Wilhelm Raabe
Drei Federn
Wilhelm Raabe

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Ich war zu alt und nicht sentimental genug, um dem dummen jungen und mündigen Mündel nachzubluten wie einer abgeschiedenen oder anderwärts etablierten Geliebten; ich konnte ihn nur laufen lassen und in wenig veränderter Weise fortleben, wie ich gelebt hatte, halte es auch unter meiner Würde, pathetisch zu versichern, daß mit diesem Faktum die letzte Faser, welche mich noch mit der Menschheit verknüpfte, abgerissen sei. Ich arbeitete fort, das heißt, ich setzte in der gewohnten Weise meine Persönlichkeit dem wimmelnden Allgemeinen entgegen, nur wurde der Kampf immer mechanischer; denn da der Zweck jetzt mit meinem Leben endete, so mußte mit den kürzern Tagen, den dunkleren Schatten die große, kahle, leere Gleichgültigkeit mehr und mehr die letzte Lust an der Bewegung verdrängen. Nachdem eine Reihe bedeutender Prozesse abgewickelt und zu Ende gebracht war, gab ich meinen Klienten die Akten zurück und wies jede neue Arbeit ab und die Arbeitgeber an jüngere Kollegen, welche noch mehr Spaß und Befriedigung an der Sache fanden. Nur ein einziges verwickeltes Monstrum behielt ich für mich, in der Furcht, allzusehr an das widerliche, monotone Schnurren des Spinnrades der Frau Justitia gewöhnt zu sein, um nicht gleich einem Müller beim Stillstand seiner Mühle in ein neues Unbehagen zu versinken. Neunzig Jahre und mehr hatte sich dieser Streithandel hingeschleppt, und der erste Advokat, welcher eine Feder dafür eintauchte, trug eine Allongeperücke und Schnallenschuhe und unterzeichnete Notarius publ. caesareus. Er schrieb eine gute, feste Hand, aber sie wurde zitteriger, undeutlicher von Faszikel zu Faszikel und verschwand; eine andere Handschrift hatte sie abgelöst, welcher wieder eine andere folgte, bis endlich die meinige sich einschob, um wieder durch Jahre und Jahre den alten verdrießlichen Unrat weiterzuschleppen. Das Streitobjekt war längst zur Nebensache geworden, nur sein Gespenst lag wie ein unabwerflicher, tödlicher Alp auf der Brust eines neuen Geschlechtes, welches gewinnend oder verlierend nur Schaden und Verdruß zu gewärtigen hatte. Die Völker Europas hatten seit Beginn dieses Prozesses ganz andere Händel auszufechten gehabt und waren damit gut oder übel zu Ende gekommen; diese Narrheit aber schien zu keinem Ende gelangen zu können, und was das schlimmste war, die streitenden Parteien waren gezwungen, den Hader bis zum letzten Spruch fortzusetzen. Was aber andern das Schlimmste sein mochte, das war mir das Gelegene; jahrelang hatte ich in dem entsetzlichen Staub und Wust dieses Handels gewühlt und mich ebenfalls nach dem Ende gesehnt; nunmehr aber fing ich, abgelöst von allem andern, an, mich mit dem aus diesen Aktenblättern emporsteigenden, lächerlich-tragischen Geiste auf sehr freundschaftlichen Fuß zu stellen; und der Tag, an welchem der mit dem Schweiß und Blut fast eines Jahrhunderts zusammengedrehte Strick durch den hohen Deutschen Bund seltsamerweise und ganz gegen jedermanns Erwartung abgeschnitten wurde, war ein Unglückstag für mich. An dem Tage, an welchem ich diesen Prozeß, beinahe gegen meinen Willen, gewann, horchte ich meinem Barbier und dem Agenten Pinnemann zum erstenmal ohne jene Ironie, welche die Gesunden, die Starken, die Götter auszeichnet. An diesem Tage war ich zum erstenmal krank, krank in der schlimmsten Bedeutung des Wortes, und verfiel nicht den Banden der Unterirdischen, sondern der gemeinen und doch so unabweislichen Macht dessen, was zwischen dem Tartarus und dem Olymp kriechend sich nährt, gleich mißachtet von der Tiefe wie von der Höhe.

Ich war müde – unsäglich müde; der Moment der Erschlaffung, welchen ich seit so langer Zeit langsam hatte herankriechen sehen und vor welchem ich mich in stillen Nächten oder noch schlimmer in stillen Minuten an wilden, geräuschvollen Tagen mitten in der sich überstürzenden Arbeit so sehr gefürchtet hatte, war herangeschlichen, war da – ich fühlte es in allen Knochen und Seelenfasern. Hier lag die Ironie und die Strafe, August Sonntag! Daß du persönlich »sieghaft« eingriffest, war weiter nicht nötig, wenngleich ich den Wunsch, den du weiter oben deiner Frau ausdrücktest, ganz natürlich finde. –

Die mächtige Göttin Gelassenheit entfaltete ihre Flügel und entfloh. Sie, die flüchtigste aller Göttinnen – flüchtiger selbst als das Glück, die Jugend und die Schönheit –, zeigte sich auch als die undankbarste. Sie entschwand, ohne die geringste Rücksicht auf die vielen angenehmen Leidenschaften zu nehmen, welche ich ihr mühselig zum Opfer gebracht hatte!

Bedürfnisse, welche mir bis jetzt fremd gewesen waren, stellten sich allmählich ein; verachtete Verhältnisse gewannen plötzlich Bedeutung, und manches, was ich lächelnd zu meinen Füßen sah, zeigte mir jetzt dräuend die Fäuste und Zähne. Ich fing an, meinen Puls zu fühlen und an die Kunst der Ärzte zu glauben; alles in allem genommen, wurde ich menschlicher, aber auch zugleich unglücklicher – unedler. Vielleicht wäre es jetzt ein Glück gewesen, wenn ich mich an irgendein bequemes Laster hätte klammern können, und ich versuchte das. Naturgemäß, instinktmäßig griff ich den Geiz heraus und bildete mir eine kurze Zeit lang ein, in ihm das fehlende Gewicht für die eine leer gewordene Schale der Waage des Daseins gefunden zu haben. Leider sah ich bald ein, daß ich in einer angenehmen Täuschung befangen gewesen sei – der Versuch schlug glänzend fehl; ich besaß keine Anlage, den Hund mit den tellergroßen Feueraugen über der Geldkiste im Keller zu spielen. So setzte sich denn die Indolenz, die schlechtere Schwester der Gelassenheit, an meine Seite, und der Augenblick, wo sie den Platz den Kusinen Gleichgültigkeit und Unempfindlichkeit überließ, konnte nicht fern sein: Pinnemann war mir jedenfalls schon unentbehrlich geworden.

Pinnemann hatte das Schachspiel erlernt, um mir, auch nach dieser Seite hin, seine Existenz zu einem Vergnügen zu machen. Je älter ich wurde, desto jugendlicher schien er zu werden; er wuchs immer höher über sich hinaus, je weniger Widerstand ich seiner Zärtlichkeit entgegensetzte; nie kam er, wenn seine Gegenwart lästig sein mußte; er war immer zur Hand, wenn ich sie erträglich – wünschenswert fand. Er gab mir nie Anlaß zu bemerken, daß unsere gegenseitige Stellung eine andere geworden sei; ich durfte noch immer mit ihm spielen wie die Katze mit der Maus, wie Friedrich der Große mit seiner witzigen französischen Tischgesellschaft, und so – gewann er den Sieg, und so vergaß ich, wie mein Mündel, der Doktor Sonntag, und der Geheimrat von Goethe sich ausdrückten, das Zauberwort, welches den Besen wieder zum Besen macht; so ward Pinnemann der Herr und August Hahnenberg der Diener. Ganz logisch setzte ich Fuß vor Fuß, ganz langsam und bequem kam ich den Berg herunter, und als eines Tages der Herr Agent Pinnemann, um »nötigenfalls bei dem betrübten, kränklichen Zustande des Herrn Notars schnell zur Hand sein zu können«, in mein Haus gezogen war, fanden ich und die Welt auch darin keinen Grund zur Verwunderung. Daß Hohennöthlingen sich noch darüber wundern könne, lag außerhalb meiner damaligen Anschauungsweise; daß es daran Anteil nehmen mußte, kam erst später zur Erscheinung. –

Wie oft richtet sich der altgewordene Mensch am Morgen aus seinen Kissen empor, um sich zu ärgern, wieder einmal aufgewacht zu sein! Wer eine Tabelle darüber führte, würde gewiß zu einem sehr trübseligen Resultat gelangen und die erhöhte Befähigung, dem gesunden, traumlosen Schlaf eine Lobrede zu halten, teuer erkaufen!

Es ist merkwürdig, welche entsetzlichen Gesichter die gewöhnlichsten Gegenstände, welche in dem allergemeinsten Hörigkeitsverhältnis zu uns stehen, schneiden können, einerlei, ob die Frühlings- und Sommersonne durch das Fenster scheint oder der Regen und Schnee des Winters an den Scheiben niederrieselt. Hundert Gespenstererscheinungen richten sich mit uns bei einem solchen Erwachen aus den Kissen auf: das Waschbecken erinnert einen an ein prachtvolles, stilles, abgelegenes Fleckchen, überzogen und umgeben von Lemna trisulca, schwimmender Igelknospe, Wassernabel, Wasserfedern und Riedgras, wo niemand uns unter den überhängenden Weiden suchen wird, bis es sich nicht mehr der Mühe lohnt, uns zu finden. Das Rasiermesser wird zu einer Schicksalsmacht, welche es auf etwas anderes abgesehen hat als auf die grauen Stoppeln unseres Bartes, und der Nagel hinter der Tür, an welchem der Schlafrock hängt, bekommt einen sehr dicken Kopf und eine sehr ungemütliche Fratze, welche die Zunge herausstreckt gleich einem Gehängten und wenig mit den Leiden und Freuden des kommenden Tages zu tun hat. Zur allertödlichsten Feindin aber ist ganz unmotivierterweise die Uhr geworden, und der Lümmel von bronziertem Amor, der neben dem Zifferblatt lehnt, zielt mit einem Lächeln auf uns, welches die Identifizierung des blinden Knaben mit der legitimen Fortdauer des Menschengeschlechtes zu einem niederträchtigen Hohn macht. Daß das Hin- und Herschwingen des Pendels in solcher Stimmung einen unsäglichen Reiz für uns haben muß, braucht kaum noch gesagt zu werden. –

»Er ist da, er ist da! Der Möbelwagen hält vor der Tür, Herr Notar!« rief meine Haushälterin, Madam Feuchtenbeiner, aufgeregt atemlos den Kopf in mein Zimmer steckend. »Der Herr Agent werden sogleich nachfolgen.«

»Gesegnet sei sein Eingang und Ausgang; – ich habe nichts dagegen«, sprach ich und fügte hinzu: »Vergessen Sie meinen Haferschleim nicht, Madam Feuchtenbeiner.«

Die Madam machte eine Bewegung gegen mich, als ob sie ein Wickelkind auf und an ihr Herz nehmen wolle, und verschwand; fünf Minuten später machte mein neuer Hausbewohner mir seine Aufwartung; nach einer Unterredung von zehn Minuten entließ ich ihn mit der Bitte, meinen guten Ruf nicht allzusehr zu vergessen, und er verschwand mit den gleichen Gesten wie die Madam.

»Er wollte es nicht besser haben!« würde Mathilde gesagt haben; mit welchem Recht, wollen wir dahingestellt sein lassen. –

Es kann sehr ungemütlich werden, durch halbgeschlossene Augenlider die Zimmerdecke oder das Tapetenmuster der Wände zu betrachten. An und auf beiden Flächen können mannigfaltige Gestalten und Bilder vorübergehen, endlose Reihen von dagewesenen und nicht dagewesenen Dingen, spukhafte Schatten der Zukunft. Ehe wir gestern abend ins Bett krochen, beleuchteten wir törichterweise unsere Nase im Spiegel – da liegt's! Die ganze Nacht hindurch schlugen wir uns mit dem lächerlichen, in gelben Flanell gewickelten Wesen, welches uns aus dem Glase entgegenblickte, herum. Wir hatten ihm zu beweisen, es sei der Papa Spierling aus der Apotheke zur Königin von Saba oder sonst so eine unberechtigte, hinfällige Wackelköpfigkeit; es aber behauptete hüstelnd und zeternd, Hahnenberg sei sein Name, Notar August Hahnenberg, und seine Personalakten befänden sich in vollkommener Ordnung und man kenne es in der Stadt und es habe sich seines Rufes nicht zu schämen. Wir hielten uns die ganze Nacht hindurch an den Kehlen, nachdem wir von Worten zu Tätlichkeiten übergegangen waren; wir zausten und zerrten uns hin und her, wir wollten einander aus dem Bette werfen; es klapperte des unverschämten Widersachers dürres Gebein, immer lustiger und siegesgewisser; – – ich fühlte die beiden magern Knie des Papas Spierling in ihren ekelhaften, abscheulichen, schmutzgelben Flanellfutteralen wie zwei Schraubstöcke auf der Brust; die giftige, spitze Nase bedrohte meine Augen gleich dem Schnabel eines Raubvogels, der Atem entging mir, mit hellem Wehgeheul erklärte ich mich für besiegt und die Philosophie des »Ich bin Ich« für eine Narrheit – – die Sonne schien auf mein Bett, und ich saß aufrecht in meinem Bette; die Sonne schien auf die geballte Faust, mit welcher ich soeben noch den Schwiegervater meines seligen Freundes Joseph von mir weggedrückt hatte; es war meine Faust, und es war die Faust des nächtlichen Spukgeistes mit all ihren fleischlosen Knochen, ängstlich hüpfenden Adern, Runzeln und Rissen; – ich bin doch Ich!

Da ist er. Da sitzt er. Er hat an die Tür geklopft, während ich, betäubt und zerschlagen vom nächtlichen Kampfe mit dem höhnischen Spiegelbilde, fast bewegungslos liege, um meine Gedanken und Gliedmaßen zusammenzusuchen. Ich rief nur allzugern »Herein!«, und er kam tänzelnd und lächelnd mit unzähligen Bücklingen; – Pinnemann! – er bringt seine eigene Atmosphäre mit sich; es ist der Duft der Gasse, aber es ist auch zugleich der Duft des Lebens, dessen wir selbst in dem Augenblick noch, wo wir im Begriff sind, uns den Hals abzuschneiden, bedürfen.

Da sitzt er neben meinem Kopfkissen, ganz wie ihn die Frau Mathilde sah: so glatt rasiert und glatt frisiert, so gemein-vergnügt, so hohl und nußknackerhaft, mit Ringen und Ketten und Busennadel, mit dem unanständigen Elfenbeingriff eines zierlichen Stöckchens um die Lippen, die Nase und das feiste Kinn spielend, gesund, bestens konserviert, ein wohlverdauender, heiterer Jüngling, trotz seiner wohlgezählten achtundvierzig Lebensjahre. Das ist so etwas ganz anderes wie unser Wesen, unser Leben, wie unser Erwachen und vorzüglich etwas ganz anderes als unsere Morgenstimmung! Er läßt sich durch die halbgeschlossenen Augenlider viel besser betrachten als die Wände und die Decke; alles an ihm hat eine so wunderliche, so närrische Geschichte, und das zieht uns so beruhigend von unserm innersten Dasein ab, indem es uns zu gleicher Zeit darin recht gibt. Diese Perücke, dieses Augenglas! Ist es nicht besser, sich zu fragen, was unter der erstern vorgehe, wie die Welt sich durch das zweite ansehe, als sich von dem Papa Spierling, der vor dreißig Jahren begraben wurde, über seine Identität zweifelhaft machen zu lassen? Man hat es ja, wenn man je einen Wert darauf legte, längst aufgegeben, an jeden Vorgang eine Moral zu hängen und die Beispiele des Guten und Sittlichen allem, was draußen vor der Tür passiert, um den Kopf zu schlagen: so lauscht man denn mit Behagen dem Geplätscher der Tagesneuigkeiten wie einem Bache, dessen Geräusch bekanntlich seit undenklichen Zeiten als das Nonplusultra aller Einschläferungsmittel von den Poeten der prosaischen Mehrheit der Erdenkinder empfohlen worden ist.

Und Pinnemann beriecht liebkosend den Elfenbeingriff seines Rohrstöckchens, und Pinnemann blinzelt und spielt mit der Zunge um den Rand der Lippen und macht sich gar keinen Ruhm daraus, daß er auf unsern gestrigen Wunsch bereitwilligst unterließ, sich mit Moschus und Zibet einzureiben. Er führt nur einen leisen, nicht auffälligen Duft von Eau de Cologne mit sich; er ist so bescheiden, so hingegeben und hat so vieles mitzuteilen. Er weiß alles, und es wird zu einem wahren Genuß, das Universum sich in dieser Lache spiegeln zu sehen! Mit aller Behaglichkeit öffnet er seine Seele, so offen, so rückhaltlos, so vertrauensvoll, daß dereinst den drei Richtern der Unterwelt die Tränen in die Augen kommen müssen; und wenn er uns seine Meinung über den Stand der gegenwärtigen Politik mitteilt, so haben wir trotz all seiner kindlichen Bescheidenheit Ursache, auf diese Meinung zu achten; denn Hunderttausende, ja Millionen stehen hinter ihm, und die »Times« haben kein feineres Verständnis für den Augenblick als er. Auf alle Fragen hat er die Antwort bereit, der Katalog der Kunstausstellung ist ihm so geläufig wie der Kurszettel, er war gestern morgen bei der Hinrichtung und gestern abend bei der Aufführung der neuen großen Oper zugegen; wie die heutigen Römer macht er aus jedem irgend passenden Monument ein Immondezzajo, und er wird um so possierlicher, je pathetischer er sich zu erheben glaubt. –

Ich höre wie gewöhnlich den Strom der Bevölkerung rauschen, aber ich habe meine Dämme gegen ihn aufgerichtet; was ich noch davon näher zu haben wünsche, destilliert mir Pinnemann tropfenweise in einen klaren, durchsichtigen Apothekerkolben, in ein Wasserglas, welches ich vor mich auf den Tisch stellen kann, ohne daß ich mich im Lehnstuhl zu rühren brauche; – die Zeit, da ich mich selbst regte und atemlos meinen Karren schob, weicht mit wahrhaft wundervoller Schnelle in die undeutlichste Ferne zurück; noch ein kleines, und die Wirklichkeit wird vollkommen in den Worten Pinnemanns aufgehen; – man kann sich nichts Bequemeres, nichts Beschaulicheres vorstellen! –

 

Alles traf zusammen, mein Leben zu wahrhafter Befriedigung abzurunden. Ich hatte selbst geliebt, ich war in manchem Ehescheidungsprozesse tätig gewesen; nun sollte es mir vergönnt sein, den Prozeß einer wahrhaft glücklichen Liebe unter meinen Augen sich entwickeln zu sehen. Lächelnd hatte ich mich um die Ursache der freudigen Aufregung meiner Haushälterin, der Madam Feuchtenbeiner, beim Einzug des neuen Hausgenossen gefragt; sie war zu natürlich, um ihren Grund in einer unnatürlichen Sorge für mein häusliches Wohlbehagen haben zu können, und der tiefinnerste Bodensatz des Jubels trat auch bald zutage; man war bereits darüber einig, daß aus meinen Ruinen ein neues Leben sprossen könne und müsse. Diese beiden Diadochen hatten schon vor dem Tode Alexanders des Großen das weltliche Besitztum desselben geteilt, und es machte mir Vergnügen, ihren süßen Hoffnungen die zarten Triebe nicht abzuknicken: solche Hoffnungen sollen ja das Schönste sein, was das Leben den Menschen zu bieten hat.

Man konnte nicht behaupten, daß diese meine Madam zu den Jüngsten, den Anmutigsten ihres Geschlechts gehöre, und Aphrodite hätte eine sehr umfangreiche Person sein müssen, wenn ihr Gürtel zum Umspannen der mehr als junonischen Reize meiner Haushälterin ausgereicht haben würde. Ich bin aber auch fest überzeugt, daß Madam Feuchtenbeiner den Agenten Pinnemann ohne Entlehnung und Beihülfe dieses zauberischen Gürtels, von dem es in der Vossischen Übersetzung der »Ilias« heißt:

Dort war schmachtende Lieb und Sehnsucht, dort das Getändel,
Dort die schmeichelnde Bitte, die auch den Weisen betöret,

einfing.

Pinnemann war nicht nur ein wohlkonservierter, sondern auch ein gescheiter Mann und kannte ziemlich genau die besten Wege, mit fremden Kapitalien den eigenen friedlichen, behaglichen Herd zu bauen.

Wie man nach einem arbeitsvollen, mühseligen Tage am Abend im Theater sitzt, um einer albernen Posse zuzusehen, so saß ich jetzt, und auch nur mit demselben Interesse, an dem Gezappel, den Verrenkungen der Marionetten. Ich wußte, daß ich, vor Millionen hochbegünstigt, das Glück gewonnen hatte, stillsitzen zu dürfen, und hatte keine Ahnung, daß noch irgendein gewagter Purzelbaum der bunten Puppen, eine neue phantastische Dekoration oder eine glänzende bengalische Flamme mich aus meinem Halbschlaf emportreiben könne. –

O Frau Mathilde, es war im Buche des Schicksals geschrieben, daß wir einander kennenlernen sollten. Wir sitzen jetzt zusammen in einer Loge, ein ganzes Häuflein, und horchen auf die Geigen und Klarinetten, die Trompeten, Pauken und Posaunen, den großen Baß nicht zu vergessen. Es ist doch angenehm, junge Herzen neben sich zu haben, junge Leute, welche noch elektrisiert aufspringen können, um Bravo und Dakapo zu rufen, welche während der rührenden Stellen ihre Tränen ohne Scheu zeigen oder wenigstens sehr ostensibel ihre Taschentücher gebrauchen!


 << zurück weiter >>