Wilhelm Raabe
Sankt Thomas
Wilhelm Raabe

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11.

Das letzte Sandkorn

Zum letzten Male stieg Camilla Drago vom Turme Abreojos herab, als die Dunkelheit wieder das Meer ihren Augen entzog. Der Turm war dem Einsturz nahe; zertrümmert war jede Mauer des Kastells, landwärts wie seewärts; von Schutt und Mauerwerk war der tiefe Graben, welcher das Schloß von der Brandstätte der Stadt trennte, halb ausgefüllt, und Mynheer van Wena hatte bitter recht mit seiner Behauptung, daß die letzte Stunde der Burg von Pavaosa geschlagen habe. Die Flotte von Coruña war auch heute nicht gekommen; keine Botschaft vom Kapitän Giralto war mehr zu den Belagerten gelangt.

»Wir sind verloren!« sagte Camilla, als sie die halb verschüttete Treppe des Turmes hinabstieg. »Es ist keine Rettung mehr.«

In dem Schloßhofe brannte ein großes Feuer und warf seinen flackernden Schein auf die Wände, die Wölbungen und Bogengänge, auf die Gestalten und Gesichter des zusammengedrängten Volkes. Ein schwüler Pestduft fand keinen Ausweg aus dem umschlossenen Raume; Wolken giftiger Mücken hingen um die Flammen, und soviel ihrer im Feuer vergingen, so viele quollen von neuem aus der Nacht hervor. Die spanischen und portugiesischen Kriegsleute und Kolonisten, soviel ihrer und ihrer Frauen und Kinder noch übrig waren, saßen und standen, kauerten und lagen in einem Kreise, und auch sie bis auf die Unmündigen und Säuglinge wußten alle, daß die Flotte von Coruña nicht mehr zur rechten Zeit kommen könne, daß es keine Hülfe mehr für sie auf Erden gebe. Das Mark in ihren Gebeinen war verzehrt, ihr Schießpulver zu Ende, der Brunnen dem Versiegen nahe. Die einen beteten, die andern rangen in stummer Verzweiflung die Hände, die Tapfersten und Stärksten knirschten mit den Zähnen; sie waren alle in diesen Ring des Jammers hinabgestiegen von den Mauern, und nur die Señora Rosamunda Bracamonte neben dem Señor Pedro Tellez und die übrigen Befehlshaber, vereinzelt hie und da, lehnten an den zerschmetterten Brüstungen – die letzten Wächter von Pavaosa.

Langsam schritt Doña Camilla Drago in den Lichtschein des Feuers, und die bärtigen Männer, die angstgeschlagenen Weiber, die armen Kinder sahen auf sie, als erwarteten sie ein Wunder von ihr, ein Wort, ein Lächeln, welches gleich dem Nicken eines wundertätigen Heiligenbildes das Entsetzen in den Jubel der Erlösung und Errettung verwandeln werde.

Aber Camilla schlug den Blick nieder und sprach:

»Wir müssen sterben, der König kann uns nicht helfen; es ist nichts um uns als das öde Meer, die Nacht und der Feind; – über uns ist Gott; lasset uns sterben als katholische Christen! Es ist der Wille Gottes, der uns auf die Insel geführt und diese Stunde über uns verhängt hat.«

Sie schrieen nicht laut auf, sie zerrauften nicht die Haare und zerschlugen nicht die Brust; sie senkten nur die Köpfe tiefer, die Kranken zogen ihre Decken mehr über sich, und die Mütter drückten ihre Kinder fester an sich.

»Wo ist die Señora Bracamonte, Señor Lodoiro?« fragte Camilla.

»Sie hält mit dem Kommandanten auf der Bastion des Mohren Wacht«, war die Antwort, und das Fräulein suchte die alte Wärterin und Freundin an dem angegebenen Orte. Sie fand sie allein; Pedro Tellez hatte sich eine andere einsame Stelle gesucht, um seine Rechnung abzuschließen, ehe ihm der niederländische Sturm die Zahlen durcheinanderwerfen würde.

Camilla küßte die treue, tapfere Greisin.

»Bald werden wir zum erstenmal eine rechte Heimat haben, aus der uns keiner mehr wird vertreiben können«, sagte sie, und die Señora drückte ihr die Hand auf den Mund:

»Sei still! schweige still!«

»Es ist nichts mehr zu sagen«, sprach Doña Camilla Drago. »Wir haben Zeit genug gehabt, uns zu rüsten, – wir können still sein.«

Sie standen auf der Mauer von neun bis elf Uhr; dann setzten sie sich auf einen Steinhaufen, und Camilla legte den Kopf in den Schoß der Señora. Auch die Nacht war ganz still; das Lager des Feindes schwieg; nur allerlei Leben der Tiere regte sich. Große leuchtende Käfer und Schmetterlinge schwirrten umher, und die Stimme des Atlantischen Ozeans war lauter in der Nacht als am Tage.

Auch in dem Schloß Pavaosa war alles ruhig; als aber die Mitternacht nicht mehr ferne war, erwachte ein Säugling an der Brust seiner Mutter und fing an zu weinen, und die Mutter sang ihm ein Schlummerlied, als ob das noch nötig sei.

Um ein Uhr war alles vorüber. Zum letztenmal vernahm der Admiral van der Does den Donner der Schlacht; er richtete sich empor und horchte und sank zurück und richtete sich nicht wieder auf. In der Tür des Hauses stand der Prädikant Heinrich Leflerus und hielt sich an dem Pfosten. Er sah den Wall des Kastells wiederum vom roten Feuerschein umspielt und das Gewühl der Kämpfenden auf der Mauer. Das schrille Kriegsgeschrei der Neger übertönte weitaus den Schlachtruf seiner Landesgenossen und den Todesschrei der Spanier, und der Prädikant von Ysselmünde kniete auf der Schwelle nieder und versuchte es, zu beten; er konnte aber nur die Hände ringen.

Waffenlos hatte sich der Jüngling, dessen Seele er gewonnen hatte, als der erste, vorderste des Sturmhaufens gegen die Bresche des verlorenen Schlosses Pavaosa gestürzt.

»Wir kamen, Wasser zu schöpfen, und Blut ward uns zum Trunke gegeben!« stöhnte der Prediger, und seine Stirn berührte fast den Erdboden.

Um ein Uhr war alles vorüber, aber Heinrich Leflerus wartete vergeblich neben der Leiche des Admirals auf einen Boten von den Siegern. Es kam niemand; die Seele Mynheers van der Does war hinübergegangen in das große Geheimnis, und keiner gedachte ihrer. Der Prediger erhob sich und schritt auf unsichern Füßen durch und über die Trümmer der Stadt bis zu dem jetzt geöffneten Tore des Schlosses. Er kam in das Gedränge auf der herabgeworfenen Zugbrücke; kaum entging er der Gefahr, in den Graben hinabgestürzt oder von den tollen Haufen zertreten zu werden. In der Wölbung des Tores traf er auf Mynheer Gerhard Storms, der ihm auf die Schulter schlug und rief:

»Da seid Ihr ja auch, Ehrwürden. Nun, wir haben eine gute Arbeit gemacht, und ich verhoffe, daß Ihr uns morgen in Euerer Oration loben werdet. Holla, ihr da, Mohren, Friesen und Holländer, Raum für den Herrn Prädikanten! Jaja, Mynheer Leflerus, es ist bös zugegangen; das Volk hat eben zu lange vor der Türe warten müssen und ist ungeduldig geworden.«

Der Greis stand in dem Hofe des Schlosses Pavaosa, er hob die Arme gen Himmel und rief nur: »Herr! O Herr, Herr!«


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