Wilhelm Raabe
Drei Federn
Wilhelm Raabe

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VI

Achtzehnhundertzweiundsechzig

Wenn der Abend herabgesunken ist, wendet sich der Wanderer gegen seine Fußtapfen, und sie verfolgen ihn oft sogar bis in seine Träume. Das ist erklärlich; denn, o Bruder Straubinger, was für einen Weg haben wir hinter uns! Was für Glossen haben wir zu machen über grobe Wirte, schlechte Herbergen, Polizei, Flöhe und Fliegen, Hitze und Kälte, Hunger und Durst! Wie oft haben wir unsere Stiefel in der aufgeweichten, zerfließenden Landstraße steckenlassen! Wie oft hat man uns in die Irre geschickt, um sodann hinter uns herzulachen und seinen Witz an uns zu üben!

Was haben sie uns alles ins Wanderbuch geschrieben! Und, Bruderherz – komm heran – ein Wort ins Ohr: Weißt du noch da und da, das und das? Bruder Straubinger, ganz blind und dumm sind wir doch auch nicht durch die Welt gelaufen, und wer kann die Schnitte zählen auf dem Kerbholz, welches die ewige Gerechtigkeit für uns neben die große, dunkle Tür, die in das große, dunkle Ungewisse führt, gehängt hat?

Man hat gewöhnlich Grund zur Verwunderung, wenn man sich mit untergehender Sonne gegen seine Fußtapfen wendet; wenn es auch oftmals kein Vergnügen ist, auf den zurückgelegten Weg bis in die undeutlichste Ferne zurückzublicken, so ist es doch immer interessant, zumal da der Punkt, das Ziel, von welchem aus man zurücksieht, sehr häufig hinter der Erwartung des jungen Morgens zurückblieb. Wenn nur nicht das Interesse so oft in das Grauen überginge! Jeder Augenblick des Lebens kann zu einem Gespenst werden, welches nach Jahren hinter der spanischen Wand des Vergessens hervortritt, gleich dem Skelett in der Pantomime, und kettenrasselnd der Gemütsruhe, der beschaulichen Behaglichkeit des Sonntag-Nachmittags oder der stillen winterlichen Abendpfeife ein Bein stellt.

Da steht ein Blatt Papier, vor mehr als dreißig Jahren vollgekritzelt, gegen mich auf, und was, »als wir noch jung waren«, zwischen Grimm und Lachen in gewöhnlicher Dinte auf gewöhnliche Lumpen niederschlug, das erscheint nunmehr plötzlich in gelben Feuerzügen an der Wand, um Zeugnis zu geben, daß der Mensch alt, sehr alt wird. Es raschelt in den vergilbten Blättern, und eine kleine allerliebste Faust wird mir unter die ehrwürdige Nase gehalten, und Frau Mathilde Sonntag liest ab aus dem moderduftigen Schulheft:

»Von allen Erdgeborenen weiß ein Jurist am besten mit Gespenstern umzugehen; ein Ding, welches nicht mehr vor Gericht zitiert werden kann, ermangelt für ihn jeglicher Bedeutung, und wenn er – was geschehen kann – es zitieren muß, um einen Nebenmenschen in die Dinte zu reiten oder ihn daraus zu erretten, so tut er es zwar mit Pathos, aber doch mit innerlichster Verachtung und potenziertestem geistigem Achselzucken.«

Hier sitze ich, August Hahnenberg, mehr als sechzig Jahre alt, und versuche es, den alten, morschen Faden, welcher vor dreiunddreißig Jahren abbrach, weiterzuspinnen, während Atropos zuwartend die Spitze der Altjungfern-Nase an der Schere reibt:

»Mach fort, mein alter Knabe; es bricht ein anderer Faden, der sich nicht wieder anknüpfen läßt.« –

Ach Frau Mathilde, ich gestehe, daß ich es nicht verdient habe, wenn man nächstens an meine Tür klopfen wird, um mir einen Strauß und eine Pastete sowie die besten Geburtstagswünsche zu bringen. Frau Mathilde, ich gestehe es, daß mir ganz und gar zumute ist, wie jenem Herrn Böttcher sein mußte, welcher sein ganzes Leben durch in Kummer und Sorgen die große Kunst, Gold zu machen, suchte und zuletzt in Ketten und Banden auf dem Königsstein etwas viel Besseres fast gegen seinen Willen fand, nämlich die Kunst, Porzellan zu machen, und dafür Kurfürstlich Sächsischer Hofrat wurde. Ich bin nicht Kurfürstlich Sächsischer und Königlich Polnischer Hofrat; ich habe die Rute bekommen und nachher ein Stück Kuchen mit vielen trefflichen Rosinen; ich danke bestens dafür, Frau Mathilde Sonntag! Fest überzeugt, daß bei einer neuen Sündflut, um dem Geschlecht sein Recht zu geben, es nichts anderes als Dinte regnen wird, hoffe ich zugleich, nach Beendigung dieser Generalbeichte nichts mehr schreiben zu brauchen, hoffe ich, meine Feder an den Nagel hängen zu können wie Cid Hamed ben Engeli, wenn auch nicht mit gleich gehobenem Gefühl wie der weise Maure. –

Der Abend ist herangekommen, als sollte wirklich so etwas wie eine Dinten-Sündflut daraus werden. Wer aber erfahren hat, wie merkwürdig schwarz die Nacht unter Umständen sein kann, der weiß auch, welch ein Licht ein einziger Johanniskäfer in den Busch zu werfen vermag: vor einer halben Stunde ist Mathilde fortgegangen und hat mir das »Familien-Sündenregister« auf dem Tische zurückgelassen.

Wie gesagt, da liegt es, und hier sitze ich, Augustus Hahnenberg, Michels Sohn, und darf fortfahren, wo ich vor einem Menschenalter aufgehört habe – o lampyris noctiluca, o Frau Mathilde, Frau Mathilde! –

Das junge Volk glaubt, den Lebensprozeß contra Hahnenberg gewonnen zu haben. Sie kommen jung, gesund und lachend, sie bringen mir ihre Kinder, ihre sonnige Gegenwart, ihre schmeichelnden Hoffnungen, sie sind mitleidig, weil sie glücklich sind, streicheln mir das Kinn, schieben mir weiche Polster unter die Füße und hinter den Rücken; sie sind so zärtlich und verlangen weiter nichts, als daß der alte, mürrische Knabe im Großvaterstuhl seine drei Kreuze unter die Akten mache; und die Vergangenheit, welche ihrerzeit auch wohl dann und wann ihren Willen gehabt hat, hält die Nase vor dem Moderdunst zu und tut dem lächelnden Tage den Gefallen.

 

»Ach Joseph«, sagte ich auf der Treppe, »wir haben ein großes Unglück in Geduld zu tragen. Möge dein Junge mehr Glück im Leben haben als wir beide –«

»Gott segne dich!« schluchzte Joseph – und die Gedankenstriche, welche dann einige Zeilen weiter folgen, bedeuten ein Menschenalter, und je weniger diese Vorstellung zu bedeuten hat, desto grimmiger wird sie.

Ich machte mich sanft aus der Umarmung meines Freundes Joseph Sonntag los, ging die Treppe hinunter, dann durch die Gassen und zuletzt, ganz leise, an meine Geschäfte. Bedachtsam setzte ich mich vor dem Aktenhaufen nieder, schnitt eine neue Feder im harten Kampf gegen das Zittern der Hand und schrieb auf einen reinen, weißen Bogen die Formel, welche man früher den Chirurgen in den Lehrbrief schrieb:

Sis strenuus, audax, sollers et immisericors.

Sei stark, kühn, gewandt und mitleidlos.

Mit ironisch-wilder Gewalt packte ich das Leben; ich wußte, daß der Egoismus gleich dem Lichte seinen Strahl unendlich brach und den Dingen ihre Farbe gab; ich nahm den Egoismus für das Licht dieser Welt und richtete mein Denken und Tun danach. Das Leben war mir das Tuch voll reiner und unreiner Tiere, welches dem fastenden, hungernden Apostel vom Himmel herabschwebte, und ich vernahm dieselbe Stimme, welche zu Peter dem Menschenfischer auf dem Dache zu Joppe sprach: »Schlachte und iß!« – Stark, kühn, gewandt und mitleidlos hatte ich mir meinen Weg zu bahnen; ein Rückblick aber mag mir an dieser Stelle gegönnt werden.

Es leuchtete kein lichter Stern in der Stunde meiner Geburt; manch ein ganz gewöhnliches Patengeschenk, welches sonst ein auch hartherziges Schicksal ohne allzu sauere Miene in die Wiege legt, war mir mürrisch vorenthalten worden. Es regnete, als ich den ersten Schrei ausstieß, und unter dem Regenschirm habe ich mein ganzes Leben hindurch gehen müssen.

Ich sah das Kleine, Kümmerliche, Verdrießliche in einem viel dunkleren Winkel, als jener war, über welchen sich mein Mündel August Sonntag so sehr beklagt; das Heitere, Kindliche, Lächelnde, Anmutige, welches mein Freund Joseph selbst in seinen traurigsten Tagen zu geben hatte, ist mir von niemand gegeben worden. Niemals in meiner Kindheit durfte ich mich einer Freude wahrhaft erfreuen; jeden kleinen Genuß hatte ich durch List, Gewalt oder gar heimtückisch zu erhaschen; und wenn mein Körper in gleicher Verkrüppelung wie mein Geist aufgewachsen wäre, so würde ich heute in einer Marktbude oder in dem Glaskasten eines anatomischen Museums als eine recht sehenswürdige Merkwürdigkeit gezeigt werden. Ich wuchs aber ziemlich normal auf, bekam Zähne und ein scharfes Auge, wuchs schneller aus meiner Kindlichkeit als aus meinen ersten Hosen und erlaube mir die Bemerkung, daß es ein interessantes, aber furchtbares Buch in der Welt geben würde, wenn es einmal einem Kinde – gleichviel welchem – gegeben wäre, seine Philosophie in ein System zu bringen und niederzuschreiben. –

Über mein Verhältnis zu der Tochter des Nachbars habe ich heute als Greis nichts weiter hinzuzusetzen, als daß ich nicht so töricht bin, mich gegen die Gewißheit, daß eine Vereinigung mit ihr ein großes Unglück gewesen wäre, zu sträuben. Ein dumpfes Bewußtsein der schrecklichen Fähigkeit, den Schwachen elend zu machen, habe ich eigentlich immer gehabt.

Mein Leben ist schlußrichtig nach den Prämissen verlaufen. Wenn ich meinen Augenblick des Triumphes hatte, so bin ich doch im Siege matt geworden und habe somit das Schicksal aller derer geteilt, welche nicht Heroen werden können. Nun ist die Zeit der Ausgleichung, die Linderung gekommen; ein langes, mühevolles Dasein hat mich müde und dadurch weicher gemacht; meine zweite Kindheit wird vielleicht um vieles glücklicher sein als meine erste, und jedenfalls werde ich nicht mit dem Geschrei aus der Welt scheiden, mit welchem ich sie betrat.

Immisericors, ohne Mitleid, auch gegen mich, werde ich jetzt meine Laufbahn bis zu den gegenwärtigen Stunden darlegen.

Denen, welche den wenigsten Genuß und Nutzen aus dem, was man gewöhnlich Glück nennt, zu ziehen verstehen, fällt dieses sogenannte Glück sehr häufig in größter Fülle zu: die Geizigen dürfen Geld nach Belieben aufhäufen, die Dummköpfe erhalten die schönsten Frauen und wohlklingendsten Titel, die Murrköpfe erhalten einen weiten Kreis gutmütiger, fröhlicher Menschen, welchen sie nach Kräften die Existenz ungemütlich und zu einer Qual machen dürfen; den Gleichgültigen und Stupiden werden auf Reisen alle Herrlichkeiten der Welt vorgeführt, und der Advokat Hahnenberg bekam eine Praxis, welche manchem geldsüchtigen, kinderreichen und ehrgeizigen Kollegen ein Dorn im Auge war.

Ich habe manchen Rattenkönig menschlichen Ärgernisses auseinandergerissen; ich habe durch manche lange Nacht die Fäden manches närrischen Wirrsals zu entwirren gesucht, während hundert angstvoll klopfende Herzen, ungeduldig in Hoffnung und Furcht, auf das Gelingen oder Mißlingen meiner Mühen warteten. Ich habe kühl über das Gebelfer und Gezerr liebender Verwandten, welche sich über eine Erbschaft zankten, hinweggesehen; ich habe siegreich erkämpfte Lumpen und Lappen jeglicher Art an meine Klienten verteilt; ich habe um Rittergüter und Menschenleben gestritten und habe Schlachten gewonnen, die mich hätten stolz machen können, wenn der Stolz ein Genuß für mich gewesen wäre; leider fand ich eine gewisse Befriedigung nur, solange der Kampf dauerte, nicht aber mehr, wenn er beendet war.

Das, was die Menschen »Glück« nennen, läßt sich niemals unter den Scheffel stellen, und so wurde auch mein Glück bald offenkundig und meine Arbeitskraft bekannt. So war's denn kein Wunder, daß bald Verdruß, Kummer, Kränkung, Unglück, Neid und Haß einzeln und haufenweise meine Türglocke zogen und von mir vor irgendeiner Erdengewalt vertreten sein wollten. Als das Apotheker- und Drogeriewarengeschäft Spierling und Kompanie Bankerott machte, war's mir zur Gewißheit geworden, daß ich binnen kurzer Zeit ein recht wohlhabender Mann sein werde. Ich trieb lustig vor dem günstigsten Winde dahin, während sich von dem Wrack des andern reichen und einst sehr seetüchtigen Schiffes kaum einige schlechte Planken und leere Tonnen retten ließen.

Nachdem der letzte Wimpel des Hauses Spierling versunken war, begann ich meine Vormundschaft über Joseph und August Sonntag mit dem festen Willen, sie zu einem guten Ende zu führen, wie ich es meiner Jugendliebe versprach; aber ich vermochte es nur auf meine Weise, und die Wirkung des Eisens auf den Sandstein wird stets dieselbe bleiben. Das erste kann den andern wohl modellieren und ihm alle möglichen Formen geben; aber es kann nimmer sein Wesen, seine Natur verändern. Ich sah ein, daß ich nur dem Kinde Karolines von wirklichem, bleibendem Nutzen sein könne, und danach richtete ich meine Handlungsweise ein.

Um des Kindes willen durfte ich den Vater nicht in zu behagliche Umstände versetzen; ich hielt eben die Schule, in welcher ich selber aufgewachsen war, für die beste und naturgemäßeste, und August Sonntag hat nur die eine Seite der Medaille gesehen und danach, wenigstens lange Zeit hindurch, mein Wollen geschätzt und abgewogen. Auch das war naturgemäß, und es läßt sich nichts dagegen sagen.

Ich liebte dieses Kind, welches mir so plötzlich in meiner Einsamkeit auf die Arme gefallen war. Es kam mir vor, als wolle das Schicksal mir in diesem jungen Menschenleben eine Brücke zu einem freundlicheren Dasein schlagen; es konnte gewissermaßen die Versöhnung einer kranken Natur mit der Welt bewerkstelligen, und anfangs unbewußt, dann aber ganz klar, hatte ich das Mandat auch in diesem Sinne angenommen.

Mein ganzes Wesen hatte mich auf das Experimentieren mit den Dingen hingewiesen; ich fühlte mich stark – strenuus et audax –, und meine juristische Laufbahn war wohl geeignet, mich in meiner Selbstschätzung zu befestigen und zu stärken; ich wollte mein Mündel zum Menschen bilden, zum Menschen, wie ich ihn verstand – stark, kühn, gewandt und mitleidlos; zugleich war es aber meine feste Absicht, ihn glücklicher zu machen als mich; die Art und Weise freilich, wie der letztere Punkt ins Werk gesetzt werden sollte, war die dunkelste Stelle in meinem Erziehungsplan. Nicht mit rosenfarbiger Dinte schreibe ich dies Blatt; ich habe es mit allem sehr ernst genommen und will an diesem Ort gestehen, daß ich stets Bitterkeit auf der Zunge schmeckte, wenn ich den Mund zum Lächeln verzog. Da ich die Bitternis nie für das Unedelste auf Erden geachtet habe, so mußte ich fast unbewußt dafür sorgen, daß mein Mündel sie in vollen Zügen zu kosten bekam. Es war das Recht des Sohnes meines Jugendfreundes, mich anfangs für eine Art bösen Prinzips zu halten; was ich jedoch nach dem Tode Karolinens noch an Neigung zu vergeben hatte, das häufte ich auf diesen Kindeskopf, und während mich der Knabe für einen nahen Verwandten des Hoffmannschen Sandmannes nahm, wachte ich mit Argusaugen über seine Entwickelung und grübelte, ihm den Weg freizumachen.

Mit Bedachtsamkeit habe ich das Manuskript meines Zöglings gelesen und habe nichts dagegen zu erinnern. Es ist objektiv genug gehalten und gibt mir recht, wenigstens bis zu einem gewissen Grade. Daß die Lebenslinien und Anschauungen zweier vernünftiger Wesen nicht in alle Ewigkeit parallel nebeneinander herlaufen werden, weiß ich – halten ja das selbst die Herzen zweier Liebenden ungemein selten aus.

 

Ich verschaffte dem Vater August Sonntags die Mittel, die Arbeiten, welche ihn erhielten und den letzten kümmerlichen Funken von Selbsttätigkeit in ihm vor dem Erlöschen schützten. Ich hätte ihn freilich die gewohnte Traumexistenz fortspinnen lassen können, aber das lag nicht in meinem Plan, denn ich wollte das Kind des Träumers in meinen Kreis ziehen, und dazu gehörte die Dunkelheit, die Armseligkeit, ja sogar der Schmutz in jeder Beziehung. Künstlich mußte ich den Sohn Karolinens in der Wüste und Öde halten, welche mir zuteil geworden waren; aber es war meine Absicht, das Licht, die Freiheit, den Reichtum zur rechten Zeit kommen zu lassen; und wenn nicht alles so geworden ist, wie mein Schema es verzeichnete, so kann ich doch sagen, daß ich es war, welcher das Eisen in das Blut des Sohnes Joseph Sonntags legte und ihn vor dem Kryptogamenleben des Vaters bewahrte.

Ein eigentümlich erfreuliches Bild hat mein teurer Schützling von mir entworfen! Ich sehe mich leibhaftig in die Tür kommen, »sehr elegant, schwarz vom Kopf bis zu den Füßen, unhörbaren Trittes, hüstelnd mit seitwärts gesenktem Kopfe, kaum zu unterscheiden von dem Schatten der kommenden Nacht«. Etwas unheimlich ist das Ding jedenfalls, und die Vergangenheit steigt mir recht lebendig aus dieser Schilderung empor.

Wahrlich, ich war ein starker Mann! Ströme von Dinte hatten mich nicht ersäuft; ich stand fest in meinem philosophischen System – glatt und kugelrund und ohne die geringste Handhabe zur Bequemlichkeit des lieben Nächsten und Nachbars. Meisterlich spielte ich Schach, und der Verfasser des Buches vom Prediger Salomo hätte seine Lust an mir haben müssen: »Alles, was dir vor Handen kommt zu tun, das tue frisch; denn in der Hölle, da du hinfährst, ist weder Werk, Kunst, Vernunft noch Weisheit.«

Im harten Kampfe gegen die sanfteren Gefühle und Herzensregungen setzte ich mein Erziehungsexperiment fort. Es war wohl nötig, daß ich dann und wann die Kinderspiele unterbrach und meine schwarze Figur vor die bunte, märchenhafte Laterna magica schob. Das leichte, schnellflutende Blut der Eltern verleugnete sich nicht in dem Kinde. Der Mensch, den ich formen wollte, durfte nicht im phantastischen oder vielmehr phantasievollen Halbdunkel die Tage versitzen, durfte nicht sich diesen zauberischen Halluzinationen hingeben, welche den Geist fürs ganze Leben in eine feine blaue Wolke hüllen und ihn der Welt und die Welt für ihn zu einem mehr oder weniger reizenden, aber immer verschwimmenden, unbestimmten, unwahren Etwas machen können.


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