Wilhelm Raabe
Drei Federn
Wilhelm Raabe

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III

August hat das Wort

Ich, August Sonntag, Doktor der Medizin, Mathildes Gatte, nehme das Wort, wie es mir gegeben wurde, und füge, meinen Nachkommen zum Nutzen, mein Lebensbild den andern an und ein. In jeder Weise bin ich dazu gezwungen, denn ich habe arge Verunglimpfungen teuerer Abgeschiedener zurückzuweisen und habe zugleich einen Wohltäter für sich und mich zu retten. Daß meine Aufgabe nicht die leichteste ist, werden meine Kinder und Kindeskinder, für welche diese Blätter bestimmt sind, wohl zu würdigen wissen. Es lagerten böse, gefährliche Schatten über meiner Jugend, und der Mann, der das meiste tat, sie zu verscheuchen, ist derselbe, welcher über meine Eltern die Blätter schrieb, welche die Reihe dieser Aufzeichnungen eröffnen. Ich habe das Recht, auch das Meinige über ihn zu sagen, und das wird geschehen; denn ich bin es ihm und mir schuldig.

Meine ersten Erinnerungen heften sich an ein dunkles Hinterstübchen, dessen Fenster, vom Blau des Himmels fast ganz abgeschnitten, eine Aussicht in die Welt eröffneten, welche mit jener, die Kaspar Hauser vergessenen Angedenkens aus seinem Loche genoß, würdig konkurrieren konnte. Wir sahen in einen aus windschiefen, eng zusammengerückten Hausmauern gebildeten Hof, in welchem Hunde geschoren und gekämmt und die Pelze heimtückisch angelockter und verräterisch gemordeter Katzen getrocknet wurden und in welchem menschenähnliche Wesen andere Dinge vornahmen, die mit der Ästhetik nichts zu tun hatten, aber doch wohl in irgendeiner Hinsicht nützlich oder nutzbringend sein mußten. Es wundert mich heute noch, daß ich aus diesem erbarmungswürdigen Aufenthaltsort den kleinsten Funken reiner, heiterer Kindlichkeit in die lichtern Räume des Lebens, in welche ich später versetzt wurde, hinüberretten konnte. Seltsam ist's zu sagen, daß es wahrscheinlich eine gewisse, wenn auch gottlob nicht allzu überwiegende Nüchternheit in meiner Natur ist, die mich in dem ersten und somit für die spätern Jahre meines Daseins vor dem Versinken in Gefühllosigkeit, Gleichgültigkeit und Stumpfsinn bewahrte und bewahren wird. Die Götter wollten mich sozusagen nach homöopathischer Methode heilen, und da meine Frau mich gottlob doch immer noch ganz liebenswürdig, unterhaltend und teilnehmend findet, so ist auch für mich kein Grund vorhanden, mit meiner Charakteranlage unzufrieden zu sein.

Neben dem Fenster stand der Tisch, an welchem mein armer Vater nach den über ihn hereingebrochenen Katastrophen sein Leben ver- und erschrieb. Er hatte weiter nichts mehr als eine »schöne Hand« und stand in dem Wahn, daß er durch dieselbe sich und mich und die alte Frau, welche mir in meiner Unmündigkeit die nötige Hülfe leistete, erhalte. Er kopierte vom frühen Morgen bis zum späten Abend Akten, Dissertationen, und was man sonst abschreiben läßt. Da er, mürbe und müde, vollständig mechanisch schrieb, so war er ein vortrefflicher Kopist und machte selten einen Fehler.

Armer Vater! Dein krankhaftes, trübseliges Bild werde ich nie aus dem Gedächtnis verlieren; um tausend sonnige, freudige Erinnerungen würde ich es nicht hergeben. Es steigt immer zur rechten Zeit in meiner Seele auf, und dann strahlt es über die Dinge einen Schein, welcher dann nimmer eine Täuschung zuläßt.

Da sitzest du in der trüben Dämmerung über deine Papiere gebeugt, mit kahler Stirn und mattem, halberloschenem Auge; auf einem Bänkchen zu deinen Füßen sitze ich, und beide wissen wir nicht das geringste von dem Sonnenschein, welcher die Vorderseite des Hauses, in dem wir wohnen, welcher die Gasse, welcher die Welt bestrahlt! In dem dunkeln Hofraum vor unserm dunkeln Fenster kreischen zänkische Weiberstimmen, und von Zeit zu Zeit hebt sich ein schmutziges, freches Gassenjungengesicht, umgeben von wüsten, verwilderten Haaren, vor den Scheiben empor, glotzt grinsend auf des Vaters Arbeit; eine Zunge wird lächerlich lang nach mir ausgestreckt, und die Erscheinung verschwindet mit höhnischem, gellendem Geschrei. Ich habe mich ängstlich so dicht wie möglich an meines Vaters Knie gedrückt, denn ich kenne meine Feinde; und die Hand, welche sich beruhigend und ermutigend auf meine Haare legt, vermag mir nicht das Gefühl der Sicherheit zu geben. Der Vater seufzt, die Feder kritzelt, kritzelt, und ich sitze und erwarte mit Bangen ein abermaliges Auftauchen der jungen Kannibalenköpfe, ein neues Erschrecken, und denke an die blutenden Katzenfelle. Die beiden Weiber schimpfen immer toller, und das Sonnenlicht bleibt oben, ganz oben an den himmelhohen Hausmauern, welche unsern Hof umgeben; das Sonnenlicht kommt nimmer herab in unsere Tiefe, so gern es vielleicht auch möchte. Die Feder kritzelt, kritzelt, ich bin mühsam auf einen Stuhl neben dem Tische geklettert und sehe schläfrig zu, wie die weißen Papierbogen sich mit den schwarzen Zeichen füllen; wenn mein Vater einen Schreibfehler macht und ein Blatt zerreißen muß, so ist es in solchen Augenblicken, denn er teilt dann seine Aufmerksamkeit immer ungleicher zwischen seiner Arbeit und mir. Er sieht mich so träumerisch-traurig an, daß ich trotz meiner Jugend scharf und tief fühle, wie weh es ihm ums Herz ist. Wir sprechen eine stumme Sprache miteinander, und nur wenn die Arbeit nicht drängt, gebrauchen wir Worte, um uns zu verständigen. Es ist seltsam, wie leicht mein Vater dann die schwere Last, welche auf ihm liegt, abschüttelt und vergißt. Er lächelt, indem er mich ansieht; ich lache und zupfe ihn am Ärmel und suche ihm die Feder aus der Hand zu nehmen; vielleicht sitzen wir im nächsten Augenblick schon auf dem Boden und bauen eine Burg von Stühlen und den zerlumpten Kissen des alten Sofas, welches der Trödler so billig hergegeben hat. Mein Vater ist Kind geworden, wie ich es bin; er ist unendlich erfinderisch, viel kindlich-erfinderischer als ich. In solchen verlorenen oder vielmehr gewonnenen Minuten brauchen wir die Sonne nicht, und der Hof mit seinen Schrecknissen und Widerlichkeiten verliert seine Macht über uns. Der armselige Plunder um uns her wird lebendig, wie berührt vom Stabe eines Zauberers. Wir gebieten über Heere und Flotten, wir gehen auf die Tiger- und Löwenjagd; wir führen Komödien und Tragödien auf, wie sie keine königliche Hoftheaterintendanz zustande gebracht hätte. Ein Bogen farbiges Papier, ein Säckchen voll bunter Bohnen machen uns selbst zu Zauberern, und unser Hinterstübchen ist ein weites Reich geworden, welches in allen Ecken und Winkeln, hinter dem Ofen und unter dem Sofa, im Tischkasten und in den klaffenden Ritzen des Fußbodens unerschöpfliche Schätze der Verwunderung, des Erstaunens und der Lust birgt. Ist der heitere Augenblick aber vorüber, hat der harte Knöchel der dira necessitas an die Tür geklopft, so ist die Stube dunkler, dumpfiger als je; die Feder fängt wieder an zu kritzeln; ich sitze auf der Erde unter den Trümmern unseres Glückes, die Lumpen sind Lumpen geworden, was eben in tausendfachen Farben spielte, ward zu einem grauen Nichts, und das Beste, was noch kommen kann, ist ein gesunder, traumloser Schlaf, in welchem ich nicht durch das klägliche Geheul und Gewinsel des armen Ami, dem man am Morgen im Hofe vor unserm Fenster zur Verschönerung die Ohren stutzte und den Schwanz abhieb, beunruhigt werde.

Ich habe einen Tag aus der ersten Zeit meines Lebens geschildert, wahrlich einen der glücklicheren! Mein Vater war als ein Ehrenmann aus seinem Bankerott hervorgegangen; es hatte zuletzt niemand unter demselben gelitten als er selbst. Aber er hatte auch nichts aus seinem früheren Leben in das Elend mitgenommen als seine schon erwähnte schöne Hand und die Freundschaft des Notars Dr. August Hahnenberg, meines teuern Herrn Paten. Es ist ein übel Ding, nur eine schöne Hand zu besitzen, nicht rechnen zu können und Geist, Phantasie, Geschick und Witz nur im Verkehr und Spiel mit einem Kinde zu haben. Es ist entsetzlich, wie grob die Milchfrau werden kann, wenn sie acht Tage lang keine Bezahlung erhielt; es ist eine Geschichte zum Weinen, wenn der Holzvorrat ausgeht und der Winter eben anfängt; aber das schlimmste, das unheimlichste ist, wenn der Herr Pate in dem Hinterstübchen erscheint, um der Not ein Ende zu machen.

Ich fürchtete mich schrecklich vor dem Paten, obgleich der Vater ihn nicht genug zu rühmen, nicht genug Gutes und Vortreffliches von ihm zu erzählen wußte. Ich haßte den Paten für meinen Vater mit und ließ es ihn merken, soweit ich konnte und wagte. Das Kind hat eben noch grade genug vom Tier, um durch den Instinkt vor dem Gefährlichen, Falschen, Verderblichen geschützt zu werden; – nur die größesten Geister retten diesen Instinkt über die Kindheit hinaus, diese göttliche Naivität, in welcher zuletzt doch alles Große wurzelt. –

Es ist irgendein betrübter, sorgenvoller Tag hingegangen; die Dämmerung ist gekommen; ich sitze auf dem Knie meines Vaters, und er erzählt mir von meiner Mutter. Der Mann wie das Kind haben ihre Angst, Not und ihr Spielzeug in diesem Wort weit von sich geworfen: das Kind hört von seiner Mutter, der Mann spricht von seiner Liebe. Auf jedes schnöde, erbarmungslose Wort, auf jede eiskalte Ironie der ersten Blätter dieses Manuskriptes eine Blume jetzt und immerdar!

Mein Vater spricht von meiner Mutter wie von einer Heiligen – sie ist so sanft gewesen, so schön, und ihr Schritt so leicht und ihre Hand so weich. Sie ist so geduldig und freundlich gewesen; er hat sie so sehr geliebt, und sie hat so früh, so früh sterben müssen. Hätte sie länger gelebt, so würde vielleicht alles anders und besser geworden sein; aber sie mußte sterben.

Mein Vater weint, und ich weine, und dann horchen wir plötzlich und hören draußen einen langsamen Schritt, und es klopft jemand kurz an unsere Tür. Ich kenne diesen Schritt und dieses Anklopfen, ich schluchze weiter, aber gegen meinen Willen, ich kämpfe machtlos gegen meine krampfhafte Erregung, und vergeblich sucht der Vater mich zu beruhigen. Schon hat sich die Tür geöffnet, und mein Vater, der ebenfalls gern, nur allzu gern seine Tränen verbergen möchte und ebenso vergeblich wie ich sich zu fassen sucht, steht auf und tritt dem Besucher entgegen. Der Herr Notar Hahnenberg kann die Tränen nicht leiden. Ich stehe hinter dem Vater und will den Herrn Paten Hahnenberg nicht sehen.

Es ist ein ungefähr achtunddreißig Jahre alter, ziemlich langer, aber etwas vornübergeneigter, vom Kopf bis zu den Füßen sehr elegant in feines schwarzes Tuch gekleideter Herr, mit einem schwarzen seidenen Regenschirm unter dem Arm und den Hut auf dem Kopfe, ins Zimmer getreten, hat die Tür hüstelnd hinter sich geschlossen und steht jetzt und sieht uns mit seitwärts geneigtem Haupt an und wünscht uns einen vergnügten guten Abend. Er ist von dem Schatten der kommenden Nacht kaum zu unterscheiden; – der Herr Pate besucht uns selten in den hellen Tagesstunden.

»Sei herzlich willkommen, August«, sagt mein Vater, in dessen Stimme noch die Wehmut nachzittert, und darauf räuspert sich der Notar Hahnenberg und sagt »Haha!« und kommt uns näher.

»Wieder das alte Spiel«, murmelt er, und dann setzt er kurz hinzu:

»Nun, Joseph, was haben wir angefangen?«

»Wir sprachen von Karoline, August«, antwortet mein Vater leise und scheu, als erwarte er darauf eine Rüge, eine ärgerliche Erwiderung. Sie bleibt auch nicht aus.

»Zuviel Brei, viel zuviel Brei! Ich habe dir schon hundertmal gesagt, daß wir das Kind einer andern Zucht anvertrauen müssen, wenn dieses weichliche, weibische, unmännliche Wesen nicht bald zu einem Ende kommt. Du weißt, daß ich deiner Frau versprochen habe, für den Jungen zu sorgen; ich habe aber auch das Recht damit gewonnen, dabei meinen Ansichten zu folgen.«

»Es ist die Mutter des Kindes«, seufzt mein Vater; aber der Pate hält es nicht der Mühe wert, darauf zu antworten; er hat einen langen Arm, eine magere, knochige Hand im schwarzen Handschuh in die Dämmerung ausgestreckt; ich fühle mich plötzlich an der Schulter gepackt und werde trotz meines Sträubens zu dem Stuhle gezogen, auf welchem der Pate sich jetzt mit einem Geächz der Befriedigung niedergelassen hat.

Es beginnt nunmehr ein Examen, in welchem nicht die Rede von kindlichem Spiel, von Geistern, Feen, Zauberern, den sieben Zwergen und den zwölf schlafenden Jungfrauen ist. Der Herr Notar Hahnenberg will wissen, was ich über die Bestimmung des Menschen denke. Ich soll wissen, wie lange der Mensch existieren könne, ohne zu essen; ich soll meine Ideen über die Art, wie der Mensch zu essen bekomme, angeben. Es wird mir auseinandergesetzt, daß es in der Welt – jenseits unseres Hofraums, unserer geschorenen Hunde, geschundenen Katzen, unserer aufkreischenden Weiber und jungen Kannibalen – weder Riesen noch Zwerge, weder Zauberer noch Feen gebe, wohl aber eine Menge Leute, welche sich stets das größte Vergnügen daraus machen würden, mir alles Gute, Angenehme und Ergötzliche vor der Nase wegzunehmen, und daß nur der zu etwas komme, welcher am meisten gelernt und den dicksten Prügel habe. Wenn es grade Winter ist, so wird mir vorgerechnet, wie viele hunderttausend weinerliche, faule, nichtsnutzige Jungen in ihrer Tränenhaftigkeit und Faulheit erfrieren mußten und als steif und starr gefrorene, abschreckende Beispiele in den Akten der Weltgeschichte und im Königlichen Museum aufbewahrt werden. Im Sommer werden ähnliche haarsträubende Geschichten erfunden und hierin eine Phantasie gezeigt, welche alles, was in ähnlicher Weise geleistet werden kann, weit hinter sich zurückläßt. Der Notar Hahnenberg hat wahrhaftig nicht das Recht, meinem armen Vater seine zu überschwengliche Einbildungskraft vorzuwerfen.

Ich fühle die Hand des Freundes meines Vaters durch den schwarzen Glacéhandschuh und meine Jacke immer kälter, wage kaum zu atmen und möchte doch am liebsten laut schreiend dem Manne sagen, wie sehr er mir zuwider ist. Eine Gänsehaut überläuft meinen ganzen Leib, ich spüre ein unangenehmes Kitzeln an den Haarwurzeln, und – plötzlich werde ich losgelassen und mit einem unvermuteten Ruck auf den Fußboden niedergesetzt, wo ich sitzen bleibe, unfähig, mich zu regen, aber auch ohne den Willen dazu.

Der Vater, welcher wahrscheinlich ebensoviel, ja noch mehr als ich selber litt, hat, in Ermangelung eines Bessern, den Besucher gefragt, ob er nicht die Lampe anzünden solle; aber der Notar kann das, was er noch zu sagen hat, im Dunkeln sagen und dankt für alle überflüssige Beleuchtung. Er fängt jetzt an, kühl von Geschäften, Haushaltsangelegenheiten zu reden; er spricht über Dinge, von denen ich nichts begreife. Dann nimmt er so kurz, wie er mich auf den Boden setzte, Abschied, der Vater begleitet ihn vor die Tür; ich horche mit ganzer Seele auf sein letztes Hüsteln; und wenn ich den schleichenden Schritt nicht mehr vernehme, wenn ich mit dem Vater wieder allein bin, wenn nun die Lampe angezündet ist, breche ich in ein krampfhaftes Weinen aus, werde in wahrhaften Konvulsionen zu Bett gebracht und die ganze Nacht von den ängstlichsten Traumbildern verfolgt. Am andern Morgen fürchte ich mich nicht mehr vor den Buben, die in unser Fenster schreien, um mich zu erschrecken; aber ich bin fortwährend in tödlichster Angst und Erwartung, daß einmal statt der ungekämmten Knabenköpfe da das weißgelbe, hagere Gesicht des Paten Hahnenberg mit der hohen, kahlen Stirn, den klugen Augen und dem sorgfältig zurechtgelegten, spärlichen schwarzen Haarwuchs emportauchen könne, und mein Vater wagt den ganzen Tag über nicht, mich zu beruhigen. Die schmutzige, zerlumpte Frau, welche unsern Hausstand besorgt, kommt jedoch nach einem solchen Besuch des Herrn Notars stets mit einem gefüllteren Marktkorb heim, und wir leben, was das Physische anbetrifft, eine Zeitlang besser als zuvor. –

Ich wurde älter, und der Welt Verhältnisse traten um mich her allmählich in ein klareres Licht und nahmen bestimmtere Umrisse an; die Schrecken meiner Umgebung verschwanden dadurch nicht, sie gewannen nur eine andere Färbung. Ich fürchtete mich freilich nicht mehr vor den Gesichtern und Tönen unserer Nachbarschaft und Hausgenossenschaft vor den niedern Fenstern; allein ich fing an, einen bewußten Ekel vor dem Dunst und Kolorit der Gegenstände, welche mich umgaben und von überallher auf mich eindrangen, zu empfinden. Da ich jetzt fester auf den Füßen stand und freier umherstreifen durfte und konnte, so war ich nicht mehr so sehr wie früher von der Sonne, von der freien Luft ausgeschlossen; und aus der grünen Umgebung der Stadt, aus der Bewegung der großen Bevölkerung, aus dem Lärm des gewerbtätigen wie des vornehmen, reichen Lebens kehrte ich in die erstickende Atmosphäre unserer Wohnung stets wie in das schnödeste, ungerechteste Gefängnis zurück. Und während ich mich allmählich immer unmutiger, aber auch immer kräftiger und selbstbewußter in dem widerlichen, dunkeln Schicksalsgespinst, welches meine Jugend gefangenhielt, abzappelte, versank leider immer unaufhaltsamer mein armer Vater immer tiefer in die hülfloseste Apathie, in eine Stumpfsinnigkeit, aus welcher keine Rettung mehr möglich war. Wenn er den Kampf mit den Mächten des Lebens stets nur schwach und verteidigungsweise führen konnte, so gab er ihn endlich ganz auf. Er erhob sich immer seltener und schwerfälliger von seinem Stuhle, und vergeblich suchte ich ihn mit mir hinaus ins Freie, ins erfrischende Menschengewühl zu ziehen. Er fürchtete sich vor den Menschen, und die einfachsten, unschuldigsten Regungen und Töne ihres Treibens erregten ihm Bangen und Schauder. Sein Körper gewann eine ungesunde Fülle, seine Schriftzüge wurden undeutlicher und zittriger, sein Auge verlor den letzten Glanz, welcher ihm geblieben war; – sein Freund, der Notar Hahnenberg, gab es auf, ihn durch Vorwürfe oder Ironie zur Tätigkeit zu bringen, und ich, der Knabe mit der erwachenden Lust am Leben, an der Bewegung und Selbsttätigkeit stand zwischen diesen beiden Männern in einer unbeschreiblichen Verwirrung der Gefühle. Der Pate vergiftete jetzt mein Dasein nicht mehr durch haarsträubende Erzählungen vom Untergang und Verderben träumerischer, weichlicher Buben; er faßte mich aber womöglich noch schärfer von anderer Seite und schüttelte mein sittliches Wesen dermaßen zurecht, daß ich darob die Zähne zusammenbeißen mußte. Der Pate verstand erschrecklich viel Latein, Mathematik und Weltgeschichte, und seine Logik und geistige Schlagfertigkeit ließen nicht das geringste zu wünschen übrig. Seine kalte, eiserne Hand hielt mich jetzt nicht mehr am Kragen und an der Phantasie, sie faßte mich am Verstande, und jeder Besuch des Mannes stürzte mich in ein Bad, dessen Temperatur weit unter dem Gefrierpunkt stand und in welchem die Eisstücke lustig umherschwammen. Ich fürchtete, ich verabscheute, ich haßte den Notar Hahnenberg noch so arg wie früher; aber durch alles fühlte ich klar und bestimmt durch, daß ich ihn nicht entbehren könne. Und seine Unentbehrlichkeit lag darin, daß ich mit dem besten Willen, dem unermüdlichsten Fleiß streben mußte, ihn aus meiner Seele, aus meinem Lebenskreise – loszuwerden.

Durch die trostlosen Verhältnisse, unter welchen ich aufwuchs, war ich von frühester Zeit an, mehr wie andere Kinder, zur Selbstbeobachtung und noch mehr zum Aufmerken auf meine Umgebung und die Kollisionen und Antinomien derselben gedrängt. Ich lernte gewiß früher Vergleichungen anstellen, lernte früher das Leben analysieren als andere, besser geschützte und behütete junge Seelen. Mein Vater hatte das Bedürfnis weicher, unbestimmbarer, zu leicht bestimmbarer, schwankender Naturen; er mußte allen seinen Stimmungen, Gefühlen, Ansichten und Gedanken Ausdruck geben, und solches womöglich gegen eine Natur, die noch weicher war als er oder noch nicht gerüstet genug zur Widerrede. Er hatte aber nur mich als Zuhörer und Mitempfinder. Je älter ich wurde, desto mehr begriff ich ihn in allen seinen Liebenswürdigkeiten, aber auch in allen seinen Schwächen. Je älter ich wurde, desto mehr lernte ich auch meine Mutter kennen, die gestorben war, nachdem sie mich geboren hatte, und ehe sie starb, den Notar August Hahnenberg zu meinem Vormund machte; ich begriff, was meinen Vater und meinen Vormund zusammenhielt und was sie trennte. Es war ein schlimmer Konflikt; aber es war auch ein hohes, unsägliches Glück, als ich, den Jünglingsjahren nahe, das Bild der abgeschiedenen Frau, welche mir das Leben gab, das Bild der Mutter makellos, rein, voll süßester Lieblichkeit und Schönheit für mich daraus rettete. In ihrer ganzen mädchenhaften Hülflosigkeit steht sie immerdar vor mir. Was von ihrem kurzen, trüben Dasein in dieser harten, rauhen Welt zurückblieb, gibt rührend-melancholische Kunde von ihrem Wesen; und wenn ich auch kein Bildnis von ihr besitze, so sind doch Briefe und Blätter gerettet worden, und manch ein leise gesprochenes Wort ist nicht verhallt, sondern klingt fort und kann nicht verlorengehen, solange ich lebe. Diesen Reliquien gegenüber bleibt alles, was der Vormund in seiner Einsamkeit, seiner Verbitterung und Selbstsucht niederschrieb, deshalb stehen, weil es weder für die Tote noch mich, noch meine Nachkommen das geringste bedeutet.


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