Wilhelm Raabe
Zum wilden Mann
Wilhelm Raabe

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Zwölftes Kapitel

»Ihr glücklichen Leute wißt gar nicht, um wie vieles unsereiner euch zu beneiden hat«, sprach der Oberst. »Da sitzt ihr in eurer täglichen Behaglichkeit, und wenn ihr euch nicht dann und wann wirklich über die Fliege an der Wand zu ärgern hättet, so ginge es euch ziemlich gut. Nun guck' einer, wie niedlich sich das Ding da auf der Zuckerdose die Nase wischt und die Flügel putzt! Sollte man es nun für möglich halten, daß der Gutmütigste von euch hierzulande vor Wut außer sich gerät, wenn das ihm während des Mittagsschlafes über die Stirn spaziert? So ein Biwak am Rio Grande ohne Moskitonetz, das würde etwas für euch sein, um euch Geduld in Anfechtungen zu lehren!«

Der Apotheker lächelte und sagte: »Unsere Anfechtungen haben wir auch wohl ohne das, lieber August.«

»Lieber Agostin! wenn ich dich bitten darf«, rief der Gast. »Du hast keine Ahnung davon, wie verhaßt mir dieser frühere August ist. Wenn jemand seinen alten Adam so vollständig wie ich im Graben ablegt, dann hält er auch etwas auf seinen neuen Rock. Mein jetziger paßt mir wie angegossen, bemerke ich dir abermals – Dom Agostin Agonista, Gendarmerie-Oberst in kaiserlich brasilianischen Diensten – alles in Ordnung, Patent wie Paß –«

»Ereifere dich doch nicht, Lieber«, sagte der alte Philipp begütigend.

»Ich ereifere mich nicht, ich ärgere mich nur!« rief der Oberst.

»Und zwar wie ein echter Deutscher über die Fliege an der Wand, bester Augustin«, meinte der Apotheker ›Zum wilden Mann‹; und dann gingen sie zu etwas anderem über, das heißt, der Oberst fing an, sich sehr genau nach den Umständen und Lebensläufen der Herren, deren Bekanntschaft er am gestrigen Abend gemacht hatte, zu erkundigen. Dann erzählte er seinerseits genauer, auf welche Weise er mit dem Doktor Hanff auf dem Wege zusammengeraten sei, und dadurch kam er darauf, wie ihn doch nicht allein der Zufall in diese Gegend geführt habe, sondern wie er in der Tat mit der Absicht gekommen sei, sich nach dem alten botanischen Wald- und Jugendgenossen, nach dem treuen Freunde vom Blutstuhl umzuschauen.

»Ich hatte keine Ahnung, wo du geblieben warst, und ob du überhaupt noch am Leben seist, Filippo!« rief der Brasilianer. »Aber ich hatte mir vorgenommen, dich tot oder lebendig zu finden, und es ist mir gelungen. Eine Maronjagd war es durchaus nicht, Alter. Ich habe es wohl gelernt, Spuren von Wild und Mensch im Urwald wie zwischen den Ackerfeldern und in dem verworrensten Straßennetz über und unter der Erde zum Zwecke zu verfolgen. Dich oder deinen Namen oder vielmehr einen Schnaps oder Likör deines Namens spürte ich in den Zeitungen aus – dem ›Kristeller‹ ging ich nach, und da bin ich denn, und du wirst es mir gewiß nicht verdenken, wenn ich im Laufe des Morgens das Getränk an der Quelle zu erproben wünsche. Es war keineswegs notwendig, daß euer Doktor mich auf den ›Kristeller‹ aufmerksam machte.«

Der alte Philipp hatte sich während dieser Auseinandersetzung fortwährend vergnüglichst die Hände gerieben, jetzt sprang er auf, klopfte den Freund auf die Schulter und rief:

»Also mein ›Kristeller‹ hat dich auf meine Spur gebracht! Oh, lieber August – in, ich glaube da wirklich, eine wohltätige Erfindung gemacht zu haben; ich werde sogleich –«

»Nachher«, sprach der Oberst Agonista. »Sieh, Wie herrlich die Sonne scheint, wie blau der Himmel ist! Philipp, jetzt zeigst du mir vor allen Dingen dein Heimwesen im einzelnen: Herd und Hof –, ach, wie schade, daß du mir nicht auch Weib und Kinder und Enkel zeigen kannst! – und Garten, die Offizin, das Laboratorium, die Materialkammer, Küche und Keller, Stall und Viehstand – alles interessiert mich!«

Da der Hausherr jetzt wieder neben seinem Gaste saß, so klopfte er ihn nun auf das Knie:

»O Augustin, wie freundlich ist das von dir! Welch eine Freude machst du mir da. Sollen wir gleich gehen?«

»Gewiß«, sprach der Oberst Dom Agostin Agonista, sprang auf, drückte den Tabak in der Pfeife fest und nahm den Arm des Freundes.

Beide Herren traten ihre Gänge an, durch Haus und Hof, durch Garten und Ställe, und es war zugleich eine Merkwürdigkeit und ein Vergnügen, wie verständig und sachkundig der Kriegsmann über alles zu reden wußte, und – wie genau er sich jegliches Ding ansah.

Der entzückte Hausherr sprach ihm mehrfach seine Verwunderung darob aus; aber Dom Agostin lachte und meinte:

»Treibe du dich einmal wie ich ein Menschenalter da drüben um unter dem Volk und den Völkerschaften, die Affen und sonstigen Bestien eingeschlossen. Das heißt natürlich als ein von Haus und Anlage aus überlegender und praktischer Mann, und dann sieh zu, ob du nicht gleichfalls die Ordnungen der alten Heimat dir im Gedächtnis wachrufen und täglich gern mit neuen Erfahrungen vermehren wirst. Wenn mich mein Schicksal zu einem Abenteurer gemacht hat, Philipp, so bin ich doch ein ganz solider geworden. Daß ich mich demnächst verheiraten werde, glaube ich euch bereits gestern abend mitgeteilt zu haben.«

»Wenn es wirklich Ernst war, Augustin –«

»Mein bitterer Ernst. Ihr schient es alle für einen Scherz zu nehmen; ich habe das wohl gemerkt. Eigentlich hätte ich das übel aufnehmen sollen und begreife jetzt auch nicht, weshalb ich nicht sofort um weitere Aufklärung über euer Lächeln bat – dieser Doktor – Doktor Hanff schien mir sogar die Schultern in die Höhe zu ziehen. Nun, schieben wir das alles auf den trefflichen Punsch deiner Schwester – ich aber wiederhole es dir, ich bin bis über die Ohren verliebt und trage das Bild meiner Geliebten in einem Medaillon unter der Weste auf dem Busen. Du sollst das Porträt sehen, und deine Schwester soll's nachher auch sehen, und dann will ich eure Meinung ruhig anhören. Es ist ein Prachtweib und nicht ohne Vermögen; Senhora Julia Fuentalacunas – nicht wahr, ein recht wohlklingender Name? Sie kam jung als Julchen Brandes von Stettin nach Rio und heiratete den Senhor Fuentalacunas vom Zollamte. Weißt du, lieber Freund, der Rock des Kaisers ist zwar eine recht kleidsame und honorable Tracht; aber wenn man so die erste Jugend hinter sich hat, fängt man an, auf die Ehre zu pfeifen und das Behagen dem Herrendienste vorzuziehen. Ich werde eine Hazienda kaufen und hoffe, als ein begüterter Familienvater meine Tage in Ruhe im Kreise der Meinigen zu beschließen. Ihr – du und Fräulein Dorette – gehört natürlich zu der Familie, und wir werden ein vortreffliches Leben miteinander führen.«

»Wie? – –« fragte der Apotheker ›Zum wilden Mann‹, Herr Philipp Kristeller, und sah seinen Gast mit den größesten Augen an.

»Wie ich es sage«, sprach der kaiserlich brasilianische Gendarmerie-Oberst, den erstaunten Blick seines alten Freundes nicht im mindesten beachtend, sondern, mitten im Hofraume stehend, rings umher an den umgebenden Gebäuden emporschauend. Es schien ihm wiederum in der Tat bitterer Ernst um das zu sein, was er sagte.

»Ich hoffe, deine Schwester ohne Mühe zu überreden«, fügte er wie beiläufig an.

Der Apotheker lachte, der Oberst aber lachte ganz und gar nicht mit, sondern umging die zwei Milchkühe im Stalle mit kritischem Blicke, klopfte sie auf die Weichen und bemerkte:

»Vor einigen Jahren war ich in Fray Bentos und sah mir das dortige Fleischextrakt-Institut an. Großartig! – Sie treiben euch vor den Augen einen Ochsen in die Retorte und liefern ihn euch nach zehn Minuten in eine Büchse konzentriert, die ihr in die Hosentasche steckt – wäre das Weltmeer nicht da, dem ihr euer Erstaunen zurufen könnt, ihr wüßtet nirgends damit hin, Philipp. Und vor vierzehn Tagen war ich bei Liebig in München – annähernd derselbe Geruch und Duft wie bei dir, nur noch ein bißchen metallischer; – Kristeller, da können wir einander gleichfalls gebrauchen – ich liefere dir das Vieh, und du lieferst mir den Extrakt – Philipp, ich gebe dir mein Ehrenwort darauf, in drei Jahren machen wir den Herren zu Fray Bentos eine Konkurrenz, die sie zu Tränen rühren soll.«

»O Augustin, welch einen prächtigen Humor hast du aus deinem neuen Vaterlande mit herübergebracht!« rief der Apotheker; »aber –«

»Humor?« fragte der Oberst sehr ernsthaft und setzte fast schreiend hinzu: »Zahlen! Zahlen! Die eingehendsten, unumstößlichsten Berechnungen: Hier! – da!«

Er hatte bereits seine Brieftasche hervorgezogen und las im Fluge dem Freunde einige in der Tat sehr eingehend auf die Fleischextrakt-Fabrikation Bezug habende Zahlenreihen her. Herr Philipp Kristeller rieb sich in immer größerer Erstarrung die Stirn:

»Die Schwester – die Schwester sollte das hören«, murmelte er, und jetzt lächelte auch der Gendarmerie-Oberst endlich wieder einmal und meinte:

»Ich werde natürlich schon beim Mittagsessen deine gute Schwester mit unseren Plänen bekannt machen und sie für dieselben zu gewinnen suchen. Ich bin überzeugt, sie wird sich nicht so steif-verwundert wie du hinstellen und nur meinen Humor loben.«

»O du großer Gott!« seufzte Herr Philipp.

Die Ziege, welche neben den zwei Kühen im Stall unter der besonderen Obhut Fräulein Dorette Kristellers ein wohlbehagliches Dasein lebte, überging der Oberst ohne weitere Bemerkung; dagegen sprach er im Hühnerhofe kopfschüttelnd:

»Dieses Vieh hier erinnert mich stets merkwürdig lebhaft an meine selige Mutter.«

Er hatte die Brieftasche in der Hand behalten und machte von Zeit zu Zeit einige Notizen. Fast zwei Stunden brachten die beiden Herren auf ihrer Inspektionsreise zu, und als sie ins Haus zurückkehrten, fanden sie den Landphysikus in der Offizin auf sie wartend und ein Gläschen vom berühmten Kristellerschen Magenlikör vor ihm auf dem Tische.

Mit gewohnter Jovialität begrüßte der Doktor die eintretenden beiden Herren. Man schüttelte sich bieder die Hände im Kreise und erkundigte sich gegenseitig auf das herzlichste nach der Nachtruhe und dem sonstigen Befinden.

»Was für einen Wochentag schreiben wir denn heute eigentlich?« fragte der Oberst, seine Brieftasche immer noch in der Hand tragend.

»Das wird Ihnen der Barbier, welcher da eben hinrennt, am besten sagen können«, lachte der Doktor Hanff, »der Pflug geht den Bauern über die Wochenstoppeln; es ist Sonnabend –«

»Und morgen besuche ich zum ersten Male seit einem Menschenalter den deutschen Gottesdienst wieder!« rief der Oberst Dom Agostin Agonista entzückt. »Übermorgen reise ich ab.«

»August? – Augustin?« rief erschrocken Herr Philipp Kristeller.

»Herr Oberst?« sprach erstaunt Fräulein Dorette Kristeller.

Aber der Landphysikus, sein Glas energisch zurückschiebend, rief:

»Unter allen Umständen unmöglich, Kolonel; der Förster Ulebeule begegnete mir, er ist mit einer Einladung zum Mittagessen auf den Montag unterwegs; für den Dienstag erbitte ich mir die Ehre; am Mittwoch kommt die Reihe an den Pastor; am Donnerstag – doch da wollen wir den übrigen Herren nicht vorgreifen; jedenfalls lassen wir Sie unter keinen Umständen so rasch fort, Oberst. Wer einen seltenen Vogel wie Sie in den Händen hat, der hält ihn, solange es möglich, fest. Geben Sie mir noch einen ›Kristeller‹, lieber Kristeller, und nehmen Sie auch einen, liebster Oberst; Sie scheinen noch gar keine rechte Ahnung davon zu haben, welche guten und angenehmen Dinge die hiesige Planetenstelle produziert.«


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