Wilhelm Raabe
Zum wilden Mann
Wilhelm Raabe

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Vierzehntes Kapitel

Am anderen Tage war Sonntag, ein deutscher Dorfsonntag. Die Glocke läutete zur Kirche, und der Pastor Schönlank hatte seine Predigt fertig und bereit. Mit dem Gesangbuch seines Freundes Philipp unter dem Arme und würdig die Schwester des Freundes führend ging auch der brasilianische Oberst Dom Agostin Agonista in die Kirche, und zwar in Uniform. Er hatte seinen Mantelsack und kleinen Reisekoffer vollständig ausgepackt und sein Äußeres festtäglich geschmückt. Er trug seine sämtlichen Orden und sah nicht nur martialisch, sondern wirklich prächtig und vornehm aus und störte die Andacht des Dorfes durch seine Erscheinung vollständig. Er sang auch mit. Der Pastor in der Sakristei vernahm ihn über die Orgel, den Kantor und die Gemeinde weg; – ein so sonorer Baß hatte lange nicht die Wölbung des Gotteshauses erschüttert. Nach der Kirche hatte der fremdländische Krieger, wiederum Fräulein Dorette Kristeller am Arme führend, sozusagen die Parade der ganzen Gemeinde abzunehmen. Sie bildete Spalier auf seinem Wege, gutmütig lächelnd und fort und fort an die Mütze fassend, schritt der Oberst zwischen der Hecke anstaunender Bauerngesichter durch.

Das Dorf sprach heute nur von ihm; Fräulein Dorothea kam aber sehr unwohl aus der Kirche nach Hause und fühlte sich gezwungen, sich zu Bette zu legen und den Rest des Tages darin zu bleiben.

Am folgenden Tage ging der Oberst mit seinem Freunde Philipp zum Förster Ulebeule auf einen Wildschweinkopf. Fräulein Dorette setzte sich vor die Rechenbücher des Hauses. Die Herren in der Försterei waren sehr heiter bei Tische; der Oberst erzählte wieder von der Herrlichkeit seiner neuen Heimat und brachte die Leute aus dem stillen Erdenwinkel fast außer sich durch seine Beredsamkeit und die Farbenpracht seiner Schilderungen. Diesmal forderte er den Doktor auf, mit hinüberzugehen und ein Millionär und kaiserlicher geheimer Hofmedikus zu werden, und schon bei der vierten Flasche hatte der Landphysikus es dem Oberst fest versprochen und durch Handschlag sein Wort besiegelt.

»Mit Ihnen, lieber Pastor, wissen wir weniger da drüben anzufangen«, rief Dom Agostin, »aber wir holen Sie vielleicht doch noch nach, wenn wir uns unsere eigenen Hauskapellen errichtet haben.«

Da hatte der geistliche Herr gelächelt, aber etwas kläglich gesagt:

»Wir sind doch wohl zu einer solchen Emigration ein wenig zu alt, Herr Oberst. Auch würden Sie vorher vor allen Dingen mit meiner guten Frau reden müssen, teurer Herr.«

»Weshalb sollte ich das nicht, wenn sonst die Bedingungen vorhanden sind?« fragte der Brasilianer.

Sie waren ungemein vergnügt bei dem Förster Ulebeule, und erst bei weit vorgeschrittener Dämmerung kamen Philipp und August Arm in Arm und Schulter an Schulter, angeregt und höchst lebhaft heim zur Apotheke.

»Von dem ›Kristeller‹ erbitte ich mir ein Flakon auf den Nachttisch, lieber alter Junge«, sprach der Oberst. »Er entzückt mich immer von neuem, auch nach dem Diner. Pereat Fray Bentos – dies hier nenne ich in Wahrheit eine konzentrierte Bouillon! Der Teufel hole alles Rindvieh in den Pampas; – da wir diesen Feuertrank hier am Orte schon so kochen, wie wird er erst da drüben im Feuerlande ausfallen, Fi – lip – po!«

»De – li – kat!« erwiderte Herr Philipp Kristeller, worauf die beiden Freunde einander dreimal recht herzhaft abküßten.

Sie saßen übrigens an diesem Abend allein im Hinterstübchen, der Oberst und der Apotheker ›Zum wilden Mann‹. Fräulein Dorette ließ sich durch das Hausmädchen entschuldigen und heruntersagen: sie habe arges Kopfweh.

Die beiden Herren ließen sofort hinaufsagen: das tue ihnen sehr leid, und sie wünschten von Herzen eine baldige Besserung; – nachher saßen sie noch bis gegen Mitternacht in der Bildergalerie zusammen und redeten, eingehüllt in Tabaksdampf, von ihrer Jugendzeit.

Als die Uhr zwölf schlug, stand der Oberst auf und sagte herzlich:

»Du weißt doch nicht ganz, wie gut es mir hier zumute ist, Philipp. Wir wollen uns aber auch von nun an nicht wieder voneinander trennen, Alter! Wir wollen von jetzt an ein Schicksal und ein Glück haben, nicht wahr? Nicht wahr, nicht wahr, es bleibt dabei, Philipp?«

»Es bleibt dabei«, stammelte Herr Philipp Kristeller, und dann ging der Oberst zu Bett. Er kannte jetzt den Weg zu seinem Schlafgemache bereits und brauchte kein Geleit mehr. Das ›Flakon‹ mit dem ›Kristeller‹ nahm er unter dem Arme mit wie am Sonntag das Gesangbuch seines Freundes. Aber vorher hatte er noch den Freund in den Ehrensessel niedergedrückt; und in dem Ehrensessel saß Herr Philipp noch eine Weile in der stillen Nacht und suchte zu überlegen, ehe auch er zur Ruhe ging.

Die Nacht war still, das Haus war still. Eben schlug es ein Uhr, als oben eine Tür knarrte und ein langsamer leiser Schritt die Treppe herabkam. Aus dem Überlegenwollen des Hausherrn im Ehrenstuhl des Obersten war ein ziemlich fester Schlummer geworden. Aus diesem Schlummer wiederum auffahrend, horchte Herr Philipp: da war der gespenstische Schritt an der Pforte des Hinterstübchens:

»Wer ist da?« rief der Apotheker auftaumelnd und mit beiden Händen schwerfällig sich auf die Lehnen des Armsessels stützend.

»Ich bin es, Bruder«, sagte Fräulein Dorette Kristeller, im langen weißen Nachtrock wie eine moralische Lady Macbeth hereinschwankend. »Ich bin es, Philipp; ich habe keine Ruhe mehr im Bette, keine Ruhe im ganzen Hause. Ich glaubte, hier noch einen warmen Ofen zu finden; aber nun ist es mir lieb, daß auch du noch wach bist, lieber Bruder; – o Bruder, Bruder Philipp, es ist wirklich und wahrhaftig sein Ernst!«

»Sein Ernst? Wessen Ernst?«

»Sein bitterer Ernst! Oh, ich habe es mir gleich so gedacht, als er dich zuerst so gemütlich auf die Schulter klopfte und ihr alle über seine wilden Pläne lachtet. Er meint es ja vielleicht auch gut mit uns; aber elend macht er uns doch. Philipp, er braucht Geld! er braucht sein Geld, und er ist gekommen, es zu holen!«

Der Apotheker ›Zum wilden Mann‹ sah das trostlose alte Jüngferchen plötzlich mit den glänzendsten, verständnisinnigsten Augen an.

»Er braucht sein Geld, und er ist gekommen, es zu holen? Aber Dorette, das wäre ja wundervoll!«

»Wundervoll?! –«

Herr Philipp Kristeller knöpfte mit zitternder Hand, der kühlen Nacht zum Trotze, vor innerster Aufregung die Weste auf:

»Dorette, wenn du recht hättest! – herrlich, herrlich wäre es! Aber – wenn das so wäre, so würde er es mir doch wohl zuerst gesagt haben?!«

»Hat er das denn nicht? und zwar auf jede nur mögliche Weise – fein und grob!«

Der Apotheker antwortete nichts hierauf. Er ging rasch in dem engen Raume seiner Bildergalerie auf und ab und rieb sich nach seiner Art die Hände und murmelte vor sich hin:

»Der Gute – der Wackere – mein Gott, welch eine glückselige Nacht! – Und ich habe ihn ganz und gar nicht verstanden! O diese Weiber, diese klugen Weiber! Dorette, wenn du recht hättest!«

»Ich habe recht!« ächzte jetzt das alte Fräulein fast böse. »So setze dich doch und nimm Vernunft an. Was soll denn aus uns werden, Bruder? Du bist diese dreißig Jahre lang deinen Liebhabereien und dem Geschäfte nachgegangen; aber ich habe die Bücher geführt und weiß, wie wir stehen. Oh, es reicht noch; aber es reicht auch nur gerade hin – und, Philipp, ich bin überzeugt, er holt nicht nur das Kapital, sondern er kann auch die Zinsen gebrauchen, die Zinsen seit dreißig Jahren!«

»Das vergebe ich ihm so leicht nicht, daß er nicht sofort seinen Wunsch mir klar und deutlich ausgesprochen hat«, murmelte Herr Philipp, der durchaus nicht imstande war, sich zu setzen, sondern der fort und fort auf und ab lief und das Wort der Schwester ganz und gar überhörte. »O August, August, also endlich ist auch für mich die Stunde da, dir auf deinem Wege zum Glücke behilflich sein zu können!«

Von der ganzen Fülle dieser Vorstellung überwältigt, stand er jetzt still, und was er seit nicht zu berechnender Zeit nicht getan hatte, das tat er jetzt: er gab der Schwester einen Kuß – einen langen, herzlichen Kuß, und dann – nahm er sein Licht und ging seinerseits in seine Kammer. Er hatte das Bedürfnis, allein zu sein und sich in der Stille und Dunkelheit der Nacht den frohen nahen Morgen und seine erste Begrüßung mit dem Freunde, dem Obersten Dom Agostin Agonista, auszumalen.

Fräulein Dorette stand im Scheine des Nachtlichtes mit schlaff niederhängenden Armen und vor dem Leibe gefalteten Händen, blickte hinter ihm her und stöhnte:

»Also da sind wir denn! – o diese Mannsleute! Was soll aus uns werden? lieber Herrgott, was soll aus uns werden? – Zu den Pottekudern, seinen neuen Landsleuten, gehe ich für mein Teil nicht mit! Er wäre vielleicht imstande, uns in aller Güte und Zureden mit Haus und Hof mit sich zu schleppen und uns mitten in der Urwildnis hinzusetzen und eine Schnapsfabrik auf meines armen Bruders Namen und Likör zu gründen. Aber er soll mir kommen, der Kehlabschneider, der Scharfrichter, der Menschenschinder, der Henkersknecht. Für alle Freibillette in der Welt geh' ich mit ihm nicht nach seinem Amerika; am Spieße brät er uns doch, wenn er uns drüben hat, und wenn er auch noch so schlau hier am Orte den Gemütlichen, den Vergnügten und den biederen treuherzigen Krieger spielt.«

Der Oberst Dom Agostin Agonista wurde durch das, was im unteren Teile des Hauses ›Zum wilden Manne‹ vorging, nicht in seinem Schlummer gestört. Er schlief abermals weit in den hellen Sonnenschein des Dienstags hinein, und die Flasche mit dem ›Kristeller‹ stand auf seinem Nachttische, und auch das Spitzglas, das dazu gehörte, hatte der alte Soldat handgerecht zugerückt. Aber auf dem Stuhle am Bette saß um halb neun Uhr, seit einer Viertelstunde zärtlich lauschend, Herr Philipp Kristeller, das Erwachen des Gastes, Freundes und Wohltäters erwartend.

#Sobald der Gute erwacht, wollen wir überlegen, in welcher Weise es am angenehmsten und vorteilhaftesten für ihn einzurichten ist«, hatte der Apotheker, auf den Zehen in die Kammer schleichend, geflüstert; und er hatte eine gute Stunde zu warten, ehe der Brasilier die Augen öffnete, sich entsetzlich reckte, gewaltig gähnte und dann, sich überrascht aufrichtend, rief:

»Diablo! bist du denn das, Filippo? Ei, schönsten guten Morgen! aber dieses ist einmal freundlich von dir!«

»Guten Morgen, August. Du erlaubst mir wohl, daß ich dich diesmal wieder August nennen darf; denn ich sitze hier und warte auf dein Erwachen, um dich recht tüchtig abzukanzeln.«

»Abzukanzeln? weshalb? wieso? warum? wofür?«

»Weil du meiner guten Schwester mehr Zutrauen bewiesen hast als mir, August.«

»Ah – – – so!« sprach der brasilianische Gendarmerieoberst ungemein ausgedehnt und legte sich wieder hin – nämlich mit dem Hinterkopfe in seine Kopfkissen. Nach einer Pause erst fügte er etwas gedrückt hinzu:

»Und nicht wahr, du gibst mir recht? Dein Entschluß ist gefaßt; – wir gehen zusammen über das Weltmeer, um goldene Berge für uns und unsere Nachkommen aufzuschütten?!«

Herr Philipp schüttelte melancholisch den Kopf.

»Meine Schwester Dorothea und ich doch wohl nicht, aber – mit dir ist es freilich etwas anderes. Nein, mein teurer August, du wirst wieder allein gehen müssen.«

»Aber das macht mir wirklich einen Strich durch alle meine Berechnungen«, brummte der Kriegsmann verdrießlich.

»Du nimmst unsere besten Wünsche mit hinüber; wir werden in Gedanken stets bei dir sein.«

»Danke!« sagte der Oberst womöglich noch verstimmter.

»Ich habe den Tisch vor deinem Stuhle bereits zurechtgerückt, mein guter August. Meine Hausbücher liegen zu deiner Einsicht bereit; du wirst mit meiner Schwester zufrieden sein, denn sie hat die Bilanz gezogen. Ich hoffe, du wirst finden, daß wir – meine Schwester und ich – unser – mein – dein Vermögen nach bestem Wissen verwaltet haben.«

»Ich komme im Augenblick hinunter, lieber Alter!« rief der Oberst, allen Mißmut sofort abschüttelnd und mit hellem Lächeln das rechte Bein blitzartig unter dem Deckbette vorschnellend und mit dem Fuße nach des Apothekers Reserve-Ehren-Pantoffel auf dem Boden angelnd. »In zehn Minuten bin ich drunten bei dir, Philipp, du bist ein Prachtmensch! und du wirst sehen, daß ich die Welt kenne und auch für dich das Nutzbringendste zu ergreifen verstehe.«

»Wir warten mit dem Kaffee auf dich, lieber August!«

»Mein schönstes Kompliment im voraus an deine Schwester! Im Augenblick bin ich bei euch. Nicht wahr, Philipp, dein Rezept für den ›Kristeller‹ gibst du mir mit hinüber – nicht wahr, Alter?«

Der Erfinder des ›Kristeller‹ versprach's, und nach einer Viertelstunde saß der Oberst Dom Agostin Agonista richtig bei dem Geschwisterpaar im Hinterstübchen, und zwar, ohne alles vorherige Sträuben, im Ehrensessel und vor den Haus- und Rechnungsbüchern der Apotheke ›Zum wilden Mann‹; – Fräulein Dorette Kristeller hatte ihn dazu von Zeit zu Zeit zu fragen, ob ihm noch eine Tasse Kaffee gefällig sei.


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