Wilhelm Raabe
Drei Federn
Wilhelm Raabe

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Der Vormund sprach die Wahrheit, als er sagte, daß auch Karoline Spierling in einem dunkeln Hause aufwuchs; aber ihr Los war das schlimmste. Sie mußte ihr Frauenschicksal tragen, sie durfte sich nicht regen, sie mußte sitzen und erwarten, was da kommen würde. Sie hatte ein Herz voll Liebe und wußte damit nirgend hin; sie liebte die Blumen, und ihr Vater kaufte dieselben nur bündelweise, sackweise, getrocknet, zerrieben oder zerstampft – sie bekam alles im Leben nur in solcher Form: das Elternhaus, die Liebe, den Ehestand. Sie versuchte es, ihr volles Herz dem Jugendfreunde zu geben (das schwächste Leben hat eine Epoche, wo es der Welt, welche es noch nicht genug fürchtet, gegenüber wagt) und zerschellte damit am Felsen. Sie saß machtlos, mutlos in eintöniger Arbeitsamkeit in ihrem Winkel; sie konnte sich nicht wehren, als sie ihre erste Liebe aufgeben sollte; sie konnte nur in ihr Herz hinein weinen, und das ist viel schlimmer, als wenn es einem erlaubt ist, sich die Augen auszuweinen. Verwundet im Innersten, im Innersten verblutend, zurückgestoßen von allen Seiten, von allen Seiten belächelt und verhöhnt, wußte sie sich keinen Rat, und als mein Vater zu ihr kam, da war's zu spät, sie zu heilen. Das Schicksal kann ganz im stillen, ganz leise, leise, viel grausamer und erbarmungsloser sein als in dem Donner, mit welchem es dann und wann über die Welt hinfährt. Es kann sogar grausam sein in der Hülfe, welche es in der letzten, höchsten Not darbietet oder von ferne zeigt. So handelte es mit meiner Mutter und mit meinem Vater; die beiden Menschen, welche es füreinander schuf, welchen es, jedem für sich, Macht gab, das andere glücklich zu machen, führte es zusammen, verknüpfte es miteinander, als alle Bedingungen des Glückes zerstört waren, als die Zeit der Rettung längst vorüber war. Joseph Sonntag hätte der verkümmernden Seele unter dem Zeichen der Königin von Saba alles bringen können, was ihr fehlte; Karoline Spierling hätte ihm alles geben können, was ihm fehlte – zu spät, zu spät! Diese beiden Menschen mit den liebevollen, guten, phantasiereichen Herzen gaben sich nur die Hände, weil sie mußten, und die Zeit ihres Zusammenseins auf Erden war zu karg bemessen, um die Wunden der Vergangenheit zu heilen. Wohl fielen sonnige Streiflichter auf die dunkle Existenz der armen Karoline Sonntag; aber der volle Sonnenschein des Glückes war zu einer Unmöglichkeit geworden. Der Tod kam, und alles ist gesagt. Es war furchtbar, daß meine Mutter den Mann, der die Blätter schrieb, welche den Anfang dieses Heftes bilden, mir in ihrer Angst und Not als Lebensstütze geben mußte. Daß sie aber recht hatte, ihn zu rufen, hat die ihrem Tode folgende Zeit erwiesen und beweist die Gegenwart.

Ich aber lasse den Vorhang vor dem Schrein, welcher die traurig-süße Erinnerung – das Bild der Mutter – birgt, für jetzt herabsinken und fahre fort in der Entwickelung meines eigenen Lebensganges.

Es kamen Leute, vom Vormund gesendet, welche mir Privatunterricht im Lateinischen und in der Mathematik gaben, und später besuchte ich auf Kosten des Vormunds eines der Gymnasien der Stadt, wo ich meine Pflicht mit dem größesten Fleiß tat, ohne jedoch große Freude daran zu haben. Am liebsten hätte ich das erste beste Handwerk gelernt, um dieser unerträglichen Fesseln und Verpflichtungen ledig zu werden. Seit ich begriff, daß ich all mein Wissen auf Kosten des Notars Hahnenberg erwerbe, mußte mir alle Befriedigung schwinden; denn jeder Fortschritt, jedes belobende Wort, jede Schulauszeichnung, welche ich erlangte, gehörten nicht mir, sondern dem Mann, der mir so sehr zuwider war; alles, was ich durch ihn gewann, wurde zu einer neuen Last auf meiner Seele.

Wenn ich jetzt meinem Vater an dem Tische neben dem Fenster gegenübersaß, beneidete ich aus vollem, tiefem Herzen die Knaben auf dem Hofe, welche mit mir herangewachsen und soviel freier und selbständiger waren als ich. Ich bildete mir wenigstens ein, sie seien frei und selbständig, und die schmutzigste, widerlichste Arbeit, welche sie verrichteten, schien mir als die höchste und freieste Tätigkeit im Vergleich zu der Aufgabe, die ich zu lösen hatte. Ich hätte mit tausend Freuden all meine Gelehrsamkeit gegen die kräftigen Arme und die Handgeschicklichkeit der Ärmsten und Verwahrlosetsten unter den Plagegeistern meiner Kindheit vertauscht.

Daß ich nicht loskam, daß ich nicht in offener Empörung die Bücher fortwarf und dem nächsten Essenkehrer meine Dienste anbot, daran trug mein Vater die meiste Schuld, wie er die Schuld von so vielem andern sein ganzes Leben lang trug. Je hülfloser und hülfsbedürftiger er wurde, mit desto ängstlicherer Aufgeregtheit klammerte er sich an seinen Jugendfreund; denn naturgemäß imponierten ihm die Klarheit, Kälte, Logik und der Lebenserfolg desselben immer mehr. Ein Zweifel an dem Manne, ein Sträuben gegen die Ansicht, gegen den Willen desselben wurden zu einem Verbrechen, welches sich nur büßen, nicht aber abbüßen ließ. Mein armer Vater suchte mich jetzt nach den Besuchen des Vormundes nicht mehr durch Märchen und neue Spiele zu trösten: der Pate Hahnenberg hatte nunmehr recht, in allem recht; der Pate Hahnenberg hatte das Leben kennengelernt, er hatte es von der rechten Seite aufgefaßt, er wußte Bescheid darin; – ohne den Paten Hahnenberg gab es kein Heil, keine Hülfe; wir mußten dankbar sein, sehr dankbar, ungeheuer dankbar, der Pate Hahnenberg meinte es gut, sehr gut, unendlich gut mit uns.

Nur ein einziges Mal in dieser Zeit zwischen dem zwölften und achtzehnten Jahre versuchte ich den offenen Widerstand, von dem ich weiter oben sprach. Durch mein ewig von neuem verwundetes Ehrgefühl zur Verzweiflung gebracht, trat ich den Weg zur Wohnung unseres »Freundes« an, um ihm seine Wohltaten, meinen Dank und meinen Zorn vor die Füße zu werfen. Ich kam aber heim, ohne irgend etwas dergleichen ausgerichtet zu haben; der einzige Gewinn, welchen ich aus diesem Besuch zog, war, daß ich dabei eine Persönlichkeit kennenlernte, die berufen war, bald den größesten Einfluß auf mein Schicksal auszuüben. Ich machte die Bekanntschaft des Privatsekretärs Pinnemann.

Wir griffen in dem nämlichen Augenblick nach dem Glockenzug des Notars; wir gingen miteinander die Treppe hinauf und saßen zusammen, da eben ein Klient den vielgesuchten Advokaten konsultierte, eine Viertelstunde lang im Vorzimmer, und obgleich ich mich in einer gerade nicht sehr mitteilsamen Stimmung befand, erfuhr der Herr Privatsekretär oder Agent, wie er sich lieber nennen hörte, doch viel mehr von mir, meinen Ansichten von der Welt und dem Vormund, als ich sagen wollte. Ich fand, daß er eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Notar Hahnenberg habe. Er war so hager wie jener, was jedoch nicht ausschloß, daß er nicht später recht fett werden könne, er war so elegant in Schwarz gekleidet wie jener; nur trug er einen etwas ins Rötliche spielenden Backenbart, während der Pate glatt rasiert ging – er hatte auch in seiner Erscheinung etwas Weiches, Süßes, welches dem Paten mangelte, und alles, was er sagte oder vielmehr flüsterte, klang bei weitem wohltuender als des Herrn Paten kühle Reden. Herr Pinnemann sah und hörte sehr scharf. Er sah, daß ich trotz aller meiner Entschlossenheit ein geheimes Grauen vor dem Zusammentreffen mit dem Vormund habe, und er vernahm trotz der geschlossenen Tür, was der Vormund mit dem Klienten verhandelte; es schien ihn aber nichts anzugehen, und so hatte er nicht nötig, seine Aufmerksamkeit zu teilen.

Er lobte den Vormund sehr. Er sprach mit innigster Verehrung von seinem enormen juristischen Wissen und seiner »über alle Begriffe sublimen« Geschäftskenntnis; mit Ehrfurcht sprach er von dem großen und gerechten Ruf, den er in der Stadt und weit im Umkreise besitze; aber jedesmal, wenn ich mich aus Ärger über diese überschwenglichen Lobeserhebungen abwenden wollte, flocht er geschickt einen kleinen Tadel ein, der mich widerwillig auf meinem Stuhl neben ihm festhielt. Als er den Grund meines jetzigen Besuches bei dem Notar enträtselt hatte, seufzte er tief und versank in ein noch tieferes Nachdenken. Er liebte es nicht, sich nutzlos zu kompromittieren.

Der Klient, dem Anschein nach ein wohlgestellter, gesunder, aber unzufriedener Güterbesitzer aus der Umgegend der Stadt, nahm endlich Abschied von seinem juristischen Ratgeber, der Vormund führte ihn höflich durch das Vorzimmer, Herr Pinnemann schnellte empor und verbeugte sich wie überwältigt von Ergebenheit und Ehrfurcht; ich stand tückisch-trotzig und drehte mürrisch die Mütze in den Händen. Der Vormund warf einen sehr verwunderten Blick auf uns, der Landedelmann polterte mit Gebrumm und Sporengeklirr die Treppe hinunter.

»Was?!« sagte der Pate. »Ihr beide?!... Wohlan, kommt herein! Was verschafft mir diese Ehre?«

Ich wünschte den Privatsekretär Pinnemann trotz aller seiner Liebenswürdigkeit an irgendeinen angenehmen, aber fernen Ort der Erde; er aber folgte mir lächelnd auf dem Fuße in das Kabinett des Paten.

Wie im ganzen Hauswesen des Notars, so herrschte auch hier eine vornehme, kühle Ordnung, welche dem Charakter des Bewohners ganz und gar angemessen war. Die Bibliothek, die Aktenhaufen, die Teppiche und Möbeln harmonierten trefflich miteinander, und kein Stäubchen ward auf ihnen geduldet. Durch eine halb geöffnete Tür, welche der Vormund jedoch sogleich schloß, sah man in das Zimmer der Schreiber, und auch hier befand sich alles an Ort und Stelle, man vernahm nur das Kritzeln der Federn.

Der Pate lehnte jetzt mit untergeschlagenen Armen an seinem Schreibtische; – er sah uns noch einige Augenblicke etwas verwundert mit emporgezogenen Augenbrauen an, um sich sodann zuerst an den Privatsekretär zu wenden.

»Nun, mein Lieber, wir haben uns ja lange nicht gesehen. Es scheint Ihnen wie immer gut zu gehen; – nicht wahr, Sie behandeln die Welt noch immer nach ihrem Verdienst und fahren selber gut dabei? Ich nehme wie gewöhnlich den innigsten Anteil an Ihnen, Pinnemann; – womit kann ich Ihnen dienen?«

»Man schlägt sich so gut und ehrlich wie möglich durch, Herr Notar. Es ist wirklich eine schlimme, selbstsüchtige Welt, und ein armer Teufel hat seine Not, mit ihr Schritt zu halten. Ich danke untertänigst für Ihr ehrenvolles Wohlwollen, Herr Notar!« lispelte Pinnemann und trug sodann sein Anliegen an den berühmten Advokaten klar und bündig vor. Was es war, habe ich vergessen und weiß nur, daß es sich um die legale Vollziehung irgendeines Dokumentes handelte; der Vormund gewährte es mit großer Höflichkeit; diese Sache war abgetan, und ich atmete etwas leichter, indem ich glaubte, nunmehr doch mein Wort unter vier Augen sprechen zu dürfen. Ich hatte mich aber getäuscht.

»Kannten Sie diesen jungen Mann bereits früher, Pinnemann?« fragte ihn der Vormund.

»Ich habe soeben erst die Ehre gehabt, seine Bekanntschaft zu machen.«

»Ich wünsche dir Glück dazu, August«, wandte sich der Pate an mich. »Bleiben Sie nur, Pinnemann, der junge Mann und ich haben einander keine Geheimnisse anzuvertrauen; ich möchte euch beide noch näher miteinander bekannt machen. Was hattest du mir zu sagen, mein Sohn?«

Es war mir, als drücke mir eine unsichtbare Hand die Kehle zu; wie gleichgültig oder sympathisch mir die Persönlichkeit Pinnemanns gewesen sein mochte, durch des Paten lobende Worte war sie mir für den Augenblick zuwider geworden wie der Pate selbst.

»Herr Notar«, schluchzte ich, »ich kam, um mit Ihnen allein zu reden, ich bitte –«

Der Vormund winkte begütigend und lächelnd:

»Auch vor Pinnemann habe ich momentan keine Geheimnisse. Wünschest du etwas von mir zu erlangen, oder hast du mir etwas zu bringen?«

»Ja«, rief ich in Verzweiflung, mit Tränen im Auge, »ja, hundertmal ja! Ich bringe Ihnen zurück, was Sie mir geben wollen; ich wollte, ich könnte Ihnen zurückbringen, was Sie mir gegeben haben! Ich will nicht mehr lernen auf Ihre Kosten. Lassen Sie mich frei, lassen Sie mich frei! Sie haben kein Recht, uns durch Ihre Wohltaten zu erniedrigen; ich will ein Tagelöhner werden; überlassen Sie uns unserm Schicksale – Sie haben kein Recht, so kalt und gelassen in das Leben meines Vaters, in mein Leben einzugreifen. Lassen Sie mich frei, Sie werden nie einen Dank erhalten für das, was Sie mir gegen meinen Willen aufdringen.«

Dieses und anderes, Ähnliches, sprudelte ich in Hast und Überstürzung hervor; ich machte nun, da ich einmal angefangen hatte, meiner Seele Luft, und der Pate ließ mich meine Gefühle ausströmen, ohne seine Miene oder nur seine Stellung zu verändern; Pinnemann aber sperrte trotz aller Selbstbeherrschung doch ein wenig den Mund auf.

Endlich war ich fertig oder vielmehr gezwungen, vor Erschöpfung einzuhalten. Der Notar Hahnenberg legte die Feder, die er vom Tisch aufgenommen und mit welcher er bis jetzt ruhig gespielt hatte, leise neben seinen Akten nieder.

»Du könntest mir Grund zur Verwunderung geben, August Sonntag«, sagte er, »ich habe es mir aber nach dem Horazischen Diktum zum Grundsatz gemacht, mich so selten als möglich zu verwundern. Ich könnte dich einfach zur Ruhe und an das Stadtgericht verweisen, welches meine Vormundschaft über dich bestätigte; da ich jedoch augenblicklich eine Minute zu deiner und meiner Verfügung übrig habe, so werde ich deine Rede durch eine andere, wenn auch kürzere, erwidern und ersuche dich um eine ähnliche Aufmerksamkeit, wie ich dir gewidmet habe. Du bist jetzt siebzehn Jahre alt, mein Freund, und also noch recht jung; da du aber einen über deine Jahre hinausgehenden Mut bewiesest, so werde ich mich so lebendig als möglich in deine Situation versetzen und mit dir über deine Vorwürfe und Insinuationen in Gelassenheit rechten. Knabe, wem hast du zu danken, daß du so zu mir reden konntest? Besinne dich darauf und gestehe, daß meine Weise dir doch wohl ein wenig wohltätig gewesen sein muß. Du Narr, quae medicamenta non sanant, ferrum sanat; ich habe deiner Mutter versprochen, das Eisen, welches ihr wie deinem Vater im Blute fehlte, dir in die Adern zu jagen, und ich wünsche, mein Versprechen ferner zu halten. Ich achte deine Gefühle, sie sind anständig genug; aber ich werfe dagegen die Erfahrungen eines wohlbedachten, vorsichtigen Lebens in die Waagschale und werde mich durch Gefühle nie beirren lassen. Ich sehe die Welt mit andern Augen an als du, und die Beleuchtung, in welcher sie mir erscheint, ist die wahre. Du siehst sie noch durch das Medium des Lachens und der Tränen, des Eifers und des Zorns; ich habe mit all dem seit längerer Zeit gebrochen. Dich glücklich zu machen, wie die Leute es nennen, ist mir nie eingefallen; aber hoffentlich gelingt es mir, dich gleichgültig zu machen; Wiegenlieder werde ich zu diesem Zweck dir freilich nicht singen, und das gewöhnliche Zuckerwerk des Lebens kann ich nicht zu deiner Verfügung stellen; dagegen empfehle ich dir hiermit abermals den Herrn Agenten Pinnemann, einen Mann, welcher die Welt womöglich noch besser kennt als ich, und –«

»Oh, Sie schmeicheln mir – Sie sind zu gütig, Herr Notar!«

»Und ihr jedenfalls viel besser ihr Recht gibt als ich. Pinnemann, zeigen Sie dem jungen Mann ein wenig von Ihrer Kunst, den andern einen Schritt voraus zu sein; heben Sie für ihn ein wenig den Vorhang von Ihren angenehmen Grundsätzen; Sie werden wohl wissen, wie weit Sie gehen dürfen.«

»Sicherlich nicht über ihr Wohlwollen und mein Wohlergehen hinaus, Herr Notar.«

»Gut. Meine geschäftsfreie Zeit ist übrigens abgelaufen; ich muß die Herren ihrem Schicksal überlassen. August, dein Besuch hat mir sehr wohlgetan; gib deinem guten Vater meine besten Grüße; folge dem Herrn Agenten, indem du jederzeit bedenkst, daß ich dir nicht deinen Schutzgeist zur Seite gestellt habe. Vertrauen gegen Vertrauen; du hast mich heute morgen mit deinen Ansichten bekannt gemacht, ich mache dich mit meinem früheren Schreiber Karl Pinnemann, der mich verließ, weil ich ihm zu ehrlich war, hörst du, zu ehrlich war, bekannt.« –

Betäubt stand ich in der Gasse. Umsonst hatte ich alle meine Energie zusammengefaßt; der lächelnde Mann da oben hatte mich in eine Nichtigkeit hinabgedrückt, in welcher ich zu keinem Entschluß mehr fähig schien. Im Grunde hatte er wenig auf meine Vorwürfe zu entgegnen gewußt; aber seine Persönlichkeit, seine Sicherheit, sein Selbstbewußtsein überwältigten mich; denn ich hatte ihm nichts Gleiches entgegenzusetzen. Regungslos, ratlos stand ich, gedrängt und gestoßen von dem Gewühl und Verkehr der Stadt; erschreckt fuhr ich empor, als Pinnemann, der mich während meiner Betäubung wahrscheinlich noch viel genauer studiert hatte, mich an der Schulter berührte und, nach den Fenstern des Vormundes deutend, mit Überzeugung sagte:

»Ein ausgezeichneter Herr!«

Ich starrte dem mir empfohlenen neuen Führer ins Gesicht, in die schlau blinzelnden Augen, ich sah ihn mit der beringten Hand durch den wohlgeordneten Backenbart fahren; mit Ekel und Widerwillen wandte ich mich ab und kam atemlos, ohne seine Begleitung, in der armseligen, jammervollen Wohnung meines Vaters an.

War nun dieser Versuch, die Autorität, den Einfluß des Notars Hahnenberg abzuschütteln, gänzlich mißlungen, so begann doch von ihm aus eine neue Epoche meines Lebens. Ich suchte in dem Studium eine Befriedigung, welche ich sonst nirgends fand, und ohne Lust am Lernen versaß ich meine Tage über den Büchern und schloß in wahrhaft krankhafter Weise mit der Außenwelt ab. Meine Existenz war eben eine abnorme, und wohl selten hat ein Kind seine Jugend so sehr gehaßt wie ich in jener Zeit. Dem Wissen, welches die Schule geben konnte, eilte ich weit voraus und brütete in der Dämmerung des Daseins so matt und so frühreif, daß es zum Erbarmen war, und als ich zuletzt, wie es des Paten Wille war, doch dem Agenten Pinnemann verfiel, lag hierin wahrscheinlich die einzige Möglichkeit der Rettung meines physischen wie moralischen Menschen. Die Krankheit meines Lebens konnte nur durch Gift neutralisiert werden, und daß der Vormund seinerzeit und von seinem Standpunkt aus ein großer Menschenkenner war, kann nimmermehr geleugnet werden.

Der Pate Hahnenberg ließ sich übrigens seit unserer Morgenunterhaltung seltener bei uns blicken. Ein Vierteljahr lang kam er gar nicht; dann stattete er kurze Besuche in immer längern Zwischenräumen ab; – mich schien er immer weniger zu beachten, und ich tat natürlich nichts, seine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, sondern ging ihm soviel als möglich aus dem Wege.

Den Herrn Agenten Pinnemann brachte mein Vater von einem Spaziergang mit; die Bekanntschaft desselben hatte er »ganz zufällig« gemacht, und wie schwer der Mann wieder loszuwerden war, das sollten wir erfahren, aber wir nicht allein.

Allmählich fing er an, seine Lebensweisheit vor mir auszukramen. Er war so offen, so naiv, so ohne Falsch. Seiner Meinung nach ließ es sich so gut und leicht und angenehm in der Welt leben, wenn man nur den geringsten guten Willen dazu mitbrachte. Er selbst – Karl Pinnemann – war ein lebendiges Beispiel, die vortrefflichste demonstratio ad oculos davon. Wie der Mensch aus nichts etwas werden könne, bewies er glänzend; »Bescheid zu wissen« war alles, was man brauchte, um jedem Schicksal gewachsen zu sein; – eine halunkenhaftere Philosophie war noch niemals mit harmloserer Miene doziert worden.

Der Vormund mag später selbst auseinandersetzen, weshalb er mir dieses Wesen in den Weg warf und weshalb grade dieser Mann sich zu diesem Dienst gebrauchen ließ; ich habe an dieser Stelle nur zu sagen, daß das, was der Vormund wollte, geschah.

Jener meiner Natur vollkommen entgegengesetzte Charakter übte allmählich eine immer größere Wirkung auf mich aus. Wenn ich mich anfangs mit Grimm und Ekel von ihm kehrte, so änderte sich das bald. Ich hörte ihm immer aufmerksamer zu, ich begann mit ihm zu streiten, ich lachte über ihn und – ließ mich von ihm führen.

Wahrlich, ich lernte die Welt unter seiner Leitung von einer neuen Seite anschauen! –

Pinnemann machte sich sowenig Illusionen wie der Notar Hahnenberg; aber weit entfernt, die Welt kaltlächelnd zu verachten wie mein Vormund, suchte er sich ihrer in brutaler Genußsucht zu bemächtigen, und aller Firnis konnte die Gemeinheit seiner Natur nicht vertünchen. Er war schlau; aber ihm mangelte zuletzt doch die Klugheit, welche im Schlechten wie im Guten etwas Großes erreicht. Er war der Mann der kleinen Geschäfte, der kleinen Intrigen, der Bübereien, welche dicht an dem Kriminalgesetzbuch herstreifen. Er verkaufte jetzt Auswanderer an amerikanische Güterspekulanten, und er hatte in früherer Zeit unzüchtige Bücher und Bilder verkauft. Er lieh Geld an junge Leute aus den bessern Ständen und an arme Handwerker, welche sich in augenblicklicher Verlegenheit befanden. Letztere ruinierte er dadurch gewöhnlich vollständig. Ein Dutzend andere ähnliche Erwerbszweige benutzte er mit Geschick, und es war sein Ruhm, daß »seine Flöte mehr als ein Loch habe«.


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