den schwarzen scharfen Augen im munteren tiefgebräunten Gesichte weiter vorschiebend. Und ohne alle weiteren Umstände stellte er vor:

»Kolonel Dom Agostin Agonista – im Dienste Seiner Majestät des Kaisers von Brasilien – von mir aufgegriffen auf dem Wege zum wilden – ach, Herrje, Punsch?! – o Oberst, habe ich es nicht gesagt? Fräulein Dorette, Sie wissen meine Gefühle und Gemütsstimmungen doch immer auf drei Meilen Weges hinaus zu ahnen; – Punsch!! Die Herren werden sich dem Herrn Oberst am besten selber bekannt machen. Ach, Fräulein Dorette, je bösartiger die Witterung, desto inniger die Ahnung Ihrerseits; – erlauben Sie mir, daß ich Ihnen die Hand küsse.«

»Lassen Sie das dumme Zeug nur und hängen Sie lieber Ihren Mantel an den Haken«, sprach die Schwester des Apothekers, »der Herr Oberst ist uns sehr willkommen, und wir bitten höflichst, Platz zu nehmen.«

Der Landphysikus pflegte die Leute, die er dann und wann auf seinen Berufswegen »als Gäste aufgriff« und in irgendein beliebiges Haus mit sich nahm, stets in einer ähnlichen Weise vorzustellen und sie dadurch gewöhnlich in nicht geringe Verlegenheit zu bringen. Der brasilianische Oberst ließ sich nicht so leicht in Verlegenheit setzen. Er wendete sein munteres, vernarbtes Soldatengesicht heiter und hell im kleinen Kreise umher und sagte mit dem leisesten Anhauch eines fremdartigen Akzentes:

»Meinerseits nenne ich dieses einen raschen Überfall, meine Dame und meine Herren, und bitte sehr um Entschuldigung wegen dieses nächtlichen Eindringens. Der Herr Doktor fand mich freilich in einer höchst erbärmlichen Schenke am Wege durch den Sturm und die Nacht festgehalten hinter dem Tische und hat in der Tat in der freundlichsten Weise den barmherzigen Samariter gespielt. Er nahm mich in seinen Wagen auf und bot mir ein besseres Nachtquartier in dieser Ortschaft an. Ich folgte ihm gern, und dann hielt er vor diesem Hause an – um einen ›Kristeller‹ zu nehmen, wie er sagte – auf einen Moment, wie er sagte, und ich kam mit ihm herein, um auch einen ›Kristeller&‹ zu mir zu nehmen, und mein Name ist wirklich Agonista, und ich bin Oberst in brasilianischen Diensten.«

»Mein Name ist Kristeller; aber der Doktor, mein lieber Freund, nennt einen Likör so, dessen Erfindung mir gelungen ist, Herr Oberst«, sagte der Apotheker. »Übrigens ist uns allen hier Ihr Eintritt in unseren kleinen Kreis eine Ehre und ein großes Vergnügen.« Der Pastor und der Förster sprachen nun gleichfalls ihre Befriedigung über die zeitgemäße Ankunft des interessanten Freundes aus. Man schüttelte sich die Hände und schob von neuem die Stühle an den Tisch.

»Oh – Fräulein Dorette, ich habe Ihnen wie gewöhnlich mein Kompliment zu machen!« rief der Landphysikus Dr. Eberhard Hanff, in Ekstase nach einem langen Zuge die Nase aus dem Dampfe des Getränkes des Abends in die Höhe hebend. »Finden Sie jetzt nicht auch, Kolonel, daß wir hier besser aufgehoben sind als dort in der Kneipe ›Zum Krug ohne Deckel‹ oder wie die Räuberhöhle sonst heißt? he, und wie wehrte und sperrte man sich gegen das bessere Verständnis eines landkundigen Mannes!«

»Es ist gewiß besser hier«, sagte der Soldat mit einer Verbeugung gegen die Schwester des Hausherrn. »Man wehrt sich oft gegen sein Glück, Senhora – man sollte es nicht tun.«

Die übrigen gaben dem Oberst natürlich recht, und dann redete man ebenso selbstverständlich von neuem eine geraume Zeit über das Wetter; doch dann auch über die Wege, über die Wegschenke, in welcher der Doktor den Fremden gefunden hatte, über die Gegend im allgemeinen und besondern, über das frühe Abziehen der Zugvögel in diesem Jahre, über dieses und jenes: nur der Apotheker ›Zum wilden Mann‹ nahm an dieser Unterhaltung wenig Anteil.

Er, Philipp Kristeller, saß seinem brasilianischen Gaste gegenüber. Den alten Brief hatte er nicht wieder in sein Pult verschlossen, sondern, durch die plötzliche Ankunft des Doktors und des Fremden daran gehindert, ihn wieder mit sich gebracht und auf dem Tische von neuem vor sich niedergelegt. Er stützte jetzt den Ellbogen darauf und lächelte in das Gespräch der übrigen hinein, doch wie abwesend und den eigenen Gedankengespinsten nachgehend. Daß der so plötzlich und unvermutet in seinem stillen Hauswesen erschienene ausländische Herr seine innere Erregung vermehrte, konnte man nicht sagen, doch richtete er, der Hausherr, dann und wann verstohlen forschend, den Blick auf den Gast; und die Antworten, die er sodann auf an ihn gerichtete Fragen gab, waren noch um ein weniges zerstreuter.

Der Arzt erkundigte sich zuerst scherzhaft nach dem Grunde, und Ulebeule antwortete für den Apotheker. »Laßt ihn, Medikus, hat sich der Bär erniedrigt, so wird er sich wohl bald um so mehr erheben; denn wozu hat er seine Hinterpranken sonsten? fragt man in Polackien. Wäret ihr eine Viertelstunde früher gekommen, so hättet ihr uns alle insgesamt in einer noch viel kurioseren Stimmung angetroffen. Wie die Hasen die Hexensteige durchs Korn, so haben wir uns an diesem Abend unsere Wege durch die angenehme Unterhaltung gebissen. Oh, wir haben seltsame Historien vernommen!«

»Ulebeule!« rief der Apotheker; doch der Förster war in seinem Eifer nicht imstande, auf den Ruf zu hören.

»Ich sage Ihnen, Doktor, es ist ein Jammer und schade, daß Fräulein Dorettes Punsch Sie und den Herrn Oberst nicht ein wenig früher angeludert hat. Wie Federwild sind die merkwürdigsten Geschichten um uns her aufgestoben. Wir wissen jetzt, weshalb sich dreißig Jahre lang keiner von uns in diesen Lehnstuhl da hat setzen dürfen; – wir wissen, in welcher Weise unser Freund Philipp bei uns ankam – wir haben viel gehört von Liebe und Tod, von wilden Männern und alten Geldbriefen, wie nicht jedermann solche von der Post zugeschickt kriegt. Waren Sie jemals in Ihrem Leben auf dem Blutstuhle, Doktor?«

»Ulebeule?!« rief jetzt auch der geistliche Herr, und diesmal hörte der Förster.

»Nun, nun – ja, ja, Ihr habt recht!« brummte der redselige Weidmann kleinlaut. »Nehmt's nicht übel, Kristeller, da Ihr selber so vertraulich waret –«

Herr Philipp füllte freundlich dem biederen Hausfreunde das Glas und reichte ihm die Hand; doch nun sagte der Doktor Hanff:

»Zu den kuriosen Geschichten sind wir, die wir unsererseits dergleichen vielleicht auch dann und wann erlebten, diesmal zu spät gekommen. Aber eine Frage erlaube ich mir doch: Habt ihr diesen guten Trunk hier jener Historien wegen etwa zusammengebraut?«

Der brasilianische Oberst Dom Agostin Agonista, der die ganze Zeit hindurch mit nachdenklichen Augen auf den leerstehenden Ehrensessel geschaut hatte, sah jetzt scharf auf und hell und heiter im Kreise umher, zuletzt am schärfsten auf den Herrn des Hauses. Währenddessen antwortete der Pastor dem Physikus und den forschenden Blicken des Kolonels zugleich mit:

»Sie sind zu einem ebenso freudigen wie ernsthaften Gedächtnisfeste gerade noch zur rechten Zeit gekommen, lieber Doktor. Unser Freund Kristeller sitzt heute gerade dreißig Jahre hier in diesem Hause ›Zum wilden Mann‹, Herr Oberst. Er ist uns und allen Bewohnern der Gegend weit und breit ein lieber, treuer Freund und Helfer ein ganzes Menschenalter durch gewesen; den Punsch hat uns Fräulein Dorothea improvisiert, und Ihre Einladung würden Sie zu Hause vorgefunden haben, lieber Doktor.«

»Den Umweg habe ich mir demnach gespart«, lachte der Landphysikus. »Mein Herr Vater verwunderte sich gleich über meine verständige Nase, als die Wickelfrau mich ihm auf die Arme legte.«

Noch eine Bemerkung über seinen Hausschlüssel anfügend, sah der Humorist des Ortes von einem zum anderen, aber man lächelte diesmal nur, man lachte nicht mit oder hielt sich gar vor Lachen am Tische. Am vergnügtesten sah noch der Oberst aus, und dieser erhob nunmehr auch sein dampfendes Glas und sprach:

»So erlaube ich mir denn, als ein wie vom Himmel in diese Behaglichkeit hineingefallener Fremdling, gleichfalls auf diesen schönen und wichtigen Gedenktag und Abend zu trinken. Dreißig Jahre sind eine lange Zeit; manches wird darin anders – Gesichter und Meinungen. Und meine gnädige Dame und meine guten Herren, auch ich kann heute ebenfalls ein mir sehr merkwürdiges und folgenreiches Gedächtnisfest feiern; – auch mir sind heute gerade dreißig Jahre vergangen, seit ich zum ersten Male im Feuer stand, und zwar an Bord der chilenischen Fregatte ›Juan Fernandez‹ gegen den ›Diablo blanco‹, den weißen Teufel, ein Schiff der Republik Haiti, um am folgenden Morgen mit einem Holzsplitter in der Hüfte und einem Beilhieb über der Schulter im Raum des Niggerpiraten aus der Bewußtlosigkeit aufzuwachen!«

»Wozu man freilich heute noch gratulieren kann«, brummte der Doktor, während die anderen auf andere Weise ihr Interesse und Mitgefühl kundgaben.

»Wozu ich mir ganz gewiß heute noch Glück zu wünschen habe«, sagte der tapfere alte Krieger, »denn in diesem gottverdammten Schiffsraume, dem schwärzesten, stinkendsten Loche, das je auf dem Wasser schwamm, lernte ich einen Arzt kennen, der eine Kur an mir verrichtete, wie sie keinem europäischen Mediziner gelungen wäre –«

»Das wäre der Teufel!« rief der europäische Physikus.

»Der war es sozusagen auch«, sprach gelassen der brasilianische Oberst, »und er klopfte mich auf die Schulter und sagte: ›Senhor, eine Zeitlang hat jedermann auf Erden das Recht, den Narren zu spielen, nur darf er das Spiel nicht über die gebührliche Zeit fortsetzen, er macht sich sonst lächerlich; Ihr gefallt mir, Senhor, und ich meine es gut mit Euch – diesmal kommt Ihr noch mit dem Leben davon; erinnert Euch meiner und ruft mich, wenn Ihr mich braucht; ich stehe immer an Eurem linken Ellbogen.‹ – Meine Herrschaften, das Ding verhielt sich wirklich so, und ich habe den Schwarzen jedesmal, wenn ich ihn nötig hatte, gerufen und mich stets wohl dabei gefunden. Vorher war's mir herzlich schlecht in der Welt ergangen, und ich hatte mich recht übel darin befunden.«

Der geistliche Herr rückte ein wenig ab von dem sonderbaren Gaste, Fräulein Dorothea Kristeller murmelte:

»Ei, ei! hm, hm.« – Der Apotheker sagte noch immer nichts; aber Ulebeule rief entzückt:

»Das ist ja aber heute wie ein Abend aus dem Tausendundeinenachtbuche! Wir sind drinnen im Erzählen, und wenn's nach mir geht, bleiben wir bis zum Morgen dabei. Lieber Herr Oberst, unser alter Philipp da hatte vom Anfange an auch nicht die Absicht, uns alles das, was er uns berichtet hat, zu beichten; er geriet nur so ganz allgemach auf die Fährte, und wir haben ihn nur durch gute Ermunterung darauf gehalten. Herr Oberst, nehmen Sie sich gütigst ein Exempel und erzählen Sie weiter von den Mohren. Der Abend ist ganz danach; – was meinen Sie, Pastore?«

Der Pastore war wieder zugerückt und bot dem fremden Kriegsmann die Dose.

Dom Agostin Agonista lächelte gutmütig und sagte vergnügt:

»Ich weiß nicht, was für wilde Historien unser freundlicher Herr Hospes von sich erzählt hat; mein Leben ist sicherlich ins Wilde geschossen und hat Früchte gebracht, die auf jedem Markte Verwunderung erregen müssen. Zuerst wucherte das Gewächs phantastisch ins Kraut, und mehr als ein Botanikus wartete mit Spannung auf die überirdischen Blüten und Früchte. Jawohl! Der große Hurrikane kam, der Wind und Sturm über Land und See – die Blätter wurden weggefegt, die Blüten, oder was so aussah, dito. Endlich fand sich so ungefähr drei bis vier Fuß unter der Erde etwas, was mit der Kartoffel einige Ähnlichkeit hatte – allerlei Knollen durch Fasern aneinanderhängend – ungenießbar, zäh, ein abgeschmacktes Produkt der alten Mutter Erde. Dazu hat man es denn gebracht, meine Herrschaften, und der einzige Trost ist nur, daß eben nicht ein jeder nach seiner Wahl ein Pomeranzen- oder Palmenbaum werden kann. Je früher aber der Mensch herausfindet, in welche Klasse er nach Linné oder Buffon gehört, desto besser ist es für ihn, und desto schneller kommt er zur Ruhe und zur Zufriedenheit mit seinen Zuständen. Solange er's noch nicht heraus hat, spuckt er Gift und Galle in den schönsten Sonnenschein hinein und macht Brüderschaft mit dem Schneegestöber und Winterwinde. Ich halte das auch für eine Philosophie, Herr Kristeller.«

»Das ist es auch, Herr Oberst«, sagte Herr Philipp. »Solange aber der Mensch jung ist, findet er die große Wahrheit selten. Ja, viele – die meisten finden sie nie und glauben an ihre Palmbaumberechtigung bis zum Ende.«

»Und das ist ein Glück«, rief der wetterfeste, philosophische Kriegsmann, »denn ohne diese glückliche Illusion würde die ganze Menschheit doch nichts weiter sein als ein sich elend am Boden hinwindendes Geschling und Gestrüpp. Übrigens sind die Kartoffeln und die Trüffeln gar nicht zu verachten.«

»Aber mit dem Mohrenschiff und dem schwarzen Satan, der den verehrten Herrn Oberst so zutraulich auf die Schulter klopfte, hat dieses alles doch eigentlich nicht das geringste zu schaffen – nicht wahr?« fragte Ulebeule.

»Bravo, Förster!« rief der Doktor. »Ihr seid und bleibt ein hirschgerechter Weidmann. Tago! Tago! Ihr laßt Euch wahrlich nicht von der Fährte abbringen. Geben Sie sich nur drein, Oberst, und erzählen Sie uns von dem Mohrenschiffe und Ihren sonstigen spaßhaften und ernsthaften Erlebnissen. Die Nacht ist schwarz genug dazu, und wir sind ganz Ohr.«

Nun schien der richtige Ton für die folgende Unterhaltung gefunden zu sein; aber in demselben Moment jagte der Kolonel Agonista alle, nur den Hausherrn nicht, in hellster Überraschung, ja im jähen Schrecken von den Stühlen empor.

Er hatte sein Glas erhoben und sagte jetzt langsam und ruhig:

»Lassen Sie uns anstoßen auf das Wohl aller wetterfesten Herzen, gleichviel ob sie ihre Schlachten innerhalb ihrer vier Wände durchfechten oder durch Blut und Feuer über den halben Erdball herumgeworfen werden. Kennst du mich nicht mehr, Philipp? Kennst du mich wirklich nicht mehr, Philipp Kristeller?!«


Der Apotheker ›Zum wilden Mann‹ hatte den Geldbrief, der bis jetzt unter seinem Ellenbogen gelegen hatte, gefaßt und in der zitternden Hand zusammengeknittert. Seit fünf Minuten schon wußte er, wer sein Gast war, und der Oberst Dom Agostin Agonista hatte das auch gewußt. Nun aber griff die Schwester zu und stützte den Bruder; der Oberst faßte ihn von der anderen Seite, und so erhob er sich jetzo mühsam wie die übrigen, legte beide Arme dem Gast um die Schultern, legte ihm das Gesicht an die Brust und stöhnte:

»Nach einem Menschenalter also!«

Der Doktor, der Pastor und der Förster verwunderten sich, ein jeder auf seine Manier, und es währte eine ziemliche Weile, ehe jedermann wieder Platz genommen hatte.

Endlich saßen sie wieder; der Oberst aber nicht auf dem ihm so lange Zeit aufbewahrten weichen Ehrenplatz. Dom Agostin hatte, nachdem er die Ehre zuletzt fast grob zurückgewiesen hatte, mit zierlicher, drängender Höflichkeit Fräulein Dorette Kristeller in den Lehnstuhl niedergesetzt, und diese behielt denn auch den Platz, nachdem sie ihren Protest eingelegt hatte.

»Gegen die Gewalt kann ich nicht an, Herr Oberst, aber behaglich sitze ich hier wahrhaftig nicht, und in die Wirtschaft muß ich auch jeden Augenblick hinaus.« Das war richtig. Die chinesische Bowle mußte noch zweimal im Verlaufe der Nacht gefüllt und das Gastzimmer ebenfalls doch auch für den geheimnisvollen, abenteuerlichen Freund hergerichtet werden. Dazwischen erzählte der alte Soldat, ohne sich im geringsten zu sperren, dem ›Wilden Mann‹ seine Geschichte. Was darin zu Tage kam, hätte jeden Tisch voll Philister (unter anderen Umständen) bewogen, erst von dem munteren Erzähler leise abzurücken, dann nach und nach mit den Gläsern und Pfeifen sich nach einem anderen Platze umzusehen und dann – bis zum Nachhausegehen – von dem neuen Stuhl aus verstohlen, furchtsam und verblüfft über die Schultern nach dem unheimlichen fidelen alten südamerikanischen Burschen hinzustieren.


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