Wilhelm Raabe
Drei Federn
Wilhelm Raabe

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Purzelbaum kam an der rechten Stelle. Auf die Zeit des ungetrübten, sonnigen Glückes der ersten Liebe folgte ein verschleierter Horizont, welcher es zweifelhaft ließ, was aus dem Wetter werden würde; sodann stieg von irgendeinem moralischen Moorbrennen ein verdächtiger Dampf auf, welcher die Landschaft, wo so viele zarte Gefühle in schönster Blüte standen, unheimlich überzog: die Madam Feuchtenbeiner litt wochenlang an Kopfweh. Endlich fing es leise an, in diesen Höhenrauch hineinzuregnen, dann wurde das Wetter noch einmal acht Tage lang ziemlich klar, bis plötzlich in einem gewaltigen Donnerwetter und Sturmwind die Elemente ihren Leidenschaften den Zügel schießen ließen: in aufgelöstester Furienhaftigkeit stürzte die Madam Feuchtenbeiner in mein Studierzimmer.

»Es ist heraus! Es ist heraus! O der Bösewicht! Der Hanswurst! Der Spitzbube! Der abscheuliche Spitzbube! Und ich habe für ihn gesorgt wie eine Mutter, und ich habe ihn immer hereingelassen, wenn er Sie sprechen wollte, Herr Notar, und nun ist es heraus –«

»Ich bitte, Madam –«

»Jawohl, Herr Notar; liebster Herr Notar« (mit einem Faustschlag auf die Folio-Ausgabe von Montaignes Werken von 1640), »hier ist der Knorpumjuris, darin steht's, ich kenne ihn an seiner Dicke, und ich habe auch Ihnen diese ganzen lieben langen Jahren abgewartet wie eine Mutter, Sie müssen mir vertreten vorm Gericht, denn daß ich ihn verklage, das steht fest, und aus dem Hause muß er mir auch, auf der Stelle! O Gott, o Gott, und das will eine Menschheit sein, und das deklamiert dem Schiller: ›Ehret die Frauen‹ und ›Freude schöner Götterfunken‹ und dem Heine: ›Du bist wie eine Blume‹, und wer weiß was sonst noch! Oh, der Halunke, die Augen kratze ich ihm aus und dem Frauenzimmer, der schlechten, schlechten Person auch!«

Es hatte sich manche Woge an mir gebrochen, auch diese brach sich, und ich erfuhr die Ursache des Getöses.

»Unmöglich!« sprach ich. »Madam Feuchtenbeiner, es ist unmöglich! Ich kenne das menschliche Herz, und ich kenne den Magen des Menschen. Beruhigen Sie sich, Madam; die Erfahrung mehrerer Jahrtausende spricht gegen die Möglichkeit eines solchen Phänomens.«

»Jawohl, Phänomen!« schrie die Madam. »Grade so hat er das Frauenzimmer genannt! Er hat's mir ins Gesicht gesagt, und alle meine Güte und Liebe ist weggeworfen, und ich will's zu meiner Schande gestehen, er hat den Schlüssel zum Weinkeller! Aber nicht wahr, Herr Notarius, er muß aus dem Hause, auf der Stelle aus dem Hause? Er hat sich an uns festgesogen wie ein Blutegel, und wie schlecht er in der Speisekammer von dem Herrn Notar gesprochen hat, mag ich gar nicht in den Mund nehmen. O Herr Notarius, was haben wir beide alles an diesem Menschen getan! Aber nun wendet sich mein Innerstes nach außen, und ich will alles vor jedem Kriminalamt zu Protokoll geben und auf dem Komposjuris beschwören, daß er vor meinen leiblichen Ohren gesagt hat, aus diesem selbigten Zimmer, in welchen der Herr Notar sitzen, wollten wir unsern Salong machen, und wenn wir auch nicht viel vom Juden für die Bücherscharteken besehen würden, eine neue Verputzung des Hauses würde es doch wohl abwerfen, und es wäre nur schade, daß wir den Herrn Notar nicht an die Anatomie verkaufen könnten: nicht wahr, er muß mit Sack und Pack auf der Stelle aus dem Hause?«

»Ich sehe die Notwendigkeit nicht ein«, sprach ich, und die Madam ließ die Hände sinken und starrte mich an. »Schicken Sie mir doch unsern werten Freund, sobald er nach Haus kommt«, fuhr ich fort, und laut schluchzend stürzte das gekränkte und getäuschte Weib fort. Ich stattete meinen Laren und Penaten den ihnen gebührenden Dank ab. Das war eine Neuigkeit, die sich hören und sehen lassen konnte.

So fahren wir durch die Welt, wie die Fliegen über dem Sumpfe, blitzschnell vorüber aneinander, schwirrend umeinander herum, nach allen Richtungen auseinander; so stoßen wir mit den Köpfen zusammen und greifen sehr verwundert nach den Brauschen.

Also die Schwester jenes Blinden!... Armer Bursche!

Ich hatte in diesem Augenblick eine Art von Vision, ein Gemisch von Triumph und bitterm Schmerz. Also doch gepackt von den Unterirdischen! Fühlst du die Schlinge um den Hals, Friedrich Winkler?... Also doch gefaßt von den eisernen Haken der Gemeinheit! Sträube dich! Sträube dich! Schüttle deine Flügel! Du hast mir einen guten Sieg abgenommen, und ich habe dich beneiden müssen; du erhobest dich in deiner Unwissenheit über meine Weltklugheit – was wird nun das Ende sein? Wir werden uns begegnen auf dem Kreuzwege, wir, die wir auf so verschiedenen Pfaden hinschritten durch die Welt. Armer Friedrich, es ist doch ein schlechter Trost, daß wir nichts voreinander voraus haben, daß wir, der eine wie der andere, mit hunderttausend Brüdern oder Weizenkörnern, der mächtigen, schweren Hand verfallen, die uns unbarmherzig von dem vollen Scheffel streicht! Weshalb haben wir uns auch nicht gedrückt wie die andern? Es würde wohl noch ein behagliches Plätzchen für uns übrig gewesen sein!

Diesen oder einen ähnlichen Monolog hielt ich, indem ich auf die Erscheinung meines Hausfreundes wartete; ich wußte, daß er die Unverschämtheit haben werde, zu kommen; hatte er ja den Glauben, mich zu beherrschen.

»Herr Notar«, sagte er, »Sie sehen einen Narren vor sich; ich weiß, daß Sie sich nie in betreff meiner getäuscht haben und daß ich nichts bin in Ihren Augen als ein Lump, der auf seine Weise nach Luft schnappt. Sie machen sich nichts aus dem, was die Welt spricht, und ich mache mir nichts daraus. Sie haben der Welt demonstrieren wollen, daß man mit einem Lumpen leben und doch der Herr Notar Hahnenberg bleiben könne – bon! Und ich – ich lasse es mir gefallen, weil es mir Gelegenheit gibt, meine Flossen in der Sonne zu wärmen – dito bon! Sie sehen einen Narren, einen ganz extraordinären Narren vor sich, und ich weiß, daß die Hexe drunten in der Küche hier um Sie herum die Luft für mich vergiftet hat. Hier stehe ich wie der gefärbte Esel aus Gellerts Fabeln – grün an dem Leib, rot an den Beinen –, und wenn es nicht anders sein kann, so will ich ausziehen, denn ich verdiene es in der Tat nicht besser; es ist zu dumm, zu abgeschmackt, ich weiß es, aber ich kann ja nicht davon lassen, die kleine spanische Fliege hat es mir angetan; – o Herr Notar, Sie sollten sie nur kennen!«

»Wie alt ist das Mädchen?«

»Ja, da liegt's! sagt Shakespeare. Achtzehn oder neunzehn – höchstens zwanzig Jahre. Und ich habe fast ein halbes Jahrhundert auf dem Nacken und verdiene von Rechts wegen, jeden Morgen fünfundzwanzig aufgezählt zu kriegen; aber ich bin verhext, und jetzt sehe ich klar den Unterschied zwischen einem großen Mann und einem kleinen. Ich habe mich mein ganzes Leben durch bestrebt, mich nach dem Herrn Notar zu bilden; ich habe mir so viele Mühe gegeben, und nun sitze ich in meinen alten Tagen da fest, wo der Herr Notarius vor vierzig Jahren anfingen; – es ist zu lächerlich, es ist zu dumm!«

Ich machte eine Faust in der Tasche meines Schlafrocks, aber ich zeigte sie dem Schuft nicht; denn der Rechtssinn und die Verblüfftheit hielten dem Ärger die Waage; ich ließ mich nur nach einer nachdenklichen Pause in alle Einzelheiten dieser merkwürdigen Tatsache einweihen und sorgte wie immer dafür, daß ich nur die Wahrheit, nichts als die Wahrheit erfuhr. Wie dieser Mensch durch das, was er »Liebe« nannte, so vollständig über den Haufen geworfen werden konnte, um alle seine kleinen Schlauheiten zu vergessen, um ganz und gar, wenigstens zeitweise, außerstand gesetzt zu werden, wie sonst seinen Vorteilen nachzugehen, zu kriechen und zu schleichen – warf auch mich fürs erste über den Haufen. Ich entließ den Harlekin, nachdem ich ihm die Ruhe meines Hauses eindringlichst anempfohlen hatte, und blieb allein mit dem besten Willen, die möglichste Klarheit und Ordnung in diese Verhältnisse zu bringen. Um einen guten Anfang zu machen, rief ich nach meinen Stiefeln, die seit langer Zeit in einem Winkel ein nutzloses Dasein führten; aber nachdem ich mit Mühe und Qual in sie hineingefahren war, ließ ich sie mir nach reiflicher Überlegung – wieder ausziehen: was half es, wenn ich hinter dem Volke, das jetzt lebte, in den Gassen herlief? War ich doch vor Jahren, als ich noch Lust an der Bewegung hatte, zurückgeblieben! Was ich in dieser Sache tun konnte, war leicht von meinem Armstuhl aus zu tun: ich hatte nur den Narren Pinnemann in möglichstes Ordnung zu halten; für das andere hatte mein Exmündel August Sonntag einzutreten, und ich erfuhr dann auch im Laufe des Sommers, daß derselbe herbeigerufen und gekommen sei – gekommen mit seiner jungen Frau. Von allen Seiten drang das, was schon längst nicht mehr in meinen Kreis gehörte, in denselben ein; es war plötzlich eine Veränderung mit mir vorgegangen, welche sich schwer schildern läßt. Trotz aller närrischen mouches volantes war mein Auge klar, mein Horizont frei geblieben; – was hatte es auf sich, was hatte es für Bedeutung für mich, daß ein Taugenichts einen Toren aus sich machte, daß ein Spielzeug, ein joujou, sein Geschnurr in meinen Händen änderte? Ich war allen greisenhaften Phantasmen zum Trotz jung gewesen bis zu diesem Augenblick; nun war das Alter über Nacht gekommen, denn ich verlor den Überblick; und die Gegenwart, der Augenblick, welche die zweite wie die erste Kindheit des Menschen beherrschen, gewannen ihr Recht über mich.

Es war ein wunderlicher Sommer. Ich, der ich mich nie geärgert hatte, ärgerte mich jetzt über die Fliegen an der Wand und über die Töpfe, welche die Madam Feuchtenbeiner in ihrem Grimm zertrümmerte. Ich bekam die Suppe versalzen und den Braten verbrannt, und Pinnemann – Pinnemann, mein Freund, mein Hofnarr und zweiter Schützling, Pinnemann, der in meinem Sold stand, um Purzelbäume vor mir zu schlagen, Pinnemann behauptete, das geworden zu sein, was die nichtsnutzige Welt »moralisch« nennt; er weinte vor mir, er drapierte sich in Reue, Zerschlagenheit und gute Vorsätze; er hatte »eine Göttin glücklich zu machen«. –

Es gab eine Zeit, wo ich mit großem Eifer das trieb, was die Million »Politik« nennt; ich nannte es Philosophie der Geschichte, um dem Dinge ein erhabeneres Ansehen zu geben, und der Name tat hier wie überall das meiste zur Sache. Es gab eine Zeit, wo ich die Geschicke der Erde abwog wie ein auswärtiger Minister der deutschen Mittelstaaten, wenngleich mit etwas weniger Bewußtsein meiner welthistorischen Bedeutung und Unentbehrlichkeit. Es gab eine Zeit, wo ich meine geistige und körperliche Hypochondrie in alle jene kindisch-hohen Fragen an die Gottheit, aus welchen der unzufriedene Mensch sich so gern den Mantel seiner Weisheit zusammenschneidert, auflöste. In jener stolzen Zeit würde ich es sehr lächerlich gefunden haben, wenn man mich aufgefordert hätte, ein Wesen kennenzulernen, welches der Agent Pinnemann, mein einstiger Schreiber, seine »Göttin« nannte. Jetzt fand ich es nicht mehr lächerlich.

Ich ließ mir diese Luise Winkler auf der Straße zeigen; ich sah sie am Arm ihres blinden Bruders gehen; ich beobachtete sie nach Überwindung mannigfachen Ekels in einem öffentlichen Garten und kam von diesem letzten widerlichen Wege matt nach Haus, setzte mich, ließ schwer beide Hände auf die Knie sinken und sprach:

»Was in aller Welt habe ich denn mit dieser Geschichte zu schaffen? Habeant! Mögen sie ihr Teil nehmen, habe ich doch das meinige nehmen müssen.«

Von diesem Augenblick an bis zu der Katastrophe im Herbst des verflossenen Jahres rührte ich mich nicht mehr und hatte strengen Befehl gegeben, nichts über die Türschwelle zu tragen, was nicht mit meinem allerpersönlichsten Behagen in Verbindung zu bringen sei. Ich fing um diese Zeit an, mich mit der Sprache und Kultur der Phönizier zu beschäftigen, zu gleicher Zeit aber stieg eines Morgens von irgendeinem in der Gasse verlornen Kohlstrunk eine feiste grüne Raupe zu meinem Fenster empor, kroch katzenbuckelnd über den Schreibtisch, stieg an der andern Seite desselben wieder herab, zog quer durch das Zimmer, kletterte an einem der Bücherrepositorien in die Höhe und verschwand hinter Athanasius Kirchers »Ars magna sciendi«, Amsterdamer Ausgabe von 1669, einem tüchtigen Folianten, der eine ungemeine Anziehungskraft für das Tier zu haben schien. Da ich das Buch nicht gebrauchte, hatte ich keine Ursache, dem Dinge den Weg zu verlegen; ich habe jeden Willen immer so weit als möglich respektiert. Wer konnte wissen, was für ein glückbringender Dämon in dieser grünen Raupe steckte, Frau Mathilde Sonntag geborene Frühling? Als ich nach acht Tagen den alten gelehrten Jesuiten, einer seiner subtilen Spekulationen wegen, hervorzog, stellte ich ihn vorsichtig sogleich wieder an seinen Platz – im Winkel zwischen dem Schnitt und der Pergamentdecke hing im grauen, zackigen Panzerrock die Hoffnung eines neuen Jahres und schlug bei leisester Berührung, sich sehr lebendig krümmend, mit dem Schwanze. En ars magna sciendi! Es war gestern nachmittag, Mathilde, als der ausgekrochene Schmetterling seine jungen Flügel auf meinem Schreibtisch entfaltete und mir und deinem Kinde, Mathilde Sonntag, um Nase und Näslein und die beiden gleich kahlen Schädel flatterte, ehe er seinen Weg zum Fenster hinaus und in den Frühling hinein fand; wer aber konnte sagen, was er am zweiten November des vorigen Jahres in seiner Puppenhülle träumte?

An diesem Tage war das Wetter in der Tat so, wie August Sonntag und sein Weib es schilderten, und in ganz unnovemberhafter Stimmung erwachte auch ich aus einem langen, vortrefflichen, traumlosen Schlaf. Keine Spur, kein Duft vom Papa Spierling! Kein schleichender Schatten an der Stubendecke! Kein hämisches Farbenspiel an der Wand! Es fehlten nur die Kirchenglocken, um das lyrische Gedicht meines morgendlichen Daseins vollständig zu machen; – ein außergewöhnlich lebhaftes Stimmengewirr in den untern Räumen des Hauses störte mich wenig in meiner Behaglichkeit. Ich war daran gewöhnt; Pinnemann und die Madam Feuchtenbeiner wünschten sich einen guten Morgen: die Liebe bringt eben nicht den Frieden, sondern das Schwert in die Welt. Während sie sich drunten auf dem Flur und draußen in den Gassen zankten, führte ich behaglich die weißen Lämmer meiner Phantasie auf die Weide, und als jemand leise an meine Tür klopfte, sprach ich mit Wohlwollen:

»Treten Sie nur ein, Pinnemann!«

»Guten Morgen, Herr Notar«, sagte eine freundliche Stimme. »Ich bitte tausendmal dieser Störung und Täuschung wegen um Verzeihung, hoffe aber, daß wir ihn Ihnen baldigst wieder in die Arme führen werden, und das mag mich entschuldigen.«

Nicht der Agent stand neben meinem Bett, sondern der geheime Agent Taube, den ich im Lauf meiner langen Praxis auch dann und wann nötig gehabt hatte. Lächelnd stand er da, eine geöffnete Schreibtafel in der Hand, und erstaunt konnte ich nur die Zipfelmütze lüften:

»Ei Herr Inspektor – was führt Sie – besten guten Morgen – wen wollen Sie in meine Arme zurückführen?«

»Ihren angenehmen Hausgenossen – meinen alten Jugendfreund und Schulgenossen Pinnemann – Karl Pinnemann – wissen Sie, Brüderschaft, ewige Freundschaft, Schmollis – jaja, ein jeglicher wandelt seine eigene Straße, aber wie sagt der Dichter? ›Der Zug des Herzens ist des Schicksals Stimme‹, und ferner: ›Ein jeder geht an sein Geschäft, und meines ist der Mord!‹ Bitte, sich nicht zu sehr zu alterieren, wir werden den lieben Flüchtling sicher noch vor seiner Abfahrt nach Amerika in die Arme schließen. Man inspiziert soeben unten seinen Nachlaß, und Ihre Gegenwart, Herr Notar, würde aus mehrfachen Gründen recht erwünscht sein; aber ich sage Ihnen für jetzt ein recht herzliches Lebewohl, und nun – auf nach Valencia! Wünsche Ihnen einen recht heitern Tag!«

Mit einer graziösen Verbeugung war die Erscheinung verschwunden, wie sie kam, und ich sammelte meine alten Knochen zusammen und fuhr in den Kaftan wie Shylock am Morgen, da Jessika mit den Dukaten und dem Türkis Leas durchging. Erst fühlte ich nach einem gewissen Schlüssel unter dem Kopfkissen und fand ihn glücklicherweise noch; dann aber gedachte ich einiger fälligen Wechsel, deren Einkassierung ich dem Entwichenen übertragen hatte, überschlug schnell die Geldsummen, welche außerdem im Bereich seiner Hände lagen, und gelangte unter dem auf dem Hausflur in immer höheren Tönen gellenden Hohn- und Triumphgeschrei der Madam Feuchtenbeiner zu der Überzeugung, um ungefähr fünftausend Taler an weltlichem Besitztum ärmer zu sein. Die Sache ließ sich tragen, und ich stieg hinab zu den Beamten, welche noch mit Versiegelung der Effekten Pinnemanns beschäftigt waren, einige Fragen an mich zu stellen hatten und mir ferner alle näheren Umstände, welche die schleunige Verfolgung möglich gemacht hatten, mitteilten. Die Prudentia, jene Feuer- und Hagelversicherung, welche ihrem ebenfalls flüchtig gewordenen Kassierer nachächzte, hatte den ersten Alarmruf erschallen lassen, und die Polizei hatte die kostbaren Minuten mit Hingebung benutzt; – man gab mir die Versicherung: es sei »kein Grund zur Besorgnis« vorhanden. –

Ich war im stillen ziemlich verwundert, daß die Madam Feuchtenbeiner mich noch nicht an ihrem Jubel hatte teilnehmen lassen. Jetzt stürzte sie, eben als sich die Beamten entfernten, in die Tür und beinahe mir an den Hals:

»Er hat sie mitgenommen, er hat sie mitgenommen, und jetzt ist alles gut und in Ordnung, und jeder hat sein Teil, und eine Gerechtigkeit gibt es auch noch im Himmel, und Sie, Herr Notar, rufe ich zum Zeugen vor Gott und den Menschen auf!«

Wiederum erfaßte mich der große Ekel an dem eigenen Sein und Wesen; – ich hatte an alles gedacht: an meine gestörten Morgenbetrachtungen, an die fünftausend gestohlenen Taler, an den Inspektor Taube, nur nicht an das hübsche, alberne Schwesterchen Friedrich Winklers. Mit einer Verwünschung, die ich nicht wiederholen kann, verkroch ich mich, ohne der entzückten Furie jetzt zu antworten, saß wie ein Stumpfsinniger vor meinem Tische und hörte, Stunde auf Stunde, die Glocken schlagen, ohne zur Besinnung gekommen zu sein. Um drei Uhr am Nachmittag jagte ich die Madam Feuchtenbeiner aus dem Hause, und zwanzig Minuten nach fünf – kam Mathilde Sonntag! – – – –

Es ist ein geheimes, geheimnisvolles, unheimliches Leben um den Menschen her in den Augenblicken, wo er nicht das geringste mehr mit sich anzufangen weiß, wenn der Tropfen, welcher den Eimer überfließen macht, herabgefallen ist. Man hört überall ein Klopfen, ein Krachen: die lebendig begrabene Vergangenheit ängstet sich ab und wehrt sich gegen die Finsternis und den Tod; aber es gibt ja keine Zukunft mehr, die Erde liegt hoch über dem Sargdeckel: was soll der Lärm?

Im Verhältnis zu dem langen, strengen, kampfvollen Leben, welches mein Teil auf Erden gewesen war und welches ich nicht in diese Bogen legen kann, wie ein junges Mädchen ein Vergißmeinnicht in ihrem Stammbuch aufbewahrt, war das, was mir heute an diesem zweiten November 1861 geschah, wenig bedeutend; aber es jagte mich aus meinem letzten Versteck. Zum erstenmal gab ich etwas auf das Urteil der Welt, zum erstenmal fürchtete ich, mich lächerlich zu machen; ich erhängte mich nicht. Ob ich diese Furcht vor dem Urteil anderer Leute auch morgen, übermorgen, in vier Wochen noch haben würde, war freilich eine zweite Frage.


 << zurück weiter >>