Wilhelm Raabe
Zum wilden Mann
Wilhelm Raabe

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Elftes Kapitel

Bruder und Schwester saßen allein im jetzt recht frostig werdenden Hinterstübchen, im erkaltenden Qualm von spirituösem Getränk und Tabaksdampf. Der Gast war zu Bett gegangen.

Der Hausherr hatte den Freund mit dem Lichte in das behagliche Gemach die Treppe hinaufbegleitet und noch einmal all sein überquellendes Gefühl in Wort und Empfindungslaut zusammenzufassen gesucht. Der Oberst hatte ihn freundlich zu beruhigen gestrebt und dann, noch in Gegenwart seines guten Philipps, sehr gegähnt und den Rock ausgezogen. Liebevoll aber hatte er ihn doch noch einmal von dem ersten Treppenabsatz zurückgerufen und, ihm die Hand auf die Schulter legend, gesagt:

»Philipp, alter Kerl, lieber Junge, es ist mir in der Tat ein herzliches Genügen, unter deinem Dache zu ruhen. Wahrhaftig, in mancher unbehaglichen, unbequemen Stunde zu Lande und zu Wasser habe ich mir da, das heißt unter diesem Dache, oft das vorzüglichste Quartier zurechtgemacht, und jetzt hab' ich die Wirklichkeit, und sie ist wunderbar wohltuend!«

An diesen erfreulichen Ausbruch seiner Gefühle hatte er denn freilich recht praktisch die Frage nach dem Stiefelknecht geknüpft.

Während der Bruder dem Gaste zu seinem Schlafzimmer leuchtete, war Fräulein Dorette in der Bildergalerie sitzengeblieben, doch hatte sie den Ehrensessel aufgegeben und sich auf ihrem gewohnten Stuhle niedergesetzt. Da saß sie, beide Ellenbogen auf den Tisch stützend und starr durch den Qualm, den die Herren hinterlassen hatten, und über die leere Punschschale und die gleichfalls leeren Gläser weg auf die buntbehängte Wand gegenüber sehend. Da saß sie und horchte auf die Schritte über ihrem Kopfe und dann auf die Schritte des zurückkehrenden Bruders auf der Treppe.

»Welch ein Erlebnis!« murmelte sie. »Wie fällt das jetzt in unsere Tage? – So spät im Leben! – Und was werden die Folgen sein? – Oh, oh, oh!«

Nun aber trat der Bruder wieder ein und zur Schwester heran. Nun legte er seinerseits ihr die Hand auf die Schulter:

»Weißt du dich auch noch nicht in dem Glück, das uns dieser Abend gebracht hat, zurechtzufinden? O Dorette, liebe Dorette, wie schön hat sich nun alles ineinander gefunden und geschlossen – und gerade an diesem Tage, an diesem Abend. Wer glaubt da an Zufall? Wer hat jemals deutlicher als wir die Hand der Vorsehung, die alles gut macht, in seinem Lebenslose erblickt?«

»Oh!« stöhnte die Schwester. »Ach, Bruder, Bruder, was wird nun aus unserm Leben werden? – Oh, wenn er doch nur früher gekommen wäre! Aber so spät am Abend – so spät am Abend – was sollen wir anfangen?«

Herr Philipp Kristeller hatte sich auf seinem Stuhl niedergelassen und blickte die Schwester groß und verwundert an.

»Was – wie meinst du das, Dorothea?«

»Jetzt frage mich nur nicht weiter«, sagte das alte Fräulein scharf. »Es wird sich ja alles finden – morgen, übermorgen! Ja, morgen ist ja auch ein Tag! – Aber man kann es ja nicht lassen. – Bester Bruder, wenn er nun bliebe? Wenn er sich bei uns niederlassen wollte? Man muß sich ja da alle möglichen Fragen stellen.«

»Wenn er bliebe? Wenn er sich bei uns niederlassen wollte? Aber das wäre ja herrlich!« rief der Apotheker, entzückt sich die Hände reibend. »Wie weich und angenehm wollten wir ihm sein Leben machen!«

Verwundert sah er hin, als das Fräulein zweifelnd und melancholisch den Kopf schüttelte.

»Du glaubst nicht, daß wir das vermöchten, Dorothea?«

»Nein erwiderte das Fräulein kurz und sprach unter einem schweren Seufzer mehr zu sich als dem Bruder:

»Und dann der andere Fall – wenn er morgen wieder abreisen will, und dazu –«

Sie brach ab und vollendete den Satz auch nicht, als der Bruder gespannt eifrig fragte:

»Und dazu? – Was meinst du? Was willst du sagen?«

»Wir müssen es eben abwarten«, sprach Fräulein Dorothea Kristeller aufstehend. »Etwas anderes läßt sich in dieser Nacht doch nicht bereden; und jetzt wollen auch wir zu Bett gehen und versuchen zu schlafen.«

Nach diesem saßen sie doch noch, aber stumm, eine gute halbe Stunde beieinander. Als sie zu Bette gegangen waren, schlief weder Bruder noch Schwester einen ruhigen Schlaf.

Den ruhigsten Schlaf von allen, deren Bekanntschaft wir diesmal machten, schlief der brasilianische Oberst Dom Agostin Agonista.

Der lag friedlich auf dem Rücken und lächelte im Schlummer und sogar beim Schnarchen. Man vernahm ihn so ziemlich durchs ganze Haus, und wenn er träumte, so träumte er, ganz gegen alle soldatische Sitte und Gewohnheit, weit in den jungen Tag hinein.

Dieser junge Tag kam frisch, reingewaschen, glänzend und sonnig – ein klarster, kalter Oktobertag. Die Berge in ihrem braunen Herbstgewande hoben sich scharf von dem hellblauen Himmelsgewölbe ab; die leeren Felder der Ebene lagen bis in die weiteste Ferne klar da; und die Dörfer, die einzelnen Gehöfte, Anbauerhäuser und Hütten erschienen dem Auge scharf umzogen, als ob sie dem Spiegel einer Camera obscura entnommen worden und in die Morgenlandschaft hinein aufgestellt seien.

In dieser sonnigklaren Herbstmorgenlandschaft erschien aber die Apotheke ›Zum wilden Mann‹ vor allem übrigen wie hübsch auf- und abgeputzt. Die Firma über der Tür glänzte in ihrer Goldschrift weithin, die Landstraße nach rechts und links entlang. Und alles, was sonst zu dem Hause gehörte: Gartengitter, Stallungen und Mauern, befand sich im ordentlichsten Zustande. Man sah, daß um jegliches Zubehör dieses Heimwesens ein sorglicher Geist walte, der seine Freude und sein Genügen dran habe und sein möglichstes von Tag zu Tag tue, alles im Hof, Haus und Garten im guten Stande zu erhalten. Bis auf die vom Sturme der Nacht zerzausten Sonnenblumen, die noch in ihren welken Resten über den Gartenzaun hingen, war alles rings um die Apotheke ›Zum wilden Mann‹ im vollsten Sinne des schönen Wortes – präsentabel.

Und Bruder und Schwester warteten mit dem Kaffee auf den Gast. Eben hatte er heruntersagen lassen: augenblicklich rasiere er sich und werde in zehn Minuten erscheinen.

Die Dünste der Nacht waren verscheucht, das Hinterstübchen gekehrt und mit weißem Sande bestreut. Die Hauskatze putzte sich unter dem Tische, und der Zeisig zwitscherte lebendig in seinem Bauer – es war ein Vergnügen, Herrn und Fräulein Kristeller an ihrem Kaffeetische sitzen zu sehen und – eingeladen zu werden, gleichfalls daran Platz zu nehmen.

Der Oberst ließ nur wenig über die angegebenen zehn Minuten auf sich warten. Schon vernahm man seinen martialisch schweren Schritt auf der Treppe – der Apotheker Philipp Kristeller riß die Tür seines Lieblingsgemaches auf.

»Schönen guten Morgen!« rief der Oberst Dom Agostin Agonista auf der Schwelle, und Wirte und Gast faßten sich rasch zum erstenmal bei hellem Tageslicht ins Auge: am schärfsten sah das Fräulein zu; etwas weniger scharf sah sich der brasilianische Kriegsmann seine Leute an – der Apotheker ,Zum wilden Mann»sah gar nichts, sein Gast und Freund schwamm ihm vor den Augen – wenigstens die ersten Minuten durch.

»Recht alt geworden«, meinte der Oberst bei sich, und er hatte recht.

»Unter anderen Verhältnissen würde ich gar nichts gegen ihn haben«, sagte das Fräulein in der Tiefe der Seele, »ein anständiger, behäbiger Herr!«

Der Apotheker Philipp Kristeller sagte gar nichts; er schüttelte von neuem dem alten wiedergefundenen Freunde – dem Wohltäter und Gaste die Hand und drückte ihn diesmal trotz alles Widerstrebens auf den Ehrenplatz nieder. Erst als der Oberst saß, sagte Herr Philipp etwas, und zwar nicht bei sich und in der Tiefe seiner Seele, sondern er rief es fröhlich und laut:

»August, ich freue mich unendlich – du bist merkwürdig jung geblieben!«

»Bei allen Göttern zu Wasser und zu Lande, ich hoffe das«, lachte der Oberst Dom Agostin, und es war eine Wahrheit: trotz seiner schneeweißen Haare und seiner wohlgezählten Jahre war er sehr jung geblieben; aber das jüngste an ihm war doch seine Stimme.

Diese allein schon konnte als eine Merkwürdigkeit gelten. Mit einem behaglichen Widerhall erfüllte sie das Haus, ging einmal voll und rund durch die Ohren ins Herz und paßte sich gemütlich, ja sozusagen tröstlich-fröhlich allem und jeglichem an, was die Stunde im Guten und im Bösen bringen mochte. Wer sie von fern vernahm und vorzüglich in Verbindung mit dem herzlichen Lachen ihres Besitzers, der sagte sich unbedingt:

»Da freut sich ein braver Gesell seines Daseins.«

Der Oberst schüttelte nun noch einmal dem Fräulein die Hand und sprach zum Apotheker:

»Ich habe euch heute morgen das Recht gegeben, mich für einen Langschläfer zu halten, aber ihr werdet wahrscheinlich morgen früh schon eines Besseren belehrt werden. Gewöhnlich pflege ich drei Stunden vor Sonnenaufgang auf dem Marsche zu sein. Man lernt das, auch ohne Anlagen dazu zu haben, unterm Äquator; und wenn ihr eines Morgens das Nest ganz leer finden solltet, so braucht ihr euch nicht allzu sehr zu wundern.«

»Oh, Freund«, rief der Apotheker, »wir werden dich zu halten wissen! wir werden dich sicherlich fürs erste nicht loslassen! Du bist unser! Du darfst nicht gehen, wie du gekommen bist – du würdest für lange Zeit alle unsere Freude, unser Behagen mit dir wegführen!«

»Hm«, sagte der Oberst, und dann frühstückten sie gemächlich und der alte Soldat mit besonders ausgezeichnetem Appetit. Er zeigte auch beneidenswert wohlkonservierte Zähne und wußte sie trefflich zu gebrauchen.

Nach vollendetem Frühstück lehnte er sich behaglich seufzend zurück und setzte seine Pfeife in Brand. Dorette ging ihren Hausgeschäften nach, und die beiden Herren waren allein. Sie plauderten jetzt – sie konnten jetzt plaudern –, der Ernst in ihren gegenseitigen Verknüpfungen war wenigstens für den Moment überwunden; sie hatten die nötige Ruhe zum harmlosen Schwatzen gefunden, und sie schwatzten miteinander – zwei gemütliche ältliche Herren, deren einer etwas mehr von der Welt gesehen und sich bedeutend besser erhalten hatte, als es dem anderen vergönnt gewesen war.

Der Brasilianer freute sich über die deutschen Stubenfliegen, welche ihm um die Nase summten; es war ihm auch durchaus nicht zu verdenken; aber die Tatsache verdient, in einem eigenen Kapitel behandelt zu werden.


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