Wilhelm Raabe
Zum wilden Mann
Wilhelm Raabe

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Dreizehntes Kapitel

Der Förster, welcher in diesem Augenblick in die Tür trat, vernahm, was besprochen wurde, und redete sofort mit den übrigen heftig und dringend auf den alten, tapferen, südamerikanischen Krieger ein. Dieser aber wehrte sich stumm nur durch Gesten, zu gleicher Zeit das ihm kredenzte Spitzglas mit dem Kristellerschen Magenbitter gegen das Licht haltend und durchäugelnd.

Jetzt setzte er den Becher an die Lippen – schlürfte – hielt ein – probierte noch einmal mit tieferer Andacht – goß den Rest mit einer gewissen wilden Inbrunst die Kehle hinunter – reichte sofort das Glas zu neuer Füllung aus der dickbäuchigen grünen Flasche hin und rief:

»Bei meiner Seele, das ist ja wirklich endlich – endlich einmal ein Getränk!«

»Nicht wahr?« fragten der Förster und der Doktor ernsthaft, während der Apotheker ›Zum wilden Mann‹ verschämt-glücklich der Schwester über die Schulter lächelte.

»Bei den Göttern, das ist ein Getränk, Philipp! Und du bist wahrhaftig davon der Erfinder? Und du hast das Rezept dazu unter Schloß und Riegel? – Und du sitzest hier noch immer in diesem verlorenen Winkel und drehst dem Doktor da seine Pillen und rührst ihm seine Mixturen zusammen? – Fräulein Kristeller, ich erbitte mir sogleich nach Tisch ein Privatgespräch! Meine Herren, dies ändert die Sachlage vielleicht; lieber Forstmeister, im Laufe des Nachmittags werde ich mir erlauben, Ihnen Nachricht zu geben, ob ich Ihre Einladung annehmen kann oder nicht.«

»Bravo!« riefen der Landphysikus und der Förster; der Apotheker sagte:

»Du bleibst also ohne Bedingung, Lieber; und es war auch durchaus nicht notwendig, uns einen solchen Schrecken in die Glieder zu jagen. Es war nicht freundschaftlich und brüderlich, Augustin.«

»Ich bitte noch um einen ›Kristeller‹«, erwiderte der Oberst. »Philipp, auf dein Wohl! Ich versichere dich, ich habe dich lieb gehabt; aber jetzt tritt der Respekt zur Liebe – meine Herren, Sie haben diese dreißig Jahre durch einen großen Mann in Ihrer Mitte gehabt, ohne es zu wissen. Philipp, dein Schnaps ist wunderbar, was aber meine Abreise betrifft, so ist unsereiner stets mit Gewehr über auf dem Marsche, und man muß eben ein Weib nehmen und ein bürgerlich Geschäft treiben, um das Stillsitzen zu erlernen. Bei den hohen Göttern, dieses hier ist vielleicht noch rentabler als Fray Bentos! Kristeller, wir werden drüben den feurigen siebenten Himmel durch einen Destillierkolben auf die Erde herunterholen. Fräulein Dorette, wir werden die Sonne und den Blitz auf Flaschen ziehen und unsere Preise danach stellen. Kristeller und Agonista – Sao Paradiso – Provinz Minas Geraes, Kaiserreich Brasilien! Mit diesem Getränk unter dem Arm kommen wir durch bei allen Nationen rund um den Erdball. Wir kommen durch, Senhora, und wie gesagt, nach Tisch erbitte ich mir ein behagliches Plauderviertelstündchen im Hinterstübchen, Senhora Dorothea.«

Sie lachten alle, nur das Fräulein nicht. Was das Lachen des erfindungsreichen Hausherrn anbetraf, so machte das einen unbedingt ratlosen und hilflosen Eindruck. Ein Mensch aber, der ein Leben hinter sich hatte, wie der Oberst Agonista, durfte in der Tat die Erde mit anderen Augen sehen und mit anderen Händen greifen als die Hausgenossenschaft und die Hausfreunde der Apotheke ›Zum wilden Mann‹, und konnte auch, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden, von den anderen ganz naiv verlangen, daß man sich auf seinen Standpunkt stelle. Der Oberst Dom Agostin Agonista konnte wirklich seinen festen unerschütterlichen Entschluß darlegen, noch einmal, und zwar nach einem Menschenalter, das Glück und Schicksal seines Freundes Philipp Kristeller auf die andere Seite zu drehen, und zwar ohne auf irgendwelche Einwürfe und Gegenvorstellungen zu hören.

Da sich jetzt die Hausflur mit allerlei Kunden füllte, so begleitete der tapfere alte Soldat allein den Förster und den Doktor auf ihrem Wege ins Dorf zurück. Er ging zwischen ihnen, jeden unterm Arme haltend, und wer den dreien begegnete, stehen blieb und ihnen nachsah, der mußte es zugeben, daß jeder von den dreien in seiner Art »gut« war. Dazu hielt sich aber das Gespräch der Herren am alten Philipp und seinem ›Kristeller‹; und selbst auf diesem kurzen Wege erhielt der brasilianische Gendarmerie-Oberst noch einige recht nützliche Notizen über die Apotheke ›Zum wilden Mann‹ und kam, heiter pfeifend und die reine, frische Herbstluft wohlig einschlürfend, zurück – gerade recht zum Mittagessen.

Man speiste; man hielt Siesta – der Oberst die seinige diesmal in seinem Ehrensessel im bilderbunten Hinterstübchen.

Punkt drei Uhr trat er erfrischt wiederum in die Offizin, um noch einen ›Kristeller‹ zu nehmen. Dann wußte er den Weg in die Küche schon ganz genau und brauchte keinen Führer auf demselben.

»Fräulein Dorette«, sagte er, »jetzt wäre der günstige Augenblick vorhanden. Soeben habe ich den guten Philipp auf seine Materialkammer geleitet, und wir beide, liebes Fräulein, haben hier unten das Reich allein. Kinder, Kinder, ich freue mich kindlich, so familienfreundlich mit euch zusammen zu sein! Und wir bleiben eine Familie – nicht wahr, wir bleiben eine Familie? – Es ist zu prächtig! Da draußen der deutsche Herbsthimmel, hier innen die deutsche Ofenwärme und – das liebe Brasilien wie das Land der Verheißung in der Ferne! Senhora, ich erlaube mir, Ihnen meinen Arm anzubieten.«

Er führte richtig die alte, ängstlich über die Schulter zurückblickende Dame in ihre eigene Stube, des Hauses Ehrengemach, und verblieb mit ihr eine gute halbe Stunde drinnen, und zwar in dringlichsten Verhandlungen; während der Bruder, um seiner Erregungen wenigstens etwas Meister zu bleiben, in seiner Materialkammer sämtliche Kräutersäcke auf- und abtürmte und sämtliche Schubladen aufschob und zuschob.

Eine halbe Stunde kann selbst dem phlegmatischsten Menschen unter Umständen sehr lang erscheinen; das ist eine bekannte Wahrheit, muß hier jedoch dessenungeachtet wiederholt werden. Dem Apotheker ›Zum wilden Mann‹ erschien der kurze Zeitraum sehr lang, Fräulein Dorette hingegen ging er ungemein rasch vorüber.

Schon öffnete der Oberst ihr höflichst die Tür ihrer Putzstube und – ließ sie heraus. Er blieb drin! – Sie hielt sich am Türpfosten wie von einem Schwindel befallen; – sie hatte dem braven Kriegsmann einen Knicks machen wollen, allein es war ihr nicht möglich gewesen. Während sie aber draußen an der Wand lehnte und wie aus plötzlich erblindeten Augen um sich zu sehen strebte, war der Oberst drinnen leise pfeifend zum Fenster gegangen und hatte es geöffnet und sich dreingelegt.

Da lag er, schwer auf den Ellenbogen, stieß einen schweren Seufzer aus und blickte die Landstraße entlang, zur Rechten und zur Linken hin.

Das Fräulein draußen legte jetzt beide Hände an die Schläfen und stieß gleichfalls einen Seufzer aus und stöhnte dazu:

»Großer Gott, ganz wie ich es mir gedacht hatte! o du lieber Gott, mein armer, armer Bruder!«

Von seinem Fenster aus rief der Oberst einen vorbeilaufenden Dorfknaben an:

»Heda, miin Jung', kennst du den Herrn Förster Ulebeule, und weißt du, wo er wohnt?«

»Na?!« fragte der Bengel an der Hauswand empor, entrüstet ob der Naivität der Frage.

»Gut, mein Sohn. Ich warte hier mit fünf Groschen in der Hand auf dich. Lauf einmal zum Herrn Förster und bestell' einen schönen Gruß von dem fremden Herrn in der Apotheke, und es würde dem Herrn Apotheker und dem fremden Herrn ein Vergnügen sein, am Montag bei dem Herrn Förster zu essen.«

Der Knabe vom Gebirge rannte und sah im Rennen verschiedene Male zurück, ob der weißköpfige Herr mit dem braunen Gesichte im Fenster auch wirklich Wort halte und mit dem gebotenen Honorar präsent bleibe. Drunten im Hinterstübchen, im Ehrensessel des brasilianischen Obersten, saß Fräulein Dorette Kristeller, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und das Gesicht auf die Hände und ächzte:

»Mein Bruder, mein armer Bruder!«


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