Wilhelm Raabe
Drei Federn
Wilhelm Raabe

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V

Coprosaurus Sonntagianus

Ich habe im Grunde wenig zu sagen. Die Menschen schleudern die Schuld an ihrem Geschick und dem Schicksal der andern von sich ab und einander entgegen wie einen Federball. Es ist ein altes Spiel; seit vielen tausend Jahren fliegen die Bälle zwischen den Individuen wie zwischen den Völkern; es ist ein Spiel, welches wohl fürs erste nicht zu Ende kommen wird. Der alte Magister wird wohl noch lange, mit der Rute neben sich, schmunzelnd auf den Spielplatz hinabsehen.

Von allen Menschen aber, welche die Erde bewohnen, sollte der mildeste, der gelassenste der Arzt sein, welcher etwas gelernt hat, denn ihm ist vor allem Gelegenheit gegeben, das Zünglein an der Waage zu beobachten und Verhängnis gegen Schuld und umgekehrt parteilos abzuwägen. Ich habe mir alle Mühe gegeben, diese so wünschenswerte Gelassenheit und Herrschaft über die Affekte, welche den Weg, den man zu gehen hat, um so vieles ebener machen, zu erlangen; aber der Augenblick, welcher mir den armen, am frühen Morgen durch seine Finsternis tappenden Fritz mit der Nachricht von der Flucht der Schwester entgegenführte, warf mich doch fürs erste aus aller angebotenen und erworbenen Geduld und Resignation vollständig hinaus. Es ist mir unmöglich, über die nächste Stunde meines Lebens Bericht zu geben, und was es war, welches mich in so schwindelnder Hast der Flüchtigen nachtrieb, würde ebenso schwer zu sagen sein. Von Überlegung, von einem Plan, von einem Gedanken an die Zukunft war nicht die Rede; – der jammergeschlagene Freund meiner Jugend, das unglückliche Mädchen – wahrlich, zuletzt war's nichts als die Gier, den Verführer mit den Fäusten zu schlagen, mit den Zähnen zu fassen, der ganz gemeine Gerechtigkeitstrieb, der sich in der Lust nach Rache kundgibt, welche mich atemlos auf den Schnellzug nach Hamburg warfen. Ich hatte den blinden Friedrich in der Gasse stehenlassen, ich ließ meine kranke kleine Frau fast ohne ein Wort der Aufklärung zurück; – die Räder drehten sich – vorüber schwebten die Wohnungen der Menschen, die nichts mit mir, mit denen ich nichts zu schaffen hatte, die herbstlichen Fluren, welche selten ein ferner, unbedeutender Höhenzug begrenzte; – ich hatte Zeit, mich zu beruhigen. Jede solche mechanische Gewalt, welche den Menschen in der Aufregung packt und ihn, wie mich in diesem Fall, sechs bis acht Stunden zurechtschüttelt und -rüttelt, ist ein Segen, der nicht hoch genug geachtet werden kann.

Gegen ein Uhr am Nachmittag langte der Zug in Hamburg an, und ratlos war die Ankunft wie das Abfahren. Ich stand viel verlorener und in größern Nöten in dem Gewühl dieser Weltstadt als meine Hohennöthlinger Mathilde in dem Lärm jener andern großen Stadt. Die Saxonia, die Saxonia! Nach dem Hafen! Während ich gestanden und den Mund aufgesperrt hatte, waren natürlich alle Droschken von den Passagieren des Eisenbahnzuges besetzt worden; ich rief und suchte vergeblich, als mir plötzlich ein ziemlich behaglicher Herr, welcher ebenfalls nach dem Hafen fuhr, winkte und mich im Augenblick des Abfahrens in das von ihm gemietete Fuhrwerk, zur Mitbenutzung desselben, einlud. Ich dankte ihm für die Freundlichkeit, und wir rasselten durch die mit so fremdartigem Leben erfüllten Straßen.

»Sie wünschen auch noch die Saxonia zu erreichen?« fragte der freundliche Herr. »Ängstigen Sie sich nicht; ich hoffe fest, daß wir sie noch an ihrem Ankerplatz finden. Sehen Sie, mein Name ist Taube, und ich mache in überseeischen Produkten; sollten Sie etwas dagegen haben, mich auch mit Ihrem werten Charakter bekannt zu machen?«

Der Herr war so gütig gewesen, er war so freundlich, und ich hatte keinen Grund, ihm meinen Namen und Stand zu verheimlichen.

»Sehr angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr Doktor!« sagte Herr Taube. »Sie sind ebenfalls soeben mit dem Eilzug gekommen?«

Ich bejahete es, und wir erreichten die »Vorsetzen«.

»Sehen Sie, da sind wir schon, und – dort ist die Saxonia; – wie ich Ihnen sagte.«

Mit einer Behendigkeit, welche ich seinem Umfange nicht zugetraut hätte, war mein Führer aus der Droschke gesprungen, und ich folgte ihm ebenso schnell.

Der höfliche Herr Taube kannte auch auf der Saxonia jemand; höflich, wie er mich begrüßt hatte, winkte er nach dem Schiffe hinüber, und ein Herr in Uniform, welchen ich für den Kapitän hielt, grüßte zurück.

Wir bestiegen eine Jolle, welche uns in einem Augenblick zu dem großen Dampfer brachte. Schwankend stieg ich die schwankende Schiffstreppe empor; aber alle Fremdartigkeit der Umgebung war nichts im Verhältnis zu den fremdartigen Vorgängen in meinem Innern und zu der merkwürdigen Veränderung, welche mit dem überseeischen Produktenhändler Herrn Taube sich begeben hatte. Der Mann in Uniform war nicht der Kapitän der Saxonia, sondern ein Polizeibeamter der Freien Stadt Hamburg und kannte Herrn Taube sehr gut; Herr Taube war ebenfalls ein Polizeibeamter, stand mit dem hansestädtischen Kollegen im Kartellvertrag und wünschte ebenfalls, mit dem Agenten Pinnemann vor der Abreise desselben noch einige Worte über die Brieftasche des Paten Hahnenberg zu sprechen; Pinnemann aber – befand sich nicht auf dem guten Schiff Saxonia und die leichtsinnige Luise Winkler ebensowenig; – der Kapitän der Saxonia aber und seine Schiffsmannschaft sowie seine Passagiere waren sehr erbost, weil man sie so lange und so unnötigerweise durch das »gottverdammte Telegramm« aufgehalten hatte.

Nachdem wir wieder auf dem Kai standen, vom Schiff moralisch heruntergeworfen, bat mich der nunmehrige Herr »Inspektor« Taube um Verzeihung für seine Stellung, welche ihn gezwungen habe, sich mir in einem andern als dem richtigen Lichte zu zeigen, und wir hatten mehr als bloße Worte gegeneinander auszutauschen. Die Polizei hatte das Verschwinden des Hausgenossen des Notars Hahnenberg und jenes Feuerversicherungs-Kassierers fast noch früher gemerkt als Friedrich Winkler das Entweichen seiner Schwester. Die Polizei hatte tat- und schnellkräftig eingegriffen: aber jetzt stand der Mann der öffentlichen Sicherheit ebenso unbefriedigt an der Hafenmauer zu Hamburg wie der Doktor der Medizin August Sonntag. Der freistädtische Kollege bedauerte uns höchlichst, erbot sich zu allen weitern Hülfleistungen und wußte nur nicht so ganz klar, zu welchen. Wir sahen die Liste der am Morgen stromabwärts gegangenen Schiffe durch sowie die Fremdenlisten, aber nirgends ergab sich ein Anhaltspunkt. – »Herr Doktor«, sprach der Inspektor, »ich bitte, mir gütigst zu verzeihen, wenn ich Sie jetzt Ihren eigenen Nachforschungen überlasse, wir treffen einander wohl noch.« Damit ging er, nachdem er wieder ganz und gar das joviale Wesen eines Weinreisenden angenommen hatte, und ich versaß müde und gedrückt den Abend am Fenster eines der Hotels am Jungfernstiege, welches Taube mir vor seinem Abschiede empfohlen hatte.

Das Gewühl der Bevölkerung am Alsterbassin versetzte mich immer mehr in die Stimmung jenes Mannes, der eine Nadel im Heuwagen suchen mußte; und der Gedanke, daß das Finden des Gesuchten auch keine Freude und Befriedigung geben könne, trieb mich eben – gegen Mitternacht – ins Bett, als noch einmal an meine Tür geklopft wurde und der Kellner meldete, es wünsche ein Herr mit mir zu reden. Ehe ich antworten konnte, trat der Gemeldete aus dem Dunkel hervor; es war wiederum Taube, aber nicht mehr als Weinreisender oder Kolonialwarenmakler.

»Herr Doktor«, sagte er, »ich habe die Ehre, Ihnen anzuzeigen, daß morgen früh um acht Uhr – pünktlich – der Groden, ein kleiner Dampfer, nach Kuxhaven geht; ich bitte Sie ganz gehorsamst, mir Ihre sehr angenehme Begleitung zu schenken, habe das Vergnügen, mich Ihnen bestens zu empfehlen, und wünsche wohl zu schlafen.«

Er hatte sich in der Tat empfohlen, ehe ich zur Besinnung und zu einer aufklärenden Frage gekommen war; aber am andern Morgen um acht Uhr befand ich mich im halben Fieber an Bord des Groden und auf dem Wege nach Kuxhaven. Taube hatte mir bei meinem Erscheinen zärtlich die Hand gedrückt, er war Tourist, ganz Tourist – Vergnügungs- und nicht einmal mehr Geschäftsreisender in überseeischen Produkten oder Weinen.

»Schönsten guten Morgen!« rief er, beide Hände mir schüttelnd. »Sollte man das für einen Novembertag halten? Frühling, purer Frühling; ich hoffe, wir werden einige prächtige Stunden miteinander verleben; – ah, unsereiner hat's wohl nötig, sich von Zeit zu Zeit in anständiger, liebenswürdiger Gesellschaft die Brust auszuweiten. Imposanter Anblick, dieser Hamburger Hafen! Schon früher den Weg gemacht? Nein? Das freut mich; es ist mir eine Ehre, mich Ihnen als Baedeker, wenn auch nicht in rote Leinwand gebunden, widmen zu dürfen. Wie gut eine Zigarre an einem solchen Morgen ist!«

Er gönnte mir nicht den kleinsten Augenblick, um mit meinen Fragen, meinen Sorgen in seine Heiterkeit fahren zu dürfen.

»Sehen Sie, das nennt man Altona, welches über dem Tor mein Lebensmotto hat: Nobis bene, nemini male. Interessant, was?! – Da oben das ist Rainvilles Garten – Restauration – dahinter liegt Klopstock begraben – wissen Sie, schauerliche Erinnerungen: Zu Ottensen an der Mauer, grauser Davoust, Friedrich Rückert – Väter, Mütter, Kinder, Onkel, Tanten, Schwestern und Brüder – ein einzig Grab – achtzehnhundertunddreizehn; ich bitte Sie, was für Geld diese Hamburger Kaufleute haben müssen! Sehen Sie diese Villen, diese Gärten! Und hier haben Sie die Idylle, beachten Sie diese kleinen lieblichen Häuschen am Strom, vor jedem ein Boot, lauter alte abgetakelte Schiffskapitäne – das liebt das Wasser, aber nicht im Rum – brr, 's ist doch ziemlich kalt; was sagen Sie zu einem Kognak in der Kajüte, hm? Vor Blankenese kommen wir wieder auf Deck.«

In ähnlicher Weise ging es den ganzen Wasserweg weiter. Inspektor Taube wußte alles, kannte alles und kommentierte alles. Er kommentierte mir Stade und Glückstadt, die hannoversche und die preußische Politik in betreff Schleswig-Holsteins und summte dazu »Schleswig-Holstein meerumschlungen« dem dänischen Kriegsschiff mit dem Danebrog vor Glückstadt unter die Nase. Er kommentierte auch die Poesie des großen Stromes, welcher zum Meere wird, die aufschnellenden Tummler, die Seevögel, den Wind und bei Sankt Margarethen den an Bord steigenden Lotsen, der ebenfalls ein alter guter Bekannter von ihm zu sein schien.

Die Szene wurde immer mächtiger, immer großartiger; die wühlenden, taumelnden, grauen Wassermassen drängten die niedern Marschen Holsteins zur Rechten und das Kedingerland zur Linken in immer weitere Ferne, immer toller und ungeduldiger tanzten die schwimmenden Tonnen auf den Schaumspitzen und zerrten wild an den Ketten. Der Wind kam von der See und stemmte sich dem alten eiligen Flußgott entgegen in der Haustür; von seiner Kraft aber, im Fall er Ernst aus dem Spiel machen sollte, zeugte das entmastete, zerschlagene Wrack eines großen Schiffes an der holsteinischen Seite, mit welchem er auf dem Meer Fangball gespielt und es dann, des Spaßes müde, hierher in den Winkel und Sand geworfen hatte.

Wir standen auf dem Radkasten neben dem Kapitän, welcher, da er das Kommando an den Lotsen abgegeben hatte, sich ganz seinem Freund Taube widmete, und Taube deklamierte uns einiges auf die Umgebung Bezügliche aus Goethes »Mahomets Gesang« und dem »Gesange der Geister über den Wassern«, musterte aber dabei den Horizont, wo Himmel und Wasser bereits nicht mehr voneinander zu unterscheiden waren, aufmerksam durch ein Fernglas, und der Kapitän tat das gleiche.

Mit dem günstigen Winde kam eine Menge Schiffe herein. Ich zählte die Segel zu funfzigen, und der Kapitän und der Inspektor Taube wußten ganz genau Flagge und Gewerbe eines jeden anzugeben. Abwärts gingen weniger Fahrzeuge, und nur eine Rauchwolke hinter uns in weiter Ferne verkündete, daß ein großer Dampfer in unserm Fahrwasser folge.

Wir hatten die Reede von Kuxhaven erreicht, nach allen Seiten hin dehnte sich die blitzende, hüpfende, schaukelnde Fläche; der Fluß war zum Meer geworden.

»Da geht Miss Assy Barley von Liverpool!« rief der Kapitän, auf eine Rauchwolke vor uns deutend. »Mamsell hat ihre Maschine wieder in Gang. Hurra für Sie, Inspektor! Go ahead, Sir!« Der Inspektor sah die Wolke, welche eben über den Horizont hinabsank, ebenfalls durch sein Glas an, zuckte dann die Achseln und deutete über die Schulter, ohne sich umzusehen, nach der andern Rauchwolke.

»Und da kommt der Rantipole – 's wird eine lustige Treibjagd!«

Er blickte noch einmal nach der verschwindenden Miss und reichte sodann sein Fernrohr mir, indem er sagte:

»Wollen Sie sich das Liverpooler Fräulein nicht auch einmal ansehen, Herr Doktor? Der Herr Geheimrat von Goethe wir doch ein großer Mann:

Seele des Menschen,
Wie gleichst du dem Wasser!
Schicksal des Menschen,
Wie gleichst du dem Wind!«

»Aber erklären Sie mir, Herr Inspektor –«

»Gern, da wir uns doch leider binnen kurzem trennen müssen, Herr Doktor. Sie bemerken den Rauch dort; nun, Friedrich von Schiller sagt bereits: Rauch ist alles irdische Wesen – vermittelst jenes Dampfes versucht der Herr Agent Pinnemann, welchen ich suche, sich zu verflüchtigen; das Fräulein aber, welches Sie, Herr Doktor, zu begrüßen wünschen, werden Sie, wenn mich nicht alle meine Referenzen täuschen, am Fuße des Leuchtturms von Kuxhaven sitzend finden: Singt Weide, grüne Weide. Ich verlasse Sie also in Kuxhaven und benutze jenen andern Dampf, dort hinter uns, den Rantipole, ebenfalls aus Liverpool, zur weitern Verfolgung des angenehmen, aber undankbaren Flüchtlings, der mir mehr Mühe gemacht haben würde, wenn nicht glücklicherweise die Maschinerie von Fräulein Adelheid Barley zur rechten Zeit ein wenig in Unordnung geraten wäre. Es ist eine sehr praktische und komfortable Erfindung, dieser elektrische Telegraph, und wenn der heitere Europamüde den annexierten Geldsack bei sich trüge, würde er schon im Amtshaus zu Ritzebüttel meine Ankunft erwarten; so aber – flieg, Vöglein, flieg!«

Ich glitt betäubt von dem Radkasten auf das Verdeck hinab und wußte nichts mehr zu sagen.

»Wie ich schon vor Blankenese bemerkte«, sagte Taube, »man merkt doch den Novembertag; – es scheint Sie zu frösteln. In einer Viertelstunde legen wir bei Kuxhaven an; nehmen wir noch einen Kognak!«

Gefühllos gegen Hitze und Kälte saß ich auf einer Bank über den spritzenden Rädern und blickte teilnahmlos in das Getümmel der zurückfliehenden Wogen; erst das Rennen und Laufen der Matrosen, welche die Taue zum Anlegen des Schiffes hin und her schleppten, jagte mich wieder empor. Seitwärts breiteten sich unendlich die Wasser, vor uns lag ein Pfahlwerk, der Damm mit dem Leuchtturm, einige kleinere Fahrzeuge und Fischerkähne und dahinter das flache, herbstlich gefärbte Land Hadeln und Amt Ritzebüttel. Sechs Stunden hatten wir zu unserer Fahrt gebraucht; nach all dem Geschnauf und Gestampf lag das Schiff still wie ein verendeter Walfisch, nur die Wellen umklatschten seinen Bauch, und sehr hörbar jetzt, sehr scharf und schneidend trotz der klaren Sonne, pfiff und zischte und schnitt der Seewind um den Schornstein und das wenige Tauwerk. Es wurde ein Brett nach dem Lande hinübergeschoben, und die wenigen Passagiere verließen das Schiff. Auch ich stand am Ufer und suchte bänglich unter den Gruppen der Männer und Weiber, welche aus den Fischerhäusern zum Empfange des Dampfers herbeigeeilt waren; aber die gesuchte Gestalt trat mir nicht entgegen. Dagegen legte der Inspektor Taube wieder einmal mir die Hand auf die Schulter und sprach mit inniger Überzeugung:

»Sie werden sie schon finden, Herr Doktor; – sein Sie unbesorgt, man geht nicht so leicht in der Welt verloren. Aber wir müssen Abschied nehmen, ich hoffe jedoch, daß wir die in so angenehmer Weise angeknüpfte Bekanntschaft später fortsetzen werden. Dort kommt der Rantipole, leben Sie recht wohl, Herr Doktor, und kommen Sie glücklich nach Hause; empfehlen Sie mich bestens dem Herrn Notar Hahnenberg; ich werde mich bestreben, das kleine Geschäft in Liverpool zu allseitiger Zufriedenheit abzumachen – alles in allem genommen, ist's doch kein rechtes Reisewetter. Ich empfehle mich unbekannterweise Ihrer Frau Gemahlin, Herr Doktor, und somit – auf, Matrosen die Anker gelichtet, und ein Vivat für Miss Assy Barley!«

Leichtfüßig hüpfte er eine Treppe hinab, an deren Fuße ein kleines Segelboot bereits auf ihn wartete. Das große englische Dampfschiff kam schwarz über die grauwogende Fläche daher; das Kuxhavener Boot entfaltete sein braunes Segel und schoß schnell hinter der Mauer hervor. Taube warf mir noch eine Kußhand zu, hatte nach zehn Minuten richtig den Rantipole erreicht, welcher sich jetzt fast gänzlich in seine Rauchwolke hüllte und ächzend und schnaubend seinen Weg in die See fortsetzte mit dem besten Willen, nicht allzu weit hinter der flüchtigen Miss Adelheid zurückzubleiben.

Ich sah nur einen kurzen Augenblick lang dem davoneilenden Dampfer nach; es konnte mir wenig von Wichtigkeit sein, ob der Inspektor die Miss Assy Barley und den Agenten Pinnemann einhole oder sie im Hafen von Liverpool in Empfang nehme. Es waren nur einige Schiffsbauer und junge Kaufleute mit uns von Hamburg herabgekommen; sie hatten sich schnell zerstreut und waren ihren Geschäften nachgegangen; ich stand allein in der fremden, unfreundlichen Umgebung und sah, wie die Strandbewohner die Köpfe zusammenstießen, um sich ihre Mutmaßungen über meine Person mitzuteilen. Wie sich auch mein Herz dagegen sträubte, es half nichts, ich mußte diesen verschiedenartigen Vermutungen ein Ende machen durch die Frage nach dem jungen, unglücklichen Weibe, welches hier bei ihnen, zwischen Wasser, Sand, Sumpf und fremden Gesichtern, verlassen in seinem Leichtsinn, sitzen sollte.

Man sah mich anfangs an und ließ mich meine Fragen wiederholen; die Männer schoben ihre Schiffermützen hin und her, rückten ihre Nordwester zurecht, drückten den glimmenden Tabak in den kurzen Tonpfeifen nieder; die Weiber stießen einander die Ellenbogen in die Seiten, spielten mit den schmutzigen Schürzen; endlich erbarmte sich einer der Wächter des Leuchtturmes, ein alter, grauhaariger Mann, und meinte: jawohl habe ein fremdes Frauenzimmer hier beigelegt, ein schmuckes Fahrzeug, aber ein wenig mitgenommen vom Wetter, und er schätze, es sei ein gut Hamburger Bürgerkind, welchem der Amerikaner oder Monsieur Jean de Bordeaux mit uneingelöstem Wechsel seewärts davongegangen sei und welches nun nicht wisse, welche Flagge es zeigen und wohin es sein hübsches Galion drehen solle; die Leute in einer der Strandschenken aber würden wohl Näheres von dem armen Ding wissen; die großen Badehotels seien zu jetziger Jahreszeit verlassen.

Ich dankte für diese Nachrichten, welche wenigstens bewiesen, daß der Inspektor Taube einigen Grund für die Sicherheit seiner Behauptungen gehabt habe.

Gleich in der ersten Schenke, welche ich betrat, erfuhr ich alles, was ich aus solcher Quelle über die Flüchtigen und das Verbleiben der armen Luise erfahren konnte.

Während gestern abend und am heutigen Morgen die Miss Assy Barley den Schaden an ihrem Räder- und Schraubenwerk wieder ausbesserte, hatte natürlich ein steter Verkehr zwischen dem Schiff und dem Lande stattgefunden, und unter den wenigen Passagieren waren auch ein ältlicher, zärtlicher Herr in einem Pelzrock und eine junge, aufgeregte Dame herübergekommen, um sich am Ufer zu ergehen und die Zeit der Abfahrt zu erwarten. Sie hatten sich auch am Ofen der Strandschenke gewärmt und ein Glas Glühwein getrunken, und der ältere Herr in dem schönen Pelzrock war sehr vergnügt und höflich gewesen, wenn auch nicht ganz frei von einer gewissen Unruhe in betreff der unangenehmen Verzögerung der Reise. Da Nachricht vom Schiff gekommen sei, die Instandsetzung der Maschine werde wohl noch die Nacht in Anspruch nehmen, sei der höfliche Herr plötzlich sogar sehr aufgeregt und wild geworden, doch habe er sich in das Unvermeidliche finden müssen. Die Nacht hindurch habe der Liverpooler Dampfer natürlich ruhig vor Anker auf der Reede gelegen, und am Morgen sei der Herr im Pelzrock mit der bleichen Dame, welche jetzt sehr verweint ausgesehen habe, noch einmal ans Land gekommen, und beide seien am Strande hingegangen in der Richtung nach Neuwerk, und als die Miss Assy das Signal zur Abfahrt gegeben habe, da sei der Herr im Pelz im Laufe allein zurückgekommen, und in der Hast und dem Getümmel habe man nicht auf ihn geachtet; als aber das Schiff sich schon längst in Bewegung gesetzt habe, sei plötzlich das Fräulein atemlos den Strand entlanggekommen und habe gewinkt und gerufen und mit dem Taschentuch geweht, und dann sei's ein Jammer gewesen, als sie gemerkt habe, daß sie zurückgeblieben oder zurückgelassen sei. Sie habe es anfänglich nicht glauben wollen und habe nach einem Boot geschrien, um dem Engländer nachzufahren, und habe nicht begreifen wollen, daß das nicht angehe. Da habe sie zuletzt die Hände gerungen und böse Worte ausgestoßen, und man habe sich vor ihr gefürchtet, und niemand habe es gewagt, sie aufzuhalten, als sie dann fortgegangen sei, wiederum den Strand entlang, nach Neuwerk zu.

»Und niemand ist ihr gefolgt? Niemand hat sie behütet, daß sie sich keinen Schaden tue? Niemand hat ihr ein gutes Wort gesagt?« rief ich; doch man schien mich nicht zu verstehen, und es blieb mir nichts übrig, als der Verlorenen auf ihrem traurigen Wege mit Bangen nachzugehen.

Es war jetzt ungefähr halb vier Uhr nachmittags, und wenn auch die Sonne sich nicht meiner Stimmung anbequemte und melancholisch verschwand, so stand sie doch bereits niedrig, und von der See kam der Abendnebel mit dem Wind des Novemberabends herangerollt. Es war auch die Zeit der Ebbe, und weithin zur Rechten hatten die zurückgewichenen Wasser das schwarze Geröll und Geschiebe, den Schlamm, das halbfaule Seegras, die toten und lebendigen Muscheln sowie mancherlei anderes Gewürm in häßlicher Nacktheit liegenlassen, und die Vögel flogen mit heiserm Geschrei über diesem schmutzigen Gürtel des Ufers.

Grade dieser letzte Zug der öden Szenerie faßte mich in Verbindung mit meinen aufgeregten Gefühlen am tiefsten und heftigsten. Ich wagte es kaum, seitwärts zu blicken; denn gegen meinen Willen war ich gezwungen, ihn immerfort in den engsten Zusammenhang zu bringen mit dem hübschen Wesen, welches ich stets, auch unter den betrübtesten Umständen, nur lachend, schelmisch, glücklich gekannt hatte. Ich wagte es nicht, seitwärts zu schauen, vorzüglich nicht an den Biegungen des Weges. Sie hätte da liegen können, mit dem Schlamm des Flusses und der See überzogen wie das Gestein, wie die armen, reinlichen Muscheln und das einst so frischgrüne Meergras. Sie hatte mir einst in einem leichten roten Sommerkleid sehr gefallen; nun mußte ich dieses Kleid immerfort mit dieser schleimigen, schwarzen Fläche in Verbindung bringen; – ein wahrer Fieberfrost schüttelte mich, und zuletzt war es doch ein Glück, als ich sie fand, grade als die Sonne in dem Nebel versank. Ich fand sie natürlich nicht tot, sondern sie saß nur am Rande des schwarzen Striches und starrte stumpfsinnig auf die fernen Wellen, die sich zum Wiederkommen rüsteten.

Wir suchen gern in alle nur irgend etwas außergewöhnlichen Vorgänge oder Erlebnisse einen hohen, tragischen Begriff zu legen und fühlen uns im Innersten erkältet, wenn uns statt desselben das ganz gewöhnliche »Malheur« entgegentritt. Es ist so seltsam, was alles auf den Menschen bei solchen Begebnissen wirkt und ihn über die nüchterne Wahrheit hinausreißt; – in unangenehmster Weise manifestiert sich solcherart seine Bestimmung zum Höhern. Mich hatten das tiefe Leid des Bruders, dann die schnelle Fahrt, die große, fremde Umgebung der Seestadt, die Majestät und das Leben des gewaltigen Stromes und die Nordsee trotz der Begleitung des Inspektors Taube verwirrt und mir über das ganz Gewöhnliche den magischen Schleier des Außerordentlichen, der stets über uns in den Lüften schwebt, herabsinken lassen. Nun legte ich dem durchgegangenen Fräulein die Hand auf die Schulter, und es fuhr erschreckt empor, um wieder davonzulaufen, und dann erkannte es mich, schrie ein wenig, schämte sich sehr, weinte und spielte die kleine Komödie solcher Schmetterlingsexistenz weiter.

Ich hätte es mir gleich so vormalen können.

Luise Winkler hatte, ihrer Aussage zufolge, »ganz gewiß« in das Wasser gehen wollen, aber es war vor ihr davongelaufen, und das hatte ihr einen allzu heftigen Schrecken eingejagt, und vor dem Schmutz und den Tieren fürchtete sie sich auch, so war sie denn nicht »dazu gekommen«.

Sie war, trotzdem sie sich so sehr schämte, sehr froh, mich zu sehen; denn sie hatte »recht böse, arge Stunden auf diesem abscheulichen Fleck« zugebracht, und wenn sie auch »nicht wußte, wohin sie ihr armes Gesicht verbergen sollte«, und wenn sie auch »nie wieder« zu ihrem Bruder zurückgehen konnte: so war »doch alles besser als das Alleinsein an diesem Ort zwischen Wasser und Wilden«.

Sie stand durchaus nicht an, mir bis ins kleinste zu beschreiben, wie sie die letzten Tage verlebt habe, denn sie konnte dadurch ihrem Herzen oder dem, was sie so nannte, über das »Scheusal«, welches sie hier verlassen hatte, Luft machen. Seltsamerweise blieb sie dabei, daß sie von diesem Pinnemann »geliebt« worden sei, und als ich sie fragte, weshalb in aller Welt er sie denn verlassen habe, zeigte sie zum erstenmal ein Zeichen von wirklichem Gefühl; mit hellem, fast gellendem Geschrei faßte sie meine Hände und erklärte, das sei's und nicht das schmutzige Wasser, welches sie verhindert habe, sich den Tod zu geben, und eher könne sie nicht sterben und wolle das schlimmste Leben ertragen, bis sie den Grund erfahren habe.

Wir hatten ihr daheim den Charakter des Menschen, dem sie sich anvertraut hatte, zu oft mit den natürlichsten Farben vorgemalt, als daß es das geringste genutzt haben würde, das alte Lied zu wiederholen. Dem Bruder, den Freunden konnte sie nicht glauben: nur ein Mann wie der Polizei-Inspektor Taube war berufen, einem solchen Wesen die Rätsel des Lebens genügend, das heißt verständlich zu lösen. Er tat dieses später sehr bereitwillig, nachdem er dem Agenten Zeit gelassen hatte, sich mit dem Freund von der Feuerversicherung, welcher schlauerweise mit des Paten Brieftasche über Bremerhaven gegangen war, in Liverpool zu vereinigen, um sodann die ganze Gesellschaft samt der Brieftasche, wahrscheinlich mit höflichster Beachtung aller Formeln der Habeaskorpusakte, in die Heimat zurückzuführen.

»Mein liebes Fräulein«, sprach der Inspektor, »des Schicksals Stimme, welches sagen will die Angst vor der Polizei und der Staatsanwaltschaft, ist bei nicht wenigen Individuen doch noch mächtiger als der Zug des Herzens. Bauen Sie auf das Wort eines Mannes von Erfahrung, mein teures Fräulein; es sind mir in meiner Praxis viele Leute vorgekommen, welche sich für den geliebten Gegenstand das Messer in die Brust gestoßen haben würden, aber nicht einer, der nicht den Kopf und auch leider das Herz verloren hätte unter dem Eindruck des um ihn her spielenden internationalen Telegraphensystems.« –

Mit der Flut trat der Groden die Rückfahrt nach Hamburg wieder an. Die jungen Kaufleute waren glücklicherweise durch ihre Geschäfte in Kuxhaven zurückgehalten worden, und nur einige der älteren Herren, welche am Morgen meine Schiffsgenossenschaft gebildet hatten, gingen jetzt wieder mit uns stromaufwärts.

Luise Winkler hatte sich ohne Widerstreben an Bord des Dampfschiffes führen lassen; sie trug den Kopf gesenkt und hatte den Schleier herabgelassen, verschmähte aber ein Glas Punsch zur Stärkung in der Trübsal durchaus nicht. Ich setzte sie in den dunkelsten Winkel der von einer Hängelampe trüb erleuchteten Kajüte; sie war willenlos und matt gleich einem eigensinnigen Kinde, welches die Rute gekostet und sich sodann stundenlang ausgeschrien hat. Eines rechten Begriffs ihrer Lage war sie auch jetzt noch nicht fähig, und so schlief sie denn auch nach all den Aufregungen und Leiden des Tages ebenfalls wie ein Kind bald ein, und es wäre nicht nur eine Narrheit, sondern auch ein Unrecht gewesen, sie zu wecken und durch moralische Lungenübungen wach zu halten.

Ich stieg wieder auf das Verdeck. Hinter uns zeigte und versteckte in abgemessenen Zwischenräumen der Leuchtturm von Kuxhaven sein glänzendstes Licht. Es war recht kalt geworden, und die Nacht ward so dunkel, wie nur eine Novembernacht werden kann; aber ich schritt auf und ab, hörte den Wellen, den Rädern und der Arbeit der Maschine zu und merkte wenig von dem Winde und der Kälte; ich befand mich auf der Heimkehr, und als sich das Schiff dem Ufer näherte, mahnte mich jedes Licht landeinwärts daran. Man wird unendlich milde nach einem solchen Tage, wenn man für sich selbst soviel Glück, so viele schöne Hoffnungen zusammenzuzählen hat; – von aller Unruhe, allem Groll und Haß war nichts zurückgeblieben als ein tiefes Mitleid für die verlorenen, verführten und einsamen Seelen, deren Wege sich mit dem meinigen verschlangen. –


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