Wilhelm Raabe
Drei Federn
Wilhelm Raabe

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Mit Geheul und Gebell war die Haushälterin abgezogen; ein verwahrlostes, lumpenhaftes, zitteriges junges Aschenbrödel war allein in den untern Räumen des Hauses zurückgeblieben und saß wahrscheinlich im Winkel am Herde, den Kopf furchtsam in der Schürze verbergend. Trotz meiner großen Bibliothek hatte ich vor diesem armen Ding nicht das kleinste mehr voraus, und als es mit Gewinsel an meine Tür klopfte, weinend über großen Hunger klagte und berichtete, die »Madam« habe es den ganzen Tag über bis zu ihrem Abzug im Kohlenloch eingesperrt gehalten – fühlte ich mich vollständig eins mit ihm und hätte es, mit meinem Schlafrock angetan, vor das Encheiridion des Epiktet in meinen Lehnstuhl setzen können. Ich gab ihm aber die Mittel, um sich satt zu essen, und somit die Gelegenheit, sich über meinen Gemütszustand zu erheben; vor dem törichten Buche blieb ich selber sitzen.

Um vier Uhr dreißig Minuten nahm der Sonnenstrahl von der Decke vermittelst eines krampfhaften Sprunges Abschied. Er war dagewesen, ehe man sagen konnte, daß er nicht mehr da sei: sie aber hatte sich das ausgesucht, was behagliche Menschen ein »trauliches Dämmerstündchen« nennen, um mir ihre Meinung zu sagen.

Die Dämmerung war gekommen; aber ich wußte nicht, welche kleinen Füße in den Gassen mühselig den Weg zu meinem Hause suchten. Ich hörte die Wagen rollen, ich hörte die Menschen rennen und trippeln und trappeln; alle hatten mit sich selber genug zu tun; ich aber besaß weder Gläubiger noch Schuldner, die ein Viertelstündchen mit mir verplaudert hätten. Das Schicksal hatte mir einen trefflichen Farbenkasten und Pinsel die Fülle mit auf den Weg gegeben; an Rot und Blau, an Grün und Gold und Silber war kein Mangel gewesen: da saß ich jetzt vor dem Gemälde meines Daseins und schüttelte den Kopf. »Richtige Zeichnung, richtige Zeichnung!« hatten Bücher und kluge Meister fort und fort geschrien, und ich hatte ziemlich richtig gezeichnet; allein die bunten Farbenmuscheln hatte ich darüber vergessen; »ein recht mangelhaftes Kolorit!« sprachen Bücher und kluge Leute mit derselben Weisheit; ich aber hatte genug von ihnen und von mir, und einen Besuch hätte ich auch nicht angenommen, wenn er durch Aschenbrödel sich hätte melden lassen.

Der Besuch ließ sich nicht ankündigen; er fragte nicht höflich nach meiner Willensmeinung; niemand hielt die beiden armen, müden, kleinen Füße an der Haustür und an der Treppe auf. –

Es hatte mir jemand die Hand auf die Schulter gelegt und schüttelte mich, daß ich herumfuhr wie noch niemals in meinem Leben.

Jemand sagte: » Sie brauche ich wahrhaftig nicht zu fragen, ob Sie es sind! Ach du barmherziger Himmel! Jawohl; wenn Sie nicht der ägyptische Herr aus dem Glaskasten im Neuen Museum rechts hinter der Tür sind, so sind Sie der Pate Hahnenberg, und ich wünsche Ihnen einen guten Abend; bitte, behalten Sie Platz – mein Name ist Mathilde, und Sie haben uns wieder einmal eine schöne Suppe eingebrockt; aber dieses Mal bin ich da – ich, Mathilde Sonntag!«

Jemand starrte und stierte noch immer; aber ob ich das war, ich der Notar Hahnenberg oder der Schwiegerpapa Spierling oder der neue Präsident der Vereinigten Staaten Abraham Lincoln, war im Moment nicht zu entscheiden.

»O Gott, und mein Mann hat mir alle Aufregung verboten und hat recht darin, und hier sitze ich und zittere an allen Gliedern; – aber Luft muß ich mir machen – geben Sie mir ein Glas Wasser.«

Ich hatte die Wasserflasche ergriffen und goß ihren Inhalt neben das Glas auf den Schreibtisch; eine kleine Hand drückte mich wieder auf meinen Sitz herab; ich hörte ein helles, frisches Lachen:

»Ganz und gar, wie ich ihn mir vorgestellt habe! Und wenn Angst und Ärger mich noch hundertmal bösartiger an den Zöpfen hielten, mein Lachen über ihn muß ich herausheben; ich hab's mir geschworen – o Gott, Gott, also dies hier ist der Pate Hahnenberg? Der große Pate Hahnenberg, der berühmte Pate Hahnenberg, der liebenswürdige Pate Hahnenberg? Ganz mein Ideal, Liebster; nur noch eine Nuance zitronenfarbiger – ah!«

Ich war höchst – sehr überrascht, gänzlich aus aller Fassung gebracht; und die beiden Augen, welche mich jetzt über den Rand des Wasserglases ansahen, erwarteten etwas recht Kluges, eine schlagende Bemerkung, etwas recht Tiefes, Hohes als Antwort, und so stammelte ich denn:

»Madam, ich – Frau Doktor, ich – ich begreife nicht –«

Da ich in der Tat nicht begriff, so war's kein Wunder, wenn ich weder etwas Kluges noch etwas Schlagendes, weder etwas Tiefes noch etwas Hohes zum Vorschein brachte, sondern kläglich steckenblieb und der Besitzerin jener zwei Augen das Feld vollständig überließ.

»Wer verlangt denn auch, daß Sie begreifen sollen? Rechenschaft sollen Sie geben. Glauben Sie etwa, ich sitze hier gleich den andern, um mich aus meiner Gemütlichkeit starren zu lassen? Sie haben es in Ihrem Leben mit allerlei Volk zu tun gehabt, aber noch nicht mit mir, Mathilde Frühling aus Hohennöthlingen. Verlangen Sie etwa gar, ich solle Ihnen wie die andern den Rücken wenden oder wie die andern mich vor Ihnen verkriechen? Das wäre noch besser! Sie haben all Ihr liebes Leben lang auf einem hohen Pferde gesessen; aber, wissen Sie, Papa, das imponiert mir gar nicht. Und jetzt antworten Sie: was haben Sie mit der Schwester meines Freundes Friedrich Winkler angefangen? Mein Mann jagt dem albernen Mädchen nach; ich aber stehe derweilen zu meinem armen, blinden Freund und Bruder Fritz und frage Sie nun, Herr Notar Hahnenberg, wieweit Sie sich für den heutigen Tag zur Rechenschaft verpflichtet fühlen!«

Ich hätte mich an jede beliebige Dachrinne als Eiszapfen hängen können, und zwar als ein Eiszapfen bei Tauwetter – kalt, lang, spitz, mit einer Neigung, zu Wasser zu werden.

»Frau Mathilde Sonntag«, sprach ich, » ich habe nicht Fräulein Winkler mit dem Agenten Pinnemann auf Reisen geschickt, sowenig, als ich –«

»Ach, wenn es mir nur nicht verboten wäre, mich aufzuregen!« rief die kleine Frau, mit dem Fuße meinen staubgrauen Teppich stampfend. »Wenn Sie die Gans und den alten pomadisierten Reineke nicht auf Reisen geschickt haben, so haben Sie doch Ihre Freude daran gehabt. O ich habe Sie studiert, Papa Hahnenberg, wenn ich auch nicht das Vergnügen hatte, Sie persönlich zu kennen. Das war wieder etwas für Sie, so dazusitzen im Winkel wie ein greulicher Uhu und sich weise und klug und gescheit über alle Begriffe zu dünken und seine Freude zu haben, wenn das andere dumme Volk sich abquält und sorgt und in den Graben purzelt und mit der Nase gegen die Wand rennt. Ich danke für solche Weisheit, und, gottlob, mein August hat auch dafür gedankt, als Sie vor Jahren den Trichter ansetzten und auffüllen wollten, und Friedrich Winkler dankt auch dafür, und die Leute, welche die Augen vor Ihnen verdrehen und vor Staunen und Bewunderung vergehen wollen, die machen schlechte Streiche und schicken arme Leute nach dem Pfefferlande als Auswanderer und brennen selber durch, wenn sie der Posse müde sind. Ich habe meine lächerliche Viertelstunde gehabt, und so will ich Ihnen denn sagen, Herr Pate, daß Sie uns, daß Sie mir recht herzlich leid tun; – ich bin eine Doktorsfrau; haben Sie etwas dagegen, wenn ich Ihnen den Puls fühle?«

Ich schüttelte den Kopf und sagte:

»Also der blinde Friedrich hält mich für den Urheber dieser Flucht seiner Schwester, glaubt, daß ich Freude darüber habe, weil er mir einst jenen Knaben entführte? Sie dürfen schon Mitleid mit mir haben, Mathilde Sonntag!«

»So gescheit, so klug, so weise!« rief Mathilde, von ihrem Stuhl aufstehend. »Ich bin nur ein dummes Hohennöthlinger Mädchen, aber ich weiß mehr von den Menschen als der Herr Notar, welcher keinen einzigen Prozeß verloren hat. Sie sind weit zurückgeblieben auf dem Wege, Sie armer Mann; – da müßte selbst der Lerche am Pfingstsonntag das Lachen vergehen! Leben Sie wohl, Herr Notar, und verzeihen Sie die Störung – es war eine Grille, welche mir durch den Kopf fuhr.«

Sie zog ihren Mantel zusammen, machte mir eine Verbeugung, ließ den Schleier fallen und wandte sich nach der Tür. Als sie die Hand auf den Griff legte, rief ich sie:

»Mathilde!«

Sie wendete sich noch einmal zurück und entschied das Schicksal meiner alten Tage. Sie machte ein recht böses Gesicht, aber sie war nahe vor dem Weinen.

»Mathilde Sonntag, weshalb sind Sie an diesem Abend zu mir gekommen?«

Sie kam zurück, beugte sich über mich und sah mir, mit einer Träne an jeder Wimper, fest ins Gesicht.

»Weil ich die einzige von euch allen bin, welche jedem sein richtiges Teil gibt; – weil ich die einzige Vernünftige unter euch allen bin. Jeder von euch ist mit seinem Luftballon voll Hochsinn und Philosophie und was weiß ich hinaufgefahren ins Himmelblau, und wenn ich nicht wenigstens meinen August an einem tüchtigen Stricke hielte, so wär's schlimm. Es ist aber doch schon schlimm genug! Zueinander könnt ihr nicht, wenn ihr euch gleich alle auf die nämliche Art aufgeblasen habt; jeder sitzt in seinem Luftkorb und guckt mit dem Perspektiv nach dem andern, und mein armer, blinder Fritz hat dazu noch das meiste Recht; er hat wenigstens viel bessere Augen als der Pate Hahnenberg! Da bin ich von Hohennöthlingen einzig und allein deshalb hierhergekommen, um den Paten Hahnenberg zu studieren – natürlich den Geheimen Medizinalrat sowie den Coprosaurus beiseite gelassen! –, und habe wunder gedacht, was für eine Nuß da zu knacken sei. Sehe ich aus wie ein Nußknacker, alter Herr?«

Die plötzliche, unvermutete Frage brachte mich mehr als alles andere außer Fassung. Mathilde saß wieder auf dem Stuhl neben mir; sie war sehr hübsch, und ich wußte noch immer nicht, was ich ihr sagen, was ich antworten sollte; sie hielt mich moralisch an der Nase und seifte mich ein wie der beste Barbier.

»Ich will Ihnen etwas mitteilen, Papa Hahnenberg; aber Sie müssen es nicht übelnehmen. Sie dürfen ganz dreist eine ziemliche Portion verdorbener Luft, oder was man sonst Gas nennt, aus Ihrem Luftballon herauslassen, wenn Sie nicht demnächst auf dem Monde oder an irgendeinem andern unbehaglichen Orte anlangen wollen. ›Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt‹, sagte Cicero, der, wie August sagt, auch nur ein Notar in Rom war, und wenn es ein andrer gesagt hat, so ist's auch einerlei. Erhaben sehen Sie wahrlich nicht mehr aus, Papa, und wenn alle klugen Leute nicht klüger sind wie Sie, so will ich wahrhaftig dem lieben Gott danken, daß er mir nicht ein Paar Höslein angemessen hat in der Wiege und mir wenigstens meiner Mutter Erbteil an Verstand zukommen ließ. Sie möchte ich zum Schwiegervater haben! Gehen Sie in sich, stiften Sie ein Spital für Ihresgleichen und geben Sie Ihrem Freund Pinnemann die Direktion der Anstalt. Guten Abend.«

Ich hatte viele vortreffliche Reden in meinem Leben anhören müssen, aber keine hatte mich so ergötzt wie diese: »Und du willst aus Hohennöthlingen sein, Hexe, Mädchen, Weib, oder was du sonst bist?!« rief ich sehr vergnügt. »Woher kommst du? Wer bist du? Was willst du von mir? Sage mir, was du verlangst; ich will alles tun! Ich will auf allen vieren gehen und Gras fressen wie der König Nebukadnezar, der sich auch den Göttern gleich geachtet und nach den Speisen auf ihrem Tische gegriffen hatte; – ich will der Luise Winkler mein Vermögen vermachen, und sie soll trotz ihrer Eskapade einen christlichen Baron zum Mann bekommen; das Spital wird ganz selbstverständlich gegründet, und ich will – – ja, was will ich? – – Ich will zum zweitenmal Gevatter stehen in meinem Leben, Mathilde Sonntag, und zeigen, daß ich etwas gelernt habe, seit man schrieb achtzehnhundertneunundzwanzig!«

»Das ist alles eitel Torheit!« sprach meine Besucherin mit größester Würde. »Mein Mann befindet sich in Hamburg, wo er Ihrem Freunde Pinnemann nachsetzt, Herr Notarius; – Sie brauchen sich also nicht vor ihm zu fürchten. Ich aber will mir für die nächste Zeit die guten Tage und die Stimmung nicht verderben lassen; das Feuer in Ihrem Ofen ist erloschen, und Nacht wird es auch; – wollen Sie mich heimbegleiten? Das andere wird sich allgemach finden.«

Sie hatte mir einen Ring durch die Nase gezogen und einen seidenen Faden daran geknüpft. Sie führte mich an diesem Faden durch die Gassen, und wir sprachen – von Hohennöthlingen. Ich wollte sie in einem Wagen nach Hause schaffen; aber sie »konnte das Fahren nicht vertragen«; wir gingen recht langsam unseres Weges.

Wir sprachen über Hohennöthlingen, und ich hielt es für meine Pflicht, zu versichern, daß der Ort mir vor Jahren ausnehmend wohl gefallen habe. Ich hatte den Rektor Frühling gekannt, als er noch ein demütiger Kandidat des hochlöblichen Schulamts war, und der Frau Rektorin entsann ich mich auch noch als einer scheuen, errötenden Blondine mit einem mächtigen Schildpattkamme und einem großen Strickbeutel. Es war so interessant; man trug damals kurze Kleider und Schinkenärmel und keine Spur von Krinoline, und der närrische, steinerne Kerl an der Rathaustreppe hielt noch immer den Finger an die Nase, und der Mühlbach kam noch immer im Galopp den Gänseberg herabgelaufen; die Kirchenuhr ging noch immer nicht so richtig, als man wünschen konnte, und das Röhrwasser blieb noch immer gewöhnlich dann aus, wenn man es am nötigsten hatte.

So kamen wir durch die Gasse, in welcher sich mein väterlicher Mohr und die Königin von Saba noch immer anstarrten. Die beiden Würdigen waren auch allmählich recht alt und gebrechlich geworden; – seit undenklicher Zeit hatte ich dieses Pflaster nicht betreten und wußte eigentlich nicht zu sagen, wie ich jetzt hieher kam.

»Jaja«, sagte Mathilde, »der Mühlbach in Hohennöthlingen springt noch immer lustig den Berg hinunter, und der Mohr mit der Pfeife und die Königin da sind auch noch vorhanden; aber dort haben Sie gewohnt, Herr Pate, und Ihre Eltern, und dort haben Augusts Eltern gewohnt; ich komme mir ebenfalls schon recht alt vor – es ist doch eine merkwürdige Geschichte, daß wir zwei beide jetzt durch diese Gasse gehen! Ist es nicht?«

»Sehr wunderlich!« sprach ich. »Ich glaube auch noch nicht recht daran; wer weiß, ob das, was wir jetzt erleben, in der Wirklichkeit vorgeht und existiert? Vielleicht ist morgen früh alles nur Traum und nicht wahr gewesen.«

»Sehr möglich!« sagte Mathilde Sonntag. »Nun, in zehn Minuten sind Sie Ihres Ritterdienstes entbunden; wir wollen uns dann eine recht angenehme Nachtruhe wünschen.«

Wir setzten schweigend unsern Weg fort; die Lampen und Laternen wurden angezündet, und wir standen in einer andern Gasse wiederum still.

»Hier wohnt Friedrich Winkler, Frau Mathilde«, sagte ich »Das wollten Sie mir doch mitteilen?«

Das kleine Weib ließ halb erschreckt meinen Arm fahren und sah mir beim flackernden Schein des Gaslichtes höchst verwundert ins Gesicht.

»Wenn Sie nicht zu ermüdet sind, Mathilde, können wir da oben noch einen Besuch abstatten; – Sie haben sich viel Mühe meinetwegen gegeben, Sie haben mir tüchtig die Wahrheit gesagt, Sie sind entsetzlich grob gewesen, und ich bin Ihnen sehr verbunden. Kommen Sie, Liebchen, vielleicht retten wir etwas mehr als den bloßen Traum von dem heutigen Abend.«

Ich habe immer noch in jeder Kollision das letzte Wort und die letzte Tat gehabt, und so hatte ich beides denn auch jetzt. Auf dieser steilen, dunklen Treppe führte ich meine Begleiterin wirklich; vor die Haustür hatte sie mich geführt. Ich fühlte, wie die kleine Hand an meinem Arme zitterte; – – wir klopften an und traten ein in das lichtleere Gemach des Blinden. Mit dem Schritt über diese Schwelle war das Fazit meines Lebens gezogen. –

 

Wer klopft da nun wieder an meine Tür? Man mag sich doch stellen und setzen im Leben, wie und wo man will: Ruhe gibt's nicht!

»Komm herein, Aschenbrödel!«

Die Tür hat sich geöffnet; es schiebt sich eine weibliche Gestalt in das Zimmer; aber Aschenbrödel ist's nicht; – Aschenbrödel, welche nicht mehr ihre Tage im Kohlenloch verbringt, schläft längst den Schlaf wohlbehaglicher Sättigung. Das Spital, dessen Stiftung Mathilde mir anempfahl, ist gegründet; aber Pinnemann wurde nicht Vorsteher desselben, er wird demnächst doch noch nach Amerika auswandern; ich aber habe mir eine Wärterin geworben, die vor mir tanzt, wenn sie nicht ihre reuigen und zerknirschten Stunden hat.

»Du bist es, Luise? Kind, Kind, es ist längst Mitternacht vorbei –«

»Ich kann nicht einschlafen; ich habe es vergeblich versucht! Es ist so still im Hause – ich fürchte mich so sehr in meiner Kammer, und die Musik vom Tivoli hört man auch die ganze Nacht hindurch. O lassen Sie mich noch eine Stunde hier sitzen, ich will mich auch nicht rühren!«

Meine jetzige Haushälterin sitzt mit ihrem Strickzeug mir gegenüber, und ich betrachte sie von Zeit zu Zeit ganz verstohlen. Sie sieht nicht auf; sie hat Furcht vor mir und ahnt nicht, wie wenig ich ihr vorzuwerfen habe. Wir führen eine gute Feder, August Sonntag; aber wir wollen uns dessen doch nicht überheben! Es steigt jeder in seinem Luftballon in die Höhe, Frau Mathilde, und die Füllung ist auch nicht immer dieselbe. Viele fromme und kluge Leute haben sich seit Jahrtausenden den Kopf zerbrochen, um ein Normal-Steuerruder für diese Luftschiffereien zu erfinden; es haben sich auch nicht wenige Leute ein Patent auf ihre Erfindungen geben lassen, aber man hat noch nicht vernommen, daß sie den Hafen des Glücks in geradester Linie erreicht hätten.

Luise hat das Strickzeug in den Schoß sinken lassen; die Augen sind ihr allmählich zugefallen, sie schläft; aber sie spricht im Schlaf.

Was sagt sie?

»Nimm mich mit, Fritz!«

Die hübsche Sünderin hat im Wachen noch immer mancherlei wunderliche Wege, auf denen man sie scharf im Auge behalten muß; ich möchte wohl wissen, wohin sie der blinde Bruder jetzt mit sich nehmen soll?!

Ich wünsche nicht mehr, wie im Jahre achtzehnhundertneunundzwanzig, diese Aufzeichnungen am folgenden Tage fortzuführen; aber eure Kinder, August und Mathilde Sonntag, sollen das Recht haben, ihre Federn stumpf daran zu schreiben, wenn man zählt:

achtzehnhundertzweiundneunzig.


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