Wilhelm Raabe
Zum wilden Mann
Wilhelm Raabe

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel

Das kahle Gezweig kratzte nicht mehr so ärgerlich wie vorher an den Fensterscheiben des Hinterstübchens in der Apotheke ›Zum wilden Mann‹. Der Förster Ulebeule hatte den Kopf in die Nacht hinausgesteckt, ihn zurückgezogen und den im Zimmer Anwesenden die tröstliche Versicherung gegeben:

»Es klärt sich richtig auf. Man sieht die Sterne durchs Gewölk. Der Wind hat ordentlich über unseren Köpfen und Schornsteinen aufgeräumt. Ich kenne das und wette, daß wir morgen einen ganz klaren Tag haben werden.«

Dies fiel in die Pause nach dem wundervollen Ereignis und Wiederzusammenfinden in der Apotheke ›Zum wilden Mann‹.

Philipp Kristeller hatte bis jetzt die Hand seines Wohltäters noch nicht losgelassen. Die beiden alten Freunde saßen nebeneinander, und der Oberst hielt spielend in der Linken den Brief, den er vor einunddreißig Jahren in der Lebensverzweiflung geschrieben und mit 9500 Talern in Staatspapieren für den botanischen Studiengenossen beschwert hatte. Jetzt zum erstenmal entzog er die rechte Hand dem Freunde vom Blutstuhle, warf das letzte Endchen seiner Zigarre hinter sich und zog eine kurze Pfeife heraus, die er aus einem sehr exotisch, sehr indianisch aussehenden Tabaksbeutel füllte und plötzlich – ehe er durch einen hastigen Griff und Ruf des Apothekers daran gehindert wurde, in Brand setzte. Ehe er daran gehindert werden konnte, hatte Dom Agostin Agonista ein bedeutendes Stück von seinem verjährten, wild-phantastischen Schreiben abgerissen, es regelrecht zu einem Fidibus zusammengedreht und denselben zu dem Zwecke verwendet, zu welchem man eben einen Fidibus gebraucht. In demselben Moment fing er gelassen und gemütlich an, seine Geschichte zu erzählen, und sie ging gut an, nämlich mit den Worten:

»Nicht wahr, Doktor, wer noch keinen Menschen umgebracht hat, der wird sich nur schwer in die Gefühle eines, der's bereits fertig brachte, hineinfinden. Erschrecken Sie nur nicht zu arg, meine Herrschaften; ich habe mich allmählich hineingefunden – es lernt sich alles in der Welt und wird zur Gewohnheit, das Hängen und Erschießen wie – das Köpfen. Ich stamme aus einem der anrüchigsten Geschlechter Deutschlands und hatte drei Tage vor dem Zusammentreffen mit meinem Freund Philipp Kristeller auf dem Blutstuhle getan, was ich mußte. Um es kurz zu sagen, so hatte ich, unter Billigung und Beistand von Staat und Kirche, einem nichtsnutzigen Mitbruder im Wirrwarr dieser Welt auf offenem Felde und vor zehntausend Zuschauern den Kopf abgeschlagen. Erschrecken Sie nicht, bestes Fräulein – auch das ist eine verjährte Geschichte.«

Ja, was half es zu sagen: Erschrecken Sie nicht! Sie fuhren doch alle zusammen, selbst Herr Philipp Kristeller.

»Das Amt, das meine Vorfahren seit mehr als zweihundert Jahren in ununterbrochener Geschlechtsfolge verwaltet hatten – rühmlich verwaltet hatten, war eines Tages auf mich übergegangen, und ich habe es ausgeübt – einmal! – wie gesagt, drei Tage vor jenem Anfall vom Veitstanz, in welchem der da mich auf dem Blutstuhl fand. Sieh, Philipp, das war es! und deine Johanne hatte wohl recht, wenn sie schon lange vor jenem letzten Zusammentreffen dich auf mancherlei an mir aufmerksam machte, was ihr nicht gefiel. Ach Gott, ich wollte, ich könnte es dem armen Kinde heute abend auch sagen, wie gut sie mir stets gefiel. Sie ist also tot – ein Menschenalter tot? Ach Philipp, Philipp, du hast es kaum wissen können, wieviel Sonnenschein von ihr ausging, wo sie ging und stand, und wie schwarz und scheußlich mir die Welt in dem schönen Lichte vorkam. Auch verjährt! Da wir noch am Leben sind und es uns wohlgeht, so wollen wir von uns reden. – Ich war wunderlich erzogen worden. Mein Großvater August Gottfried Mördling hatte das schlimme Erbamt noch im reichlichsten Maße und als finsterer Enthusiast bekleidet; mein Vater hatte dagegen das Glück gehabt, daß in seine ganze, freilich nicht sehr lange Lebenszeit nicht ein einziges Mal die unangenehme Notwendigkeit fiel, die Kammer im Oberstock des Hauses aufzuschließen und mit dem Auge und dem Finger an der Schärfe des breiten Schwertes mit der Jahreszahl 1650 hinauf und hinunter zu fahren. Von meiner Mutter weiß ich wenig zu sagen. Sie war eine kränkliche, verdrossene Frau, und ich habe nur eine Haupterinnerung von ihr, nämlich daß sie eine ausgebreitete Geflügelzucht trieb und das Schlachten der Hühner, Puten, Enten, Tauben und Gänse stets selber besorgte, und zwar mit großer Kunstfertigkeit und einer gewissen wilden Energie. Mein Vater, ein sanfter, gebildeter Mann, der Schiller verehrte, Goethe verstand, für Uhland schwärmte und mich erzog, ging bei solchen Exekutionen stets mit raschen Schritten vom Hofe oder aus der Küche weg, indem er murmelte: O du grundgütiger Himmel! – Mein Vater, Alexander Franz Mördling, war auch gereist, sowohl als Kunst- wie als Naturliebhaber, er war in Frankreich, England und Holland gewesen, sprach recht gut englisch und französisch und erzog mich nur zu gut. Er machte auch mich zu einem gebildeten Menschen, der über Sonnen- und Mond-Auf- und –Untergänge zu reden wußte und vor allen Dingen ein Herbarium anzulegen verstand. Als die echten, richtigen Autodidakten machten wir uns beide unsere Welt zurecht, eine Welt, aus der keiner von uns beiden berufsmäßig herausgerufen werden durfte, ohne halb verrückt zu werden und ganz zugrunde zu gehen. Unser Erbhof lag natürlich außerhalb der Stadt, versteckt im Grün, von uralten Linden überschattet, durch hohe Mauern und ein gewaltiges Tor geschützt – ein Haus aus dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts, warm im Winter, kühl im Sommer – ein Generalsuperintendent hätte drin wohnen und seine Predigten abfassen können. Der Schall und Spektakel der Leute draußen drang kaum zu uns; und wenn mein Papa mir unsere eigentlichen Zustände keineswegs vorenthielt, so machte die Kenntnis davon durchaus keinen niederdrückenden Eindruck auf mich. Es lag für den Knaben sogar ein Reiz darin – man war allein, aber man war auch etwas, was die anderen nicht waren – liebes Fräulein, man saß wie ein geheimnisvoller Affe auf der Mauer und grinste die Jungen drüben jenseits des Grabens, die nicht zu grinsen wagten, sozusagen unheimlich-vornehm an. Sie glauben es mir nicht, Fräulein Dorette, aber es verhielt sich doch so. Da mein Vater in seiner Abgeschiedenheit erträglich behaglich und zufrieden seine Tage verbrachte, so hatte ich um so weniger Grund, mich über mein Schicksal zu beklagen. Wir hatten durch Sommer und Winter unsere kleinen Freuden – und Matthias Claudius würde sich sicherlich wohl in unseren Beschäftigungen und träumerischen Grübeleien und Liebhabereien gefühlt haben. Ja, es fällt mir erst jetzt bei: vom alten Wandsbecker Boten hatte mein Alter das meiste in seiner Natur – er konnte es sicherlich nicht ahnen, welch ein Meister Urian in seinem Söhnchen steckte. Aber endlich kam ein Winter, in dem mein Vater bei hohem Schnee und hartgefrorenem Boden mit dem Tode abging; und ich – ein mündiger, erwachsener Mensch, der allem, was außerhalb unserer Hofmauer lag und vorging, gänzlich unmündig gegenüberstand, ihn sterben sah.«

An dieser Stelle stand der Erzähler, der Oberst Dom Agostin Agonista, auf und ging zum Fenster, um nach dem Wetter zu sehen.

»Es ist das einzige, was einem bei außergewöhnlich unruhigen Gemütsbewegungen hilft«, sagte er zurückkommend und seinen Stuhl wieder einnehmend. »Übrigens hat der Herr Förster recht; es wird klar, und wir werden morgen wohl einen schönen Tag haben. Wo war ich doch stehengeblieben? Ja so, beim Tode meines Vaters und dem, was damit zusammenhing. Ich muß die Herren und das Fräulein also noch eine Weile inkommodieren.«

Sie hatten ihm alle, bis auf den Apotheker, starr und mit immer noch hoch emporgezogenen Augenbrauen auf den Rücken gesehen, den er ihnen zudrehte, als er aus dem Fenster guckte. Als er sich umwendete, wandte ein jeder, nur der Apotheker nicht, die Augen woanders hin und tat so unbefangen als möglich.

»Das nennst du uns inkommodieren, August?« fragte Philipp Kristeller vorwurfsvoll zärtlich.

»Augustin – Agostin – Agostin Agonista, wenn es dir einerlei ist, alter Bursch«, lachte der brasilianische Oberst und erzählte weiter:

»Wir waren allein im Hause, mein Vater, ich und eine alte Hexe von Magd, die uns beide seit meiner Mutter Tode in der raffiniertesten Knechtschaft hielt. Mein Vater hatte schon längere Zeit gekränkelt, sich selber bedoktert und war nun mit seiner Kunst zu Ende. Lieber Doktor, der städtische Arzt, den wir zum Schluß herbeiriefen, konnte auch weiter nichts tun als die Achseln zucken – und, Freund Philipp, in der Nacht vor seinem Abscheiden überlieferte mein Vater mir die Schlüssel zu dem Archive unseres Hauses! Drei Tage nach seinem Begräbnis öffnete ich den schwarzen Eichenschrank, in welchem die seit fast zweihundert Jahren recht ordentlich geführte Chronik unserer Familie aufbewahrt wurde, und trat damit in die Krisis ein, während welcher mein alter Philipp da und seine so junge und schöne Johanne meine Bekanntschaft machten und so viele Gründe hatten, sich über mich zu verwundern. Ich fand in dem Schranke ein von meinen Vorvätern zusammengeschriebenes dickleibiges Manuskript in schwarzem Lederband mit Messingecken und Haspen. Sie hatten regelrecht Buch geführt, und es war ein recht nettes Hauptbuch draus geworden mit allen Zahlen und sonstigen Belegen! Und ich las und rechnete es nach bis auf meinen Herrn Großpapa hinunter – ich las es vom Anfang bis zum Ende, Wort für Wort, Datum für Datum, Zahl für Zahl; und als ich in der dritten Nacht gegen zwei Uhr morgens von der greulichen Lektüre aufstehen wollte, da konnte ich nicht. Ich saß fest im Stuhl, gerädert von unten auf, und draußen war es grimmig kalt – der Hofhund heulte und weinte vor Frost, und ich fühlte den Frost gleichfalls bis in die Knochen, und dazu, halb wahnsinnig, mein Leben, Fühlen, Denken, Meinen abgebrochen, wie wenn ein Stock übers Knie abgebrochen worden wäre. Meine grimmige Hexe von Haushälterin hatte mich am Ofen aufzutauen wie ein steifgefrorenes Handtuch, und es währte länger als eine Woche, ehe sich die allernotwendigste animalische Wärme wieder in mir bemerkbar machte. Ich lag länger als eine Woche im Bett und klapperte geistig und körperlich mit den Zähnen; dann aber lief ich hinaus und lief mich warm durch das winterliche Land – blieb vierzehn Tage für diesmal vom Hause weg und suchte mir zu der Wärme auch den Schlaf zu erlaufen, erlief mir jedoch nur die scheußlichsten aller Träume. Es ist ein Wunder, daß keiner es mir heute ansieht, was für ein Narr ich damals war! Nach meiner Rückkehr saß ich bis zum Frühjahr als ein Idiot am Herde, und ohne den Frühling wäre ich sicherlich als ein Idiot im Landesirrenhause elend und erbärmlich verkommen; und eigentlich, lieber Philipp, habe ich über jene Periode meines Daseins nichts mehr zu sagen. Ich fuhr in meinem Einspänner über die Grenze, mietete in einem Dorfe eurer Provinz ein Absteigequartier und ging dann in die Berge – da trafen wir uns, und du hieltest mich für einen übergeschnappten Privatgelehrten, dem seine Freunde seiner Gesundheit wegen geraten hatten, sich ein wenig auf die Botanik zu legen.«

»Ich habe meinen Freunden bereits vorhin mitgeteilt, mit welchem Respekt mich deine Wissenschaft erfüllte«, rief der Apotheker ›Zum wilden Mann‹, und sie nickten rund um den Tisch und sprachen:

»Ja, ja! o freilich!«

Der Oberst Dom Agostin Agonista aber sah selbst in dieser Nacht zum ersten Male sehr ernst, ja fast böse und finster drein und sagte:

»Ich würde dir im Laufe der Zeit meine Umstände wohl klarer erschlossen haben, Philipp, ich würde dir alles von mir und meinem Leben erzählt haben; aber dein Liebeswesen hat mich dran gehindert und mir den Mund zugehalten. Lieber Junge, wenn mir etwas die Welt noch mehr verleidete, so war das deine Braut. Bei Gott, ich habe euch oft gehaßt wegen eurer Seligkeit – o Philipp Kristeller, in mehr als einer Stunde hätte ich euch mit Vergnügen eine Fallgrube für eure Zärtlichkeit graben können. Wäre das Eifersucht gewesen, so wär's schlimm genug gewesen; aber es war noch schlimmer, es war Neid, der nichtswürdige zähneknirschende Neid. Ach, Freund, Freund, damals hatte ich wahrhaftig nicht die Absicht, dir im Leben auf die Beine und, so weit ich es konnte, zu einer Frau zu helfen! Mußte da erst das Ärgste kommen, um mir den Sinn vollständig zu wenden, und das Ärgste kam – gottlob, sage ich heute! – Von einer meiner vorgeblichen botanischen Rasereien ins Wilde zurückkehrend, fand ich einen Brief zu Hause, ein Schreiben mit dem Siegel der Oberstaatsanwaltschaft drauf. Ich wurde durch dieses Reskript umgehend nach der nächsten Kreisstadt beordert, und was die hohe Behörde da von mir verlangte und zu verlangen berechtigt war, das können die Herren und die gütige Senhora sich sicher selber vorstellen; ich habe gewiß nicht nötig, mit dem Finger die Richtung anzudeuten. Man legte mir ein vom Landesherrn bereits unterzeichnetes Todesurteil vor, und ich hatte noch drei Wochen Zeit, mich und meinen Patienten auf die mir obliegende Operation vorzubereiten. Während dieser drei Wochen sahest du mich nicht, Philipp Kristeller; aber du fandest mich drei Tage nach vollbrachtem Amtsgeschäft auf der Oberklippe. Ja, ja, meine Herren, nach getaner Arbeit ist gut ruhen, und auch das war ein Erholungsausflug! – Ich hatte meine Sache gut gemacht und war gelobt worden, von den Behörden, den Zeitungen und dem zuschauenden Pöbel; aber ich trug schwer an der Ehre. Buchstäblich – ich trug meinen still und um einen Kopf kürzer gemachten Patienten, minus diesen Kopf, auf dem Rücken, und ich hatte ihn eben auf den Blutstuhl hinaufgeschleppt, als mein Freund Philipp die Klippe von der anderen Seite her erkletterte. Seht, es ist immer von den Gefühlen des armen Sünders auf dem Hochgerichte die Rede; aber diesmal waren auch die des Scharfrichters bemerkenswert – reden wir nicht davon: ich trug, wie gesagt, den Rumpf des armen Teufels von dem Gerüste hinunter; er hing mir auf dem Rücken, die Hände schleiften auf dem Boden nach, und ich hielt auf jeder Schulter einen Fuß im blauen wollenen Strumpfe gepackt; so hab' ich ihn auf den Blutstuhl hinaufgeschleift; und als du mich fandest, Philipp Kristeller, auf dem Felsen liegend, das Gesicht zu Boden gedrückt, da saß der Halunke auf mir, kopflos – hatte mir eine Kralle in das Nackenhaar gewühlt und sang sein diabolisches Triumphlied über mich – ein Bauchredner sondergleichen; aber höchst widerlich, selbst heute abend noch, nach einunddreißig Jahren ruhigeren Nachdenkens und kühlerer Überlegung!«


 << zurück weiter >>