Wilhelm Raabe
Drei Federn
Wilhelm Raabe

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Ich werde natürlich nicht durch eine ausführliche Schilderung meines damaligen Seelenzustandes langweilen; die Geschichte ist schon zu oft dagewesen, als daß man ihr noch irgendeine interessante Seite abgewinnen könnte, was auch wieder eine so gemeinplätzliche Bemerkung ist, daß ich fast nicht umhin kann, mich ihrer zu schämen. Nachdem ich mich acht Tage lang nicht rasiert hatte, rasierte ich mich wieder, und nachdem ich ein halbes Jahr, großen Ekel vor den Frauen, der Welt und der Juristerei im Busen tragend, umhergelaufen war, wurde ich mit Genuß Jurist, beschloß jedoch, den Staatsdienst zu verlassen und den Dienst meines Ichs als Advokat zu kultivieren. Zwei Jahre lang arbeitete ich in einer andern Provinzialstadt auf dem Büro eines Notars, der auch nicht viel von der Welt hielt, sich jedoch das Leben darin so angenehm als möglich machte und meine Erziehung segensreich vollendete.

Als ein unendlich angenehmer, wenn auch etwas verbissener junger Mann ging ich aus seinem Prozessuarium hervor, alt an Erfahrung, ein nicht übler Schachspieler, fähig, den stärksten Punsch zu brauen und zu vertragen. Daß mir sehr viele Leute aus dem Wege gingen, ergötzte mich mehr, als es mich kümmerte; ich hatte mir vorgenommen, nicht allzu zuvorkommend gegen die Menschheit zu sein, und darf mit gutem Gewissen sagen, daß sich niemand in dieser Hinsicht über mich zu beklagen haben wird.

Zu Anfang des dritten Jahres nach Empfang jener beseligenden Mitteilung meines Freundes Joseph kam ich nach der Hauptstadt zurück, errichtete nach Überwindung der gewöhnlichen Hindernisse meine eigene Rechtsbude und fing nach Bereinigung sämtlicher Kosten mit fünfundsiebzig Talern bar, auf welche keiner, selbst mein Papa nicht, einen legalen Anspruch erheben konnte, zum Wohl und Besten des Publikums das nützliche Geschäft an, und Publikus gab mir die mir zukommende Ehre und nannte mich »Herr Doktor«, in der Voraussetzung, daß ich ihm in seinen Gebrechen helfen könne und es mir auch zur Ehre rechne.

Meine Eltern starben, beiläufig gesagt, ziemlich um dieselbe Zeit; das mürrische Haus gegenüber dem Nachbar Spierling, der Königin von Saba, wurde verkauft, meine Geschwister waren ihre eigenen Wege gegangen; nichts hinderte mich, mich dem beschaulichsten Egoismus hinzugeben. Keine süße Jugenderinnerung störte mich in meiner froschkühlen Gemütlichkeit; ich war ein sehr innerlicher Mensch und Advokat mit Leib und Seele; daß ich ein wohlhabender, wenn nicht reicher Mann werden würde, konnte keinem Zweifel unterliegen.

Aber ich fing klein an. Den ersten klingenden Nutzen zog ich aus den Püffen und Knüffen, welche in den niedrigen Spelunken meiner Nachbarschaft ausgeteilt und empfangen wurden. Es dauerte eine geraume Zeit, ehe ich das schönere Geschlecht in seinen zarten Klagen und Forderungen dem stärkeren Geschlecht gegenüber vor Gericht vertreten durfte, und noch viel länger hatte ich zu warten, ehe mich ein Mann aus den anständigen Ständen für würdig achtete, ihm seine Liebe zum Nächsten betätigen zu helfen. Lassen wir das, und wenden wir uns zu Angenehmern.

Nach meiner Rückkehr zur Stadt hatte ich lange geschwankt, ob es angemessen sei, daß ich meiner Verlobten, der jetzigen Frau Karoline Sonntag, und meinem Freunde Joseph einen Besuch abstatte oder nicht. Nachdem ich mein Büro eingerichtet und mein Schild an die Tür genagelt hatte, entschied ich mich für das erstere. Ich glaubte diese Höflichkeit jener im Buche meines Lebens umgeschlagenen sentimentalen Seite schuldig zu sein.

An einem heitern Sonntagmorgen machte ich unter dem weichstimmenden Geläut der Kirchenglocken mit außergewöhnlicher Sorgfalt Toilette für diesen Besuch, welchen eine Kondolenzvisite zu nennen ich mir das Recht bescheiden vindizierte. Mit feuchten Augen legte ich den Frack an, und als ich nach elf Uhr in die Droschke stieg, welche mich zur Königin von Saba bringen sollte, fühlte ich ebenso milde, ebenso wohlwollend und ebenso befriedet wie irgendeiner der Pastoren, die jetzt schnellern Schrittes aus ihrer Predigt ihrem Sonntagsbraten zueilten. Während mein Körper über das holprige Pflaster dahingerüttelt wurde, ging meine Seele auf Sammetschuhen über alle moralischen Unebenheiten ihren Weg zur Apotheke der Königin von Saba, zu den Herren Spierling und Schwiegersohn, zu ihr.

Der Wagen hielt eher, als mir angenehm war; ich hatte mich meinen Gefühlen hingegeben, und jetzt wurden sie ab-, auseinander- und durchgerissen; ich hatte auszusteigen und den Kerl, den Kutscher, zu bezahlen. Ein Trinkgeld gab ich für diese Fahrt nicht.

Da stand ich und sah mich um. Die Gasse hatte sich wenig verändert, viel weniger als meine Karoline, wie ich nachher fand. Mein väterlicher Mohr, jetzt der Sklave eines neuen Herrn, schmauchte in alter Behaglichkeit auf seinem Pfosten. Die Königin von Saba hatte noch ein wenig mehr von ihrer Farbenpracht und Vergoldung eingebüßt; am besten hatte sich der Geruch von alten Käsen, alten Heringen und Drogen in der Gasse erhalten. Kein Wind schien imstande zu sein, diesen Duft fortzuführen; er saß zu fest im Gemäuer und im Gebälk.

Ich besann mich nicht länger; auf der Flucht vor der Lust umzukehren trat ich in das Haus, welches vor nicht gar langer Zeit noch meinen Himmel und meine Seligkeit eingeschlossen hatte. Hinter der wohlbekannten Glaswand, welche die Apotheke von dem Hausflur trennte, sah ich meinen Freund Joseph Pillen drehen und den Schwiegervater in einen Topf riechen, auf welchem unter einem Totenschädel das Wort Gift ebenso deutlich zu lesen war wie auf seinem gelben Gesicht. Kläglich und geschwollen wie immer sah mein Freund Joseph aus, und beide Herren waren so sehr in ihre Beschäftigung und ihren Mißmut vertieft, daß sie mir die beste Gelegenheit gaben, sie mit Muße und Rührung zu betrachten.

Eine Photographie der Miene meines Freundes, nachdem ich durch ein bescheidenes Räuspern seine Aufmerksamkeit auf mich gezogen hatte, hätte dann jedem photographischen Aushängekasten zur Zierde gereicht.

Er errötete, so gut es ihm bei seiner Komplexion möglich war; er warf das fettige, schwarze Haar so ruckartig zurück, daß er sich fast den Kopf abgeschleudert hätte.

»August!« rief er.

»Joseph!« sagte ich.

Er kam mir in der Tür des Glasverschlages entgegen; er wagte es, mich zu umarmen, er hätte mir einen Kuß auf die Lippen gedrückt, wenn ich der unzurechnungsfähigen Gerührtheit nicht durch eine geschickte Flankenbewegung entgangen wäre. Ich grüßte über die Schulter des Menschen den Schwiegerpapa, der in mir den Sohn meines Vaters sah und in allen seinen gekränkten Kellerlöchergefühlen, die aufs neue sich emporbäumten, von meinem Gruße die möglichst widerwilligste Notiz nahm, ohne sich dadurch in meiner Zuneigung und Hochachtung Schaden tun zu können.

»Bist du es denn wirklich, August? Bist du es in Fleisch und Blut?«

»Wie du siehst, Joseph. Ich freue mich herzlich, dich so wohl und glücklich zu sehen. Was macht die Frau? Werde ich sie sehen können? Darf ich ihr meine Glückwünsche jetzt auch mündlich ausdrücken?«

»Gewiß, gewiß! Sie wird sich unendlich freuen; sie spricht viel und stets mit der größten Achtung und Liebe von dir.«

›Die Gute!‹ dachte ich; aber der Papa Spierling ließ mir nicht Zeit, es zu sagen. Hüstelnd kam er heran, seine Giftbüchse in der Hand, als wolle er sie mir präsentieren:

»Eh, eh, Herr Notarius – große Achtung – sehr große Zuneigung – freut mich ebenfalls, Sie so wohl zu sehen. Ihr Herr Vater – eh, eh, sehr guter Freund von mir – angenehmer Nachbar – hat mir sehr leid getan, ihm die letzte Ehre geben zu müssen – Gallenfieber – sehr bitter – sehr schöne Grabrede – würdiger Mann. Eh, eh, wollen zu meiner Tochter? Nachträglich Glück wünschen – drei Jahre; – sehr liebenswürdig – schmeichelhaft sehr! – Haben aber auch recht, Herr Notar – liebes Kind, sehr glücklich verheiratet – vergrößertes Geschäft – trefflicher Schwiegersohn. – Guten Morgen – besten Appetit!«

Er setzte seine Büchse auf den Tisch mit einer Handbewegung, die nur bedeuten konnte: »Bedienen Sie sich, ohne Umstände!« Dann hüstelte er mit einem pagodenhaften Nicken zur Tür hinaus, und Joseph und ich sahen ihm nach, doch auch hier war es nicht dasselbe, wenn zwei dasselbe taten. Nach einer Pause, während welcher jeder das Seinige gedacht hatte, setzte Joseph den Gifttopf mit dem Totenschädel und den gekreuzten Knochen an seine Stelle zu den übrigen Unflätereien aufs Brett dicht neben die Büchse mit dem Album Graecum; was aber am giftigsten war und am widerlichsten roch, das hatte, meiner Meinung nach, die Apotheke in einer schmutzigen Flanelljacke und bunten, niedergetretenen Pantoffeln soeben verlassen.

»Komm jetzt zu meiner Frau«, seufzte Joseph, und ich hielt es für meine Pflicht, mit ihm zu seufzen.

Wir stiegen die Treppe hinauf, und nach einigen Augenblicken saß ich meiner frühern Verlobten gegenüber, sehr bequem, mit dem Rücken gegen den hellen Sonnenschein, so daß ich alles ganz genau betrachten konnte, sowohl das schauderhaft ähnliche Porträt des Papa Spierling an der Wand über dem Sofa als auch die gute Karoline auf dem Stuhl mir gegenüber.

Mein Freund Joseph schien »abgefärbt zu haben«. Bleich war meine Verlobte immer gewesen; aber jetzt war sie schmutzig gelb; ihr Teint glich leider ganz und gar dem meines Freundes – halb Zuckerbäcker, halb Apotheker – von beiden das Schlimmste. Sie schien das zu sein, was man auch außerhalb der Bühne und der Romane »nicht glücklich« nennt.

»Meine Frau leidet sehr am Magen«, sprach mein Freund, und ich hätte ihm einen Tritt versetzen mögen. Karoline lächelte, aber schwach, und sagte:

»Also Sie sind doch gekommen, Herr Doktor! Mein Mann war fest davon überzeugt; ich aber hoffte –«

Sie brach ab und schwieg. Ich schwieg; Joseph jedoch hielt es für seine Pflicht, den Satz zu beendigen.

»Ja, sie hoffte nur darauf, wollte aber nicht daran glauben; – weißt du, die Frauen dürfen eigentlich nur an die Liebe, nicht aber an die Freundschaft glauben.«

Ich sah meinen Freund recht starr an; – hatte seine Frau auch abgefärbt? Erst nach einigen Augenblicken gewann ich die Überzeugung, daß er durchaus nicht wußte, was er da eben gesagt hatte. Es war nicht seine Schuld.

»Hat Joseph mit seiner Behauptung recht?« fragte ich, indem ich mich an Karoline wandte.

Sie rief erregt und bewegt, mir einen flehentlichen Blick zuwerfend:

»Gewiß nicht! O gewiß nicht! Wir haben die Freundschaft sehr, sehr nötig.«

Ich ließ das auf sich beruhen und erkundigte mich nach diesem und jenem, was nicht soviel Anlaß zur Kontroverse darbot. Immer friedfertiger, milder und weicher stimmte sich meine Seele; als ich Abschied nahm, tat mir Karoline leid, ich bereuete fast, hergekommen zu sein, und mehr konnte man doch füglich nicht von mir verlangen. Nunmehr wußte ich, daß weder mein Freund Joseph noch seine Frau die meiste Schuld an ihrer Verheiratung trugen; der alte Satan in gelbem Flanell und in den niedergetretenen Pantoffeln konnte besser darüber Rechenschaft geben, wie die beiden Leutchen zu solchem Ding gekommen seien, als die beiden Leutchen selbst.

Ich nahm mir vor, die Apotheke zur Königin von Saba nicht mehr zu betreten und die beiden harmlosen Kinder ihrem Glück, das heißt ihrem Schicksal zu überlassen; aber – quo fata trahunt retrahuntque sequamur; es ist immer übel und gewissermaßen unbedacht, etwas ganz bestimmt und sicher abzulehnen. Als ich im Sonnenschein und sabbatlicher Gehobenheit vor der Tür der Apotheke stand und allerlei bizarre, phantastische, unbestimmbare mouches volantes mir vor den Augen vorüberfuhren und -flimmerten, ahnte ich nicht, daß ich in nicht allzu langer Zeit, doch unter sehr veränderten Umständen in diese Tür wieder eingehen würde.

 

Wäre ich ein Poet, was ich, Gott sei Lob und Dank, nicht bin, so wäre mir jetzt die schönste Gelegenheit gegeben, einen ungeheuern Effekt hervorzubringen, indem ich mich auf den Kopf und alle Gegensätze in das rechte tragische Licht stellte. Ich erzähle jedoch nur ganz einfach das, was geschah, und auch dieses halte ich für ein Verdienst, denn es ist merkwürdig genug und ein nicht zu verachtender neuer Beweis von der Unergründlichkeit des Weiberherzens.

Mein nützliches, wohltätiges Geschäft erhob sich weder schnell noch sicher; ich hatte böse Zeiten und eine böse Konkurrenz zu überwinden und hungerte mit meinem Schreiber Pinnemann um die Wette. Wir würden die schwarze Suppe der Lakedämonier wahrscheinlich mit ungemeinem Behagen verzehrt haben.

Und wie wir hungerten, so dursteten und froren wir, letzteres vorzugsweise in dem Winter, von welchem jetzt die Rede sein wird. Es sah kahl um mich aus, kahl in jeder Beziehung, und Pinnemann, ein kluger junger Mensch von sechzehn Jahren, den ich von der Straße aufgegriffen hatte, sah so dünn, frostig und gefräßig aus, daß es kein Trost war, ihn zur Gesellschaft sich gegenüber zu haben; zwei halb verhungerte Ratten in einem leeren Küchenschrank mochten sich so behaglich fühlen als wir beiden Winkeladvokaten in unserm dunkeln, kalten Loch.

Draußen gebärdete sich der Wind wie ein Gerichtsexekutor, der an eine verschlossene Tür mit dem Stockknopf pocht; er schnob entsetzlich und schlug Schnee und Regen durcheinander, daß den Wanderern in den Gassen Hören und Sehen vergehen mußte. Die Gaslaterne vor dem Fenster warf ihr flackerndes Licht über unsern trostlosen Schreibtisch und über die kahlen Wände; und die Lampe, welche das, was ich schrieb und was Pinnemann abschrieb, beleuchtete, flackerte auch. Der Wind fand durch mehr als eine Ritze und Spalte Eingang zu ihr und uns, und jedesmal, wenn ich in meinem Jammer nieste, sagte Pinnemann:

»Zur Gesundheit, Herr Doktor.«

Hätte ich die geringste Spur von Ironie auf seinem Gesicht entdeckt, ich weiß nicht, was ich getan hätte. Wir hatten uns den ganzen Tag über mit einer Kneipen-Prügelei, während welcher einem biedern Landmann, von dem es zweifelhaft war, ob er einen Ochsen oder ob der Ochs ihn in die Stadt gebracht hatte, die Uhr gestohlen worden war, beschäftigt, ohne dabei und dadurch warm geworden zu sein; jetzt schlug es sieben Uhr, und wir waren fertig – nicht mit unserer Arbeit, sondern mit unsern Kräften und unserer Geduld.

»Pinnemann«, sagte ich elegisch, »Pinnemann, schließen Sie die Laden und scheren Sie sich zum Teufel; ich kann Ihre trübselige Visage nicht länger ansehen. Frieren Sie auf eigene Rechnung; – hier haben Sie fünf Silbergroschen zu einem Glas Grog.«

»Ich gebe mich Ihnen dankbarlichst zu Protokoll, Herr Doktor«, sagte Pinnemann weinerlich. »Aber wenn Sie erlauben wollen, so hätte ich noch ein Wort mit Ihnen zu sprechen; – ich bitte gehorsamst –«

»Heraus damit! Mensch, Mensch, bringen Sie mich nicht durch Ihr Mienenspiel zur Verzweiflung!«

Pinnemann zog ein blaukariertes Taschentuch hervor, schluchzte, wischte sich die Augen und sagte:

»Herr Doktor, es geht mir schwer, sehr schwer ab; aber, aber ich kann es nicht länger bei mir behalten. Herr Doktor, ich bin eine arme Waise, und Sie haben wie ein Engel an mir gehandelt; aber wir müssen uns doch trennen, so leid es mir tut.«

»Darf ich um den Grund bitten?«

Pinnemann neigte bedachtsam das Haupt und sprach:

»O gewiß, es würde sehr undankbar sein, wenn ich Sie darüber im unklaren ließe; Herr Doktor, Sie sind zu edel für mich, ich fühle mich unsern geschäftlichen Grundsätzen nicht länger gewachsen. Ein armer Teufel wie ich, der nichts weiter hat als seine fünf geraden Sinne und sein bißchen Menschenverstand, kann es auf diesem Wege nicht weiter als bis zum Verhungern bringen. Herr Doktor, ich bin nicht weit davon; mein Magen und meine Vernunft ertragen es nicht länger, und somit –«

»Somit wünschen Sie, Ihre eigenen Wege zu gehen, um zu einem behaglicheren Ziel zu gelangen?«

Der Schuft zog die Achseln in die Höhe und spreizte die Arme und Hände aus, als wolle er sich gegen alle möglichen Mißdeutungen meinerseits dringendst verwahren; ich aber sah ihn gerührt an und sagte:

»Pinnemann, Sie sind ein lieber, ein vortrefflicher Mensch; es würde das größte Unrecht sein, wenn ich Ihnen auf Ihrem Wege zu – zu Ihrem Verdienst das geringste Hindernis in die Bahn legen wollte. Ich habe Sie nur schon allzu lange aufgehalten, Sie trefflicher junger Mann; – schließen Sie die Laden und gehen Sie, wohin Sie Ihr Herz treibt. Schuldig bin ich Ihnen nichts mehr?«

»Einige unbedeutende Auslagen – aber ich will Sie nicht drängen, Herr Doktor. Ich würde es für eine Sünde halten, Ihnen unbequem zu werden, Herr Doktor.«

So schnell als möglich zahlte ich der Kanaille ihre »unbedeutenden Auslagen«; und mit dem Taschentuch vor den Augen verließ Pinnemann mein Büro; ich war allein in dem leeren, baufälligen Küchenschranke: die klügere Ratte hatte ihn verlassen!

Der flackernde Schein der Straßenlaterne war durch die geschlossenen Laden ausgesperrt; aber der Wind ließ sich nicht aussperren; ich fühlte eine große Leere in mir, und der Gedanke, längst zu der Überzeugung gekommen zu sein, daß Völker und Individuen die Berechtigung haben, zu glauben, die Welt sei nur für sie allein geschaffen, gewährte mir, selbst diesem Schufte gegenüber, nicht die geringste Befriedigung. Ich fing wieder an, mich nach allerlei Dingen zu sehnen, die ich voraussichtlich auf Erden nicht erhielt und von welchen ich auch wirklich bis dato wenig genossen habe, obgleich manches darunter war, welches ich wohl durch mein Geld hätte erkaufen können.

Mein Büro ist natürlich zu ebener Erde gelegen; denn eine gute Hälfte meiner Klienten erscheint gewöhnlich in einem sehr angetrunkenen, sehr schwankenden und hinfälligen Zustande und würde nicht fähig sein, die bequemste Treppe zu ersteigen. Es befindet sich in einem Hause, welches sich durchaus nicht zu den anständigen zählen kann. Mancherlei Pack bewohnt mit mir den baufälligen Kasten, und in dem Alkoven, welcher an mein »Geschäftszimmer« stößt und mir als Schlafgemach dient, werde ich nicht nur von meinen Gedanken, sondern fast noch mehr von Wanzen geplagt. Da ich es für einen Ruhm halte, in allen Angelegenheiten des Lebens so billig als möglich zu sein, so speiste auch mich das Leben so billig als möglich ab. Die Moira schien aber von der Idee auszugehen, daß ich es nicht besser verlange.

Das war ein Abend, um den Teufel zu beschwören, seinen Schatten zu verkaufen oder den Besuch eines Gespenstes zu erwarten. Letzteres kam ungefähr zehn Minuten nach neun Uhr.

Um zehn Minuten nach neun Uhr, während eines heftigen Windstoßes, klopfte es an meiner Tür und jagte mich kerzengerade aus meinem Brüten auf, und es war ein Wunder, daß ich »Herein!« rufen und nach fünf Minuten halb blödsinnigen Hinstarrens sagen konnte:

»Nimm Platz, Joseph!«

Wenn mein Freund Joseph Sonntag auch sonst durchaus nichts Gespensterhaftes in seinem Wesen und seiner Erscheinung hatte, so machte er selbst und sein Erscheinen an diesem Abend vollständig den Eindruck desselben auf mich, und es war nicht zum Verwundern. Er war naß und bleich und brachte einen Regengeruch und Leichenduft mit in das Zimmer. Seine wasserblauen Augen quollen aus ihren Höhlen und stierten umher, ohne etwas zu sehen. Er fiel auf den Stuhl, welchen ich ihm unterschob, wie ein Automat; was ihm begegnet war, konnte ich nicht wissen, und so mußte ich mit untergeschlagenen Armen warten, bis er imstande war, es mir mitzuteilen.

Endlich sagte er, zwischen jedem Worte nach Luft schnappend:

»Du hast meinen Brief vorgestern erhalten, August?«

»Natürlich. Es war eine sehr erfreuliche Nachricht; ich habe dir ja auch auf der Stelle auf demselben Wege durch die Stadtpost das beste Glück zu dem fröhlichen Ereignis gewünscht. Mutter und Kind befinden sich hoffentlich wohl?«

»Meine Frau ist sehr krank!« sagte mein Freund Joseph, und ich war aufgesprungen, hatte ihn an beiden Schultern gepackt, ohne – das Recht dazu zu haben; er aber hatte es geschehen lassen, ohne von seinem Rechte, mich abzuschütteln, Gebrauch zu machen.

»Deine Frau – Karoline – deine Frau ist krank? Wie siehst du aus, Mensch? Was ist geschehen? So sprich doch!«

»Ja, es ist alles gut vorübergegangen – wir dachten, nun sei alles überwunden; – – O August, August, sie liegt im Sterben, der Arzt hat mich auf das Schlimmste vorbereitet, und nun – nun will sie dich sehen, will mit dir sprechen – eine Droschke hab ich unterwegs aufgegriffen – wenn du ihren Wunsch erfüllen willst?«

» Mich will sie sehen? Mit mir will sie sprechen? Liegt sie im Phantasieren, Joseph?«

»Nein, nein. Ihre Sinne sind klar, ganz klar; o viel klarer als die meinigen; denn ich weiß nicht, was ich tue, was ich sage, was ich tun und sagen soll!«

Ich sah meinen Freund an und glaubte ihm aufs Wort; er sah in der Tat aus, als ob er nicht viel von sich und seiner Umgebung wisse; er tat mir leid, obgleich er auch in diesem Augenblicke nur eine Nebenperson war.

»Wenn es sich so verhält, wie du mir mitteilst, so werde ich dich begleiten. Sie will mich sehen! Sie will mit mir sprechen! Gedulde dich einen Augenblick, Joseph; ich bin sogleich zu deiner Verfügung.«

Ich hatte nicht viel zu verschließen; Überrock, Hut und Regenschirm waren leicht gefunden; einige Minuten später saß ich an der Seite meines Freundes im Wagen, wir fuhren durch das Schnee- und Regenwetter, durch die stürmische Nacht nach der Apotheke zur Königin von Saba, und daß ich kein schlechter Mensch sei, hätte mir wiederum klarer werden müssen, wenn ich Zeit gehabt hätte, meine Seelenregungen zu zergliedern. Als der Wagen hielt, fürchtete ich mich, und als ich beim Trepphinaufsteigen das Geschrei des jungen Sonntags vernahm, wußte ich nicht, was ich mit mir anfangen solle; dann aber stand ich in dem dunkeln, heißen Gemach, in welchem die kranke Karoline lag, und mein Freund Joseph und die Wärterin wurden hinausgeschickt: ich erfuhr, was Karoline mir zu sagen hatte, sie entschuldigte sich, weil sie mich nicht zum Mann bekommen hatte, setzte mir auseinander, daß es nicht ihre Schuld gewesen sei; sie empfahl mir sodann ihren wackern, guten Joseph, der ihr nie etwas zuleid getan habe, und ihr Kind. Als ich mit brennenden Augen und zitternden Lippen und Knien das Zimmer der Sterbenden verließ, hatte ich ihr versprochen, das Kind über die Taufe zu halten und ihm meinen Namen geben zu wollen.

»Ach Joseph«, sagte ich auf der Treppe, »wir haben ein großes Unglück in Geduld zu tragen. Möge dein Junge mehr Glück im Leben haben als wir beide, und möge ihm vor allem unser Schwiegerpapa erspart bleiben.«

»Gott segne dich, August!« schluchzte Joseph, sich klettenhaft an mich hängend. Am zwanzigsten November achtzehnhundertneunundzwanzig ist Karoline Sonntag wirklich gestorben; – ich wünsche diese Stilübungen am ersten Tage des Jahres achtzehnhundertdreißig fortsetzen zu können. –


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