Wilhelm Raabe
Zum wilden Mann
Wilhelm Raabe

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zehntes Kapitel

Daß sie, der Förster, der Pastor und der Landphysikus Dr. Hanff, ihren freundlichen Wirten gute Nacht oder vielleicht guten Morgen gesagt hatten, stand fest.

Der Apotheker hatte sie mit dem Lichte an die Tür begleitet, und sie standen auf der Landstraße, wo der Doktor seinen Einspänner bereits wartend fand. Sie vernahmen noch, wie der Hausherr drinnen den Schlüssel im Schloß umdrehte, und niemand hinderte sie jetzt mehr, ihren Stimmungen, Gefühlen und Ansichten die Türen weit aufzuwerfen.

Der erste, der das Wort ergriff, war natürlich der Doktor, und er rief von seinem Wagentritt aus:

»Nicht wahr, da hab' ich euch wieder mal einen tollen Gesellen ins Dorf geschleift? He, ihr hattet wohl kaum eine Ahnung davon, daß es dergleichen auf Erden geben könne – was? Mir gefällt der Kerl ausnehmend wohl, und ich freue mich unbändig auf eine fernere und genauere Bekanntschaft – zu Worte wird er einen im Laufe der Zeit ja auch wohl einmal kommen lassen. Wir laden ihn natürlich rund herum der Reihe nach zum Essen ein.«

»Natürlich, und er soll sich dann auch über uns wundern«, rief Ulebeule, und der Doktor fuhr ab auf der Landstraße zur Rechten; er hatte ein gut Stück Weges zu fahren, ehe er seine Behausung erreichte.

Die beiden anderen wendeten sich links, und der geistliche Herr trug vorsichtig seine Taschenlaterne voran. Wo ihre Wege aber schieden, standen sie noch einmal still und sahen nach der Apotheke ›Zum wilden Mann‹ zurück. Das Haus lag dunkel da unter dem wieder dunkel und schnell ziehenden Gewölk. Obgleich der Wind sich ein wenig gelegt hatte und die Sterne sichtbar waren, trieb sich noch genug bedrohliches Gedünst am Himmelsgewölbe um, und die Pappeln in der Nähe der Apotheke schwankten wie betrunkene Gespenster.

»Mir wird jenes Haus dort nie wieder so aussehen, wie ich es bis zum heutigen Abend gekannt habe«, sagte der Pastor. »Was sagen Sie, lieber Freund?«

»Das weiß der Teufel!«

Der geistliche Herr zog ein wenig die Achseln zusammen.

»Sie sollten dieses böse Wort vorsichtiger gebrauchen, Bester«, meinte er. »Freilich, freilich, nach dem, was wir eben vernommen haben – wer kann da sagen – wer da seine Hand im Spiele gehabt hat? Ich lobe mir Zustände, die auf besseren Grund und Boden gebaut sind als – – kurz, was halten Sie vom heutigen Abend an von den Umständen unseres Freundes Kristeller?«

»Der Alte ist mir lieber denn je geworden!« rief der Förster voll Enthusiasmus. »Das nenn' ich einen braven Mann und einen guten Menschen! Wenn einer es verdiente, diesem famosen Scharfrichter und brasilianischen Generalfeldmarschall zur richtigen Stunde auf seinem Wege zu begegnen, so war's unser Philipp. Die Welt oder nur ein Stück davon würde er freilich nicht erobert haben, aber was man ihm gibt, das nimmt er mit Bescheidenheit und Dankbarkeit, und für unsere Gegend ist er doch wirklich diese dreißig Jahre durch ein Segen gewesen.«

»Und der andere – dieser andere – dieser Dom – Dom – Agonista?!«

»Hören Sie, Pastore, den muß man sich erst bei Tage besehen, ehe man ein Urteil über ihn abgeben kann; bei Lampenlicht geht nichts in der ganzen weiten Welt über ihn! das ist ein Prachtkerl; – wahrhaftig, solch ein Gesell aus Schmiedeeisen und Eichenholz rückt einem nicht alle Tage an den Ellenbogen. Was wollen Sie – ich glaube, ich glaube, mich hat lange nichts so geärgert, als daß er mir nicht auf der Stelle angetragen hat, Brüderschaft mit ihm zu machen.«

»Da bin ich denn doch in der Tat ein wenig weichlicher als Sie, lieber Ulebeule«, sagte der Pastor mit einem leisen Schauder. »Mir ist dieser plötzlich wie aus dem Boden aufgestiegene Mensch entsetzlich! Die Kaltblütigkeit, mit welcher er aus nichts in seinem Leben ein Hehl machte, griff mir in alle Nerven. Wenn ich zuviel Punsch getrunken haben sollte, so bin ich nicht schuld daran, sondern dieser – dieser – dieser ungewöhnliche Erzähler. Wehren Sie sich einmal gegen ein fortwährendes Einschenken, wenn es Sie fortwährend heiß und kalt überläuft! Hatten Sie wirklich vorher eine Ahnung davon, daß es solche Lebenswege und Fata in unseres Herrgotts Welt geben könne?«

»In Büchern habe ich Schnurrioseres gelesen; aber hier hatten wir freilich einmal das Wirkliche und Wahrhaftige in natura. Heiß und kalt hat mich seine Historie nicht gemacht, aber die Pfeife ist mir ziemlich oft darüber ausgegangen. Käme einem jeden Abend ein solcher Kerl über den Hals, so würde einem das Schmauchen auf die allernatürlichste Art abgewöhnt. Außerdem daß ich einen brasilianischen Obersten noch niemals mit eigenen Augen gesehen hatte, erzählte dieser Oberst mehr als brasilianisch gut, und noch dazu ganz und gar nicht aus dem Jägerlateinischen. Das muß ich kennen und hätte es ihm beim ersten Flunkerwort abgespürt und es ihm merken lassen, nämlich moralisch mit dem Hirschfänger übers Gesäß: Hoho, das ist für den gnädigsten Fürsten und Herrn! Hoho, das ist für die Ritter und Knecht'! Dies ist das edle Jägerrecht!«

»Ulebeule?!« rief der Pastor klagend-vorwurfsvoll.

»Ja, ja, es ist wahr, 's ist spät, und es zieht hier arg«, rief der Förster, »aber die Mohrenschiffgeschichte allein hätte doch auf jedem Orgelbilde abgemalt werden können; – bei allem in Grün, man kommt sich ganz abgeschmackt und verrucht verledert und in seinem Loche versumpft vor, wenn man es sich überlegt, was man seinerseits hier am Orte vor sich brachte an Erfahrung, während der sein Gewölle um so viele Nester herum ablegte.«

»Ich danke dem Himmel dafür, daß er mich hier im Frieden grau werden ließ. Meine Natur hätte nicht für ein solches Dasein gepaßt.«

»Das brauchen Sie mir nicht schriftlich zu geben«, lachte der Förster; »aber hat uns nicht gerade dieses kuriose, ins Kraut geschossene Menschenkind bewiesen, daß niemand weiß, was in ihm steckt und was er unter Umständen aus sich herausziehen kann? O je, wie oft hab' ich in meinen jungen Jahren aus Angst oder Verdruß in die weite Welt hinauslaufen wollen! Nach einem solchen Erzählungsabend begreift man weniger als je, weshalb man es damals nicht ausführte und seinen Schulmeistern, Eltern und sonstigen Vorgesetzten durch die Lappen ging.«

»Wir werden alle unsere Wege richtig geführt und sind in guten Händen«, sprach der geistliche Hirte und trat leider gerade in diesem ganz unpassenden Moment in eine etwas tiefere Pfütze, in der er ohne Gnade hätte umkommen müssen, wenn sein handfester Begleiter nicht noch gerade zu rechter Zeit zugegriffen hätte.

»Bitte ein andermal um denselben Dienst«, sprach Ulebeule gravitätisch; sonst aber brachte dieser Zufall ihr jetziges Gespräch über das Haus Kristeller und den kaiserlich brasilianischen Gendarmerieobersten Dom Agostin Agonista zu einem Abschluß.

Einiges wurde jedoch noch gesprochen, ehe der Pastor geradeaus seiner Pfarre zuwanderte und der Förster sich links in den dunkeln Hohlweg schlug, der zu seiner Försterei führte.

»Wir sehen uns doch morgen? Dieses alles kann doch gewiß nicht passiert sein, ohne daß man ein weniges mehr davon sieht und hört und sich darüber ausspricht!«

»Man fühlt freilich das Bedürfnis«, meinte der Pastor, »und ich meine, wir treffen wohl irgendwo zusammen. Man ist es auch unserm guten Apotheker schuldig, daß man sich nach seinem Befinden erkundige.«

»Und dem Oberst nicht weniger.«

»Gewiß, gewiß. Nun, wir werden ja sehen. Und nun gute Nacht oder vielmehr guten Morgen, mein teurer Freund. Wir sind selten so lange beieinander geblieben als am heutigen Abend.«

»Und immer war's noch zu früh zum Aufbruch, und ich wäre sofort bereit, diesen wilden Indianer mit der ersten Dämmerung tauschlägig zu spüren. Aber der Kerl schnarcht – ich bin fest überzeugt, er liegt im Bau und schnarcht wie kein zweiter Mensch mit gutem Gewissen auf zwanzig Meilen in der Runde. Sapperlot, sowie ich mich aufs Ohr gelegt habe, fange ich an, vom Blutstuhl und diesem brasilianischen Landdragoner-General zu träumen, und – morgen – morgen – mache ich – doch Brüderschaft mit ihm!« – –

So sprach also die Welt! – Wenn eine Million Zuhörer in dem bildervollen Hinterstübchen der Apotheke ›Zum wilden Mann‹ dem alten Philipp Kristeller und dem Obersten Agostin Agonista zugehört haben würde, so würde diese Million denkender und redender Wesen kaum ein mehreres und anderes als der Pastor Schönlank und der Förster Ulebeule bemerkt haben. Der Seelenaustausch in diesen Wendungen genügte übrigens auch vollkommen: wenden wir uns zu dem greisen Geschwisterpaar in der Apotheke ›Zum wilden Mann‹ und zu seinem eigentümlichen Gaste zurück.


 << zurück weiter >>