Abbé Prévost d'Exiles
Geschichte der Donna Maria und andere Abenteuer
Abbé Prévost d'Exiles

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Abenteuer eines Verzweifelten

Als vor einigen Jahren zwei Männer zwischen elf und zwölf Uhr nachts über die Pont-Neuf gingen, vernahmen sie die Stimme einer Frau, die in einer dringenden Gefahr zu sein schien, welcher aber ihre Angst selber oder eine heftige Leidenschaft die Kraft raubte, ihre Schreie weithin vernehmbar zu machen. Die beiden Fussgänger aber strebten eiligst in der Dunkelheit vorwärts und standen bald wie unbeweglich vor Erstaunen über das Schauspiel, welches sich ihnen bot. Ein schwaches Licht, das der Mond durch eine Wolke sendete, liess sie eine Frau sehen, welche fortgesetzt mehr Schreckensseufzer als Schreie ausstiess, in die sich einige undeutlich gesprochene Worte mischten, durch welche sie um Gnade wenigstens für ihr Leben bat. Ein gutgewachsener und anständig gekleideter Mann trieb sie wider ihren Willen längs der Brüstung und, nachdem er sie auf einen Schlag über die Mauer gebogen hatte, schien er willens zu sein, sie in die Seine zu werfen, als er, die Bewegung wechselnd und die Frau im Gegenteil zur Mitte der Brücke zurückstossend, zu ihr sagte: »Geh, du bist nicht wert zu sterben!«, sich leicht auf die Mauer schwang und sich selber, ohne ein einziges Wort weiter zu sagen, hinabstürzte.

Nachdem all dieses so schnell vor sich gegangen war, dass die beiden Fussgänger keine Zeit gehabt hatten, sich von ihrer anfänglichen Ueberraschung zu erholen, veranlasste sie nun das natürliche Mitgefühl, alsobald nach den Treppen zu laufen, welche sich an verschiedenen Stellen längs dem Flusse befinden. Und sie entschlossen sich, bis zu den Fährschiffen zu eilen, welche den Quatre-Nations gegenüber sind, in der Absicht, sich ihrer zur Erleichterung ihres Vorhabens zu bedienen. Sie kamen dort tatsächlich glücklicherweise fast in demselben Augenblicke an, wo sie den Körper so nahe an sich vorbeischwimmen sahen, dass sie sich nicht täuschen konnten. Da sie indessen weder Ruder noch Ruderstangen in den Schiffen gefunden hatten, würden sie vergebens die Arme ausgestreckt haben, wenn sie nicht darauf verfallen wären, tiefer an das Flussufer hinabzusteigen bis zu den schwimmenden Kästen ähnelnden Rampen, auf denen man Wäsche wäscht. Nachdem sie ihre Absichten einander mitgeteilt, und dass die letzten Kästen beinahe mitten in der Strömung lägen, traten sie nahe genug heran, um nichts weiter nötig zu haben wie die Arme auszustrecken, um den Leichnam aufzufischen, der gerade von selber dahergeschwommen kam.

Ich gebe ihm diesen Namen, der ihm vielleicht zukam, da er sich in nichts von einem leblosen Körper unterschied. Nachdem man ihn jedoch einen Augenblick mit den Beinen nach oben gelegt hatte, liess die Gewalt, mit welcher er eine Menge Wasser von sich gab, erkennen, dass noch nicht all seine Lebenskraft erloschen sei. Beinahe sogleich kam er wieder zu Bewusstsein. Er fragte seine Retter, wo er weile und durch welche Himmelsfügung er sich in ihren Armen befinde.

Alsbald erinnerte er sich selber aller Umstände seines Erlebnisses und dankte ihnen lebhaft für den Dienst, welchen sie ihm erwiesen hatten. »Wie schwach ist die Vernunft,« hub er zu ihnen in einem sehr ruhigen Tone an, »dass sie uns so übel in der Aufwallung einer heftigen Leidenschaft bedient! Aber, wenn Sie, ehe Sie mir so edelmütig zu Hilfe kamen, Zeugen meines Wahnsinns gewesen sind, so sagen Sie mir doch,« fügte er hinzu, »was aus der Unglücklichen geworden ist, die meinen Verstand verwirrte und eher als ich das schreckliche Los verdiente, dem ich mich aussetzte!«

Sie erzählten ihm alles, was sie gesehen und wie sie es bewerkstelligt hatten, ihm zu Hilfe zu kommen, ohne Zeit gehabt zu haben, seiner Gefährtin die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. »Wehe,« entgegnete er seufzend, »sie ist der Sorge, die mich noch beunruhigt, nicht wert, aber, was macht's; wenn nur wenige Augenblicke seit meinem Sprunge verstrichen sind, werden Sie sie vielleicht auf der Pont-Neuf wiederfinden; helfen Sie ihr, nach Hause zurückzukehren, ich verzichte für immer darauf, sie wieder zu sehen!«

Um ihn zu befriedigen, kehrte einer der beiden Retter nach der Pont-Neuf zurück; doch suchte er sie überall vergebens; auch erhob er, um gehört zu werden, vergeblich seine Stimme. Nachdem er niemanden hatte finden können, hörte er einige Leute, welche aus der Rue Dauphine kamen; er fragte sie, ob sie einer Dame, die zu Fuss und ohne Begleitung gewesen sei, begegnet wären, und vernahm von ihnen, dass sie eine solche an der Ecke ungefähr der Rue de Bussy unter dem Schutze der Wache gesehen, welche sie in ihrer Gegenwart gebeten habe, sie nach Hause zu bringen. Es war klar, dass sie die Gesuchte war. Er strebte alsogleich mit ebensoviel Lust, den Grund dieses Abenteuers zu erfahren, wie Eifer, seine Dienste fernerhin anzubieten, nach dem Kai zurück. Fand dort den unglücklichen Unbekannten an demselben Platze, wo er ihn verlassen hatte, jedoch hinreichend wieder hergestellt, um sich mit mehr geistiger Regsamkeit den Sorgen, welche seinem Zustande angemessen waren, widmen zu können. Als er erfahren hatte, dass die Dame in Sicherheit sei, bat er seine beiden Gefährten, ihm offen zu erklären, wer sie seien, um zu erfahren, ob er sie für ebenso fähig der Verschwiegenheit wie der Hilfsbereitschaft halten dürfe, und ob er ihnen in gleichem Masse Vertrauen schenken könne, wie er ihnen Dankbarkeit und Zuneigung schulde. Der eine gestand, er wäre Notar. Der andere war Intendant des verstorbenen Herzogs von *** gewesen und lebte, nachdem er sich nach dem Tode seines Herrn von seinem Amte zurückgezogen hatte, ehrsam von seinem Vermögen. Beider Berufe liessen auf Weisheit und Billigkeit schliessen. Der Unbekannte zauderte nicht, sich durch ein längeres Geständnis auszusprechen. »Ich bin glücklich,« hub er zu ihnen an, »solch ehrenwerten Leuten verpflichtet zu sein. Sie können mir noch nützen, und ich rechne darauf, dass all das Wichtige, welches ich Ihnen anvertrauen will, Ihnen das unverletzliche Gebot des Schweigens auferlegen wird!« Er nannte ihnen darauf den Namen der Dame, die all sein Unglück heraufbeschworen hatte, und indem er den Notar bat, sich auf der Stelle zu ihr zu verfügen, trug er ihm auf, sie wissen zu lassen, dass er glücklicherweise gerettet wäre, sowie ihr vorzustellen, es liege in ihrem eigenen Nutzen, sich über alle Ereignisse dieser Nacht ein ewiges Schweigen aufzuerlegen. »Sagen Sie dasselbe ihrem Vater,« fügte er hinzu, »denn ich denke mir, dass sie ihm in der ersten Bestürzung die Wahrheit teilweise enthüllt haben wird, und versprechen Sie ihnen meinerseits, dass sie, wenn sie fähig zu schweigen sind, niemals etwas von meiner Rache zu befürchten haben!« Darauf nannte er ihm eine nur wenig entferntliegende Schenke, wohin er sich mit dem Intendanten begeben wolle, um seine Kleider zu trocknen und um sich instand zu setzen, damit er nach Hause zurückkehren könne, ohne dass seine eigene Familie sein Erlebnis argwöhnen möchte.

Nachdem sich der Notar sehr geschickt seines Auftrages entledigt hatte, stellte er sich an dem näher bezeichneten Orte ein. Er erzählte ihm, er habe Vater und Tochter tief betroffen vorgefunden, doch habe sie die Rede, die er ihnen gehalten, scheinbar sehr beruhigt, und ohne sich deutlicher auszudrücken, hätten sie die ihnen abverlangte Verschwiegenheit zugesichert. »Die Schändliche, Treulose!«, rief der Unbekannte, für einen Augenblick seiner Geistesabwesenheit nachgebend; »durfte ich ihr Leben schonen? Welche Wut machte mich so blind, dass ich mich an meinem vergriff? Aber denken wir an keine andere Rache wie die Verachtung. Ich bin Ihnen zu sehr verbunden,« fuhr er fort, indem er seine beiden Retter anschaute, »als dass ich Sie im unklaren über das lassen dürfte, was mich in den Abgrund stürzte, aus dem Sie mich gezogen haben; und wenn ich Sie billigerweise bitte, geheimzuhalten, was vor Ihren Augen geschehen ist, muss ich Ihnen doch von vornherein gestehen, dass ich Sie dessen für fähig halte. Hören Sie meine traurige und schimpfliche Geschichte:

Ich bin der erstgeborene Sohn einer sehr reichen Familie und würde längst in einer meiner Herkunft angemessenen Weise verheiratet sein, hätte mich nicht die Macht einer Leidenschaft, die ich nicht zu besiegen vermochte, allen Glücksvorteilen gegenüber unempfindlich gemacht. Ein Ungeheuer, von dem ich nur noch mit Abscheu reden darf, liebreizend genug, um angebetet zu werden, verführte mich vor etwa zwei Jahren; sie war die einzige Tochter eines damals in meiner Nachbarschaft wohnenden Arztes. Ich sah sie bei meinen Schwestern, durch deren Umgang sie sich sehr geehrt zu fühlen schien. Eine unaussprechliche Leidenschaft für sie keimte in mir. Sie hatte kaum ihr zwölftes Lebensjahr erreicht. Ich konnte meine Gefühle nicht vor ihr verbergen. Ihre Antwort brachte mich keineswegs zur Verzweiflung, aber sei es, dass sie damals tugendhafteren Herzens war, sei es, dass sie schon schlau genug war, ihre Vorteile auszunützen, sie stellte ihre Besuche bei meinen Schwestern ein und schien bestrebt zu sein mich zu meiden. Um ihr zu begegnen, wendete ich alle Sorgfalt an, und machte ihr, als ich Gelegenheit gefunden, mit ihr auf der Promenade zu sprechen, lebhafte Vorwürfe über ihr auffälliges Fortbleiben. Sie hörte mir zu, und wenn ich schon von ihrem Aussehen entzückt gewesen war, wurde ich's noch mehr von ihrem Charakter, denn als sie mir bekannt hatte, dass sie Zuneigung zu mir fühle, fügte sie hinzu, dass die Furcht, dieser allzu leicht nachzugeben, und gleichzeitig die genaue Kenntnis von der Ungleichheit unserer Herkunft und Glücksgüter, sie den Plan hätten fassen lassen, uns beiden nutzlose Nöte zu ersparen. Seit diesem Augenblicke würde ich ihr alles geopfert haben und bekannte ihr ohne Umschweife, dass kein Herz wie meines sich durch so schwache Widerstände abschrecken liesse. Doch gab sie meinen inständigen Bitten nicht nach. Mehrere Wochen verstrichen mit Suchen neuer Gelegenheiten, sie zu sehen. Verzweifelt, mich so hartnäckig abgewiesen zu wissen, versuchte ich mehrere Male, trotz dem Widerstand, den ich an der Türe fand, und den ich nur ihren Befehlen zuschreiben konnte, mir Zutritt in ihr Haus zu verschaffen. Als ihr Vater benachrichtigt ward, dass ich seinen Dienstboten gedroht hätte, Gewalt anzuwenden, beschwerte er sich bei dem meinigen. Doch weit entfernt meinen Absichten zu schaden, nutzte ihnen dieser Schritt in zweifacher Weise, weil er in mir den Gedanken, mich an den Arzt selber zu wenden, aufkommen liess und er für immer den Argwohn meines Vaters beruhigte, dem verschiedene in der Folgezeit geschehene Vorkommnisse die Augen über meine Aufführung würden geöffnet haben.

Statt an die Ausführung meiner Drohungen zu denken, bat ich anständigerweise, den Arzt sehen zu dürfen, welcher mir solche Gunst nicht abschlagen konnte. Klagte ihn liebenswürdig an, mir einen tödlichen Schmerz dadurch bereitet zu haben, dass er gegen mich aufträte, ohne die Natur meiner Gefühle und Absichten zu kennen. Beinahe dreissig Jahre alt stände ich in einem Alter, wo man auf meinen Charakter und meine Versprechungen hinreichend bauen könnte. Nun denn, ich liebte seine Tochter mit den Gefühlen eines ehrenwerten Mannes und wäre bereit, ihm mein Wort zu geben, sie zu heiraten. Die Erlaubnis, sie zu sehen, welche ich ihn mir zu gewähren beschwur, könnte solche Hoffnung nur in mir reifen lassen. Schliesslich stellte ich es ihm frei, ureigene Vorsichtsmassregeln zu treffen, um sich von seiner Unruhe zu befreien und selber die Bedingungen zu stellen, welche das Heil seiner Tochter und mein Glück sichern könnten.

Diese Rede, in die ich alle Kraft legte, welche Ehre und Liebe einzuflössen vermögen, machte mehr Eindruck auf den Arzt, als ich zu erwarten gewagt hatte. Seine Einwände beschränkten sich auf die Besorgnis, meinen Vater zu beleidigen und sich den Groll eines Mannes zuzuziehen, dessen heftige Laune und dessen Einfluss er eines wie das andere kannte. Ich überzeugte ihn jedoch bald, dass ich ungebunden wäre, in meinem Alter ein Mädchen zu heiraten, das mir gefiele und dessen Tugend Glücksgüter hinreichend aufwöge. Wenn ich einige Schonung meinem Vater gegenüber zu beachten hätte, wäre es unschwer, dieser Pflicht nachzukommen, indem ich ihm meine Neigung und die Verbindlichkeiten, welche ich auf mich nehmen wollte, verschwiege. Sie könnten in gleicher Weise der Oeffentlichkeit verheimlicht werden, ohne dass sie durch diese Umstände etwas von ihrer Kraft und Heiligkeit verlören. Eine so lautere und wahre Sprache verschaffte mir die Zustimmung des Arztes. Einzig legte er mir zwei Bedingungen auf: erstens sollte ich, um ihm alle seine Zweifel zu nehmen, sogleich seine Tochter heiraten und zweitens während zweier Jahre auf die Eherechte verzichten, weil das Missverhältnis unserer Kräfte ihn für ihre Gesundheit fürchten liess.

Meine Gefühle waren so rein, dass ich, ohne mich über seine Massnahme, die meinen Wünschen eine so lange Wartezeit auferlegte, zu beklagen, mich allzu glücklich wusste, das Mädchen zu erlangen. Auf der Stelle verpflichtete ich mich zur Ausführung dieser beiden Punkte und legte einen Schwur darüber zu Füssen der Tochter ab, welche gleich mir über einen so wenig erwarteten Ausgang sehr befriedigt war. Um meine Besuche leichter zu ermöglichen, und um meine Massnahmen meiner Familie zu verheimlichen, wurden wir eins, dass er sich in einem anderen Stadtteile ansiedeln solle. Ich nahm die Sorge auf mich, ihm ein bequemes Haus zu suchen und liess das Gemach der Tochter mit ebensoviel Pracht wie Geschmack ausstatten. Der Tag, an welchem sie es bezog, wurde für unsere Hochzeitsfeierlichkeit festgesetzt. Alle auffälligen Festlichkeiten vermeidend, trug ich nur Sorge, dass der Schicklichkeit genug getan wurde und nichts Wesentliches bei der Trauung fehlte, die alle Süsse meines Lebens ausmachen musste.

Sie werden sich über meine Zurückhaltung wundern, zumal in einem Jahrhundert, wo man sich so vieler Mässigkeit nicht gerade rühmen kann. In den zwei Jahren, in welchen ich diese unselige Kette trug, habe ich mir nichts zuschulden kommen lassen, was meinen Versprechungen zuwider lief. Aeusserst zufrieden mit der Freiheit, jederzeit eine angebetete Frau sehen zu können und mit zärtlichem Auge die Entwicklung ihrer Reize betrachten zu dürfen, erwartete ich ohne Ungeduld den Augenblick, an den ich mich gebunden hatte. Ich wendete all meinen Eifer an, ihren Gefallen an mir durch Zärtlichkeit und beständige Beteuerung meiner Liebe wachzurufen. Beschäftigte mich sogar ernsthaft damit, alles, was Erziehung und Weltkenntnis mich an Schönheitsgefühl und Einsicht hatten lernen lassen, in ihr wachzurufen, um sie für Herzens- und Geistesbildung empfänglich zu machen. Tagtäglich vermeinte ich zu bemerken, dass sie Nutzen aus meiner Sorgsamkeit zöge; darum hielt ich ihr die besten Lehrer und würde keinen Gegenstand in ihrem Gebrauche geduldet haben, wenn ich gewusst hätte, Hof und Stadt könnten sich auserlesenerer bedienen. Zwei ganze Jahre hatte ich, zurückgezogen von der Welt, den Freuden meines Alters und selbst dem Verkehr mit meinen Freunden, völlig in solcher Verzückung verbracht, stets nur darauf bedacht, allem auszuweichen, was mich von einem Orte fern halten konnte, wo ich alle Glückseligkeit vereint sah. Mein Vater merkte um den Wechsel meiner Aufführung und meiner Neigungen und bestürmte mich tausendmal, ihm ein Geheimnis zu enthüllen, welches ihn beunruhige. Er argwöhnte sogar, dass ich mich in einen kühnen Liebeshandel eingelassen habe; doch sein Argwohn liess mich nur meine Wachsamkeit verdoppeln, und ich war stets glücklich genug, die seinige zu täuschen.

Als ich mich vor drei Tagen mit dem Arzte über die Gesundheit seiner Tochter unterhielt, welche mir kräftig genug zu sein schien, um ihm all seine Angst zu benehmen, erinnerte ich ihn daran, dass der zwischen uns ausgemachte Zeitpunkt sehr nahe sei und er keine ausschlaggebenden Gründe mehr habe, mir Widerstand zu leisten; es sei an der Zeit, mir meine wohlverdienten Rechte zuzugestehen. Sie war bei dieser Rede nicht zugegen. Der Glaube, welchen ich an ihre Unschuld hatte, würde mich gehindert haben, Vorstellungen in ihr wachzurufen, die ihr fremd erschienen wären. Wenn es mir einige Male eingefallen war, einige derartige Spässe vor ihr zu wagen, hatte ich zu bemerken geglaubt, dass sie nichts davon verstünde; und ihre Sittsamkeit achtend, sah ich mich gezwungen, den Ton zu ändern. Da indessen ihr Vater mir geantwortet hatte, er glaube auch, dass sie nunmehr so reif sei, wie er gewünscht, um sie mir ganz zu überlassen, machte ich keinen Hehl aus meiner Hoffnung, bald auch die Nacht wie am Tage bei ihr zu verbringen. Man schlug selber vor, unsere Lustbarkeiten durch ein Fest zu feiern, zu welchem mit meiner Einwilligung einige ihrer nächsten Verwandten eingeladen werden sollten, die ich widerspruchslos in unser Geheimnis eingeweiht wissen mochte. Ich ordnete die Vorbereitungen zu einem grossen Abendessen an, welches morgen vor sich gehen sollte, und nachdem ich mir vorgenommen hatte, meinem Vater gegenüber anzugeben, ich wolle am Morgen verreisen, um acht Tage auf dem Landbesitz eines meiner Freunde zuzubringen, gedachte ich sie mit sehr viel mehr Wonne in der ersten Ausübung meiner Zärtlichkeit verstreichen zu lassen. Ich ging heute Nachmittag, ich muss es eingestehen, mit mehr Freude als gewöhnlich zu meiner sittsamen und unschuldigen Geliebten. Treffe sie nicht zu Hause an. Ihr Vater sagt mir, sie habe ihn um die Erlaubnis gebeten, nach dem Palais gehen zu dürfen, um sich dort einige Geschmeide auszusuchen; sie sei, von ihrem Diener gefolgt, in einer Mietkutsche fortgefahren, sei vor dem Essen noch bei einer ihrer Tanten und könne nicht vor zehn oder elf Uhr zurück sein.

Meine Ungeduld, sie zu sehen, und die Lust, ihr selber alles zu kaufen, was ihr gefallen möchte, treibt mich auf der Stelle nach dem Palais. Verbringe dort zwei Stunden mit vergeblichem Suchen. Ohne einen anderen Kummer, wie das beabsichtigte Vergnügen verpasst zu haben und fortgehen zu müssen, ohne den einzigen Gegenstand meiner Liebe gesehen zu haben, kehre ich zu ihrem Vater zurück und bin willens, sie hier zu erwarten.

Indem ich über die Freude nachdachte, die mir für den anderen Tag in Aussicht stand, und die mich im voraus all meine Seligkeit ahnen liess, vermeinte ich, dass mich nichts verpflichte, das solange hinauszuschieben, was ich schon am gleichen Tage gemessen könne. Mein selbstgefasster Entschluss, sie zu erwarten, war ein ganz natürlicher Vorwand. Ich teilte meine Absichten dem Arzte mit, der sie gerne gut hiess. Zu solchem entschlossen, bereitete es mir von neuem Vergnügen, meiner Geliebten entgegenzugehen. Nachdem ich mir den Ort, wo sie weilte, hatte bezeichnen lassen, verharrte ich geduldig länger als eine halbe Stunde allein auf der Strasse, da ich meinen Diener nach Hause geschickt hatte, um meine Abwesenheit durch eine Entschuldigung in günstigerem Licht zu zeigen, und wollte nicht eher erscheinen, als sie ihre Tante verlassen, weil ich ihre Unschuld stets zu schonen bestrebt war.

Endlich kam sie. Ihr Lakai hatte ihr eine Sänfte geholt, die sich auch sogleich in Bewegung setzte. Ich stand etwa zwanzig Schritte entfernt, um sie am Strassenübergange zu erwarten, und hatte schon den Mund geöffnet, weil ich die Träger anrufen wollte, als ich sie von selber stille stehen sah. Der Lakai hatte ihnen Befehl dazu gegeben. Er stand auf der anderen Seite der Sänfte, und sich zu seiner Herrin wendend, hörte ich, wie er sie inständigst bat, nach den Quai des Orfévres umzukehren. Versicherte ihr, es sei noch nicht zu spät, sie könne noch über eine volle Stunde verfügen. Nach einigen Schwierigkeiten und Furchtbezeigungen gab sie ihre Einwilligung. Die Träger gingen den ihnen vom Diener angegebenen Weg.

Wiewohl meinen Geist nichts ankam, was nach Furcht oder Verdacht aussah, genügte einzig die Neugierde, um mich zu bestimmen, ihr nachzugehen. Welches Geschäft konnte sie um elf Uhr nachts nach dem Quai des Orfévres rufen? Sorgsam zog ich mich in eine Türe zurück, um die Sänfte vorbeizulassen, und ihr in einiger Entfernung folgend, kam ich zugleich mit den Trägern auf dem Quai an. Sie machten vor einer ihnen bezeichneten Türe halt. Sobald ich sie in ihr hatte verschwinden sehen, zauderte ich nicht, heranzukommen, und ohne die geringste Frage an die Träger zu richten, die mich anscheinend für einen Bewohner desselben Hauses hielten, ging ich durch einen dunklen Gang, der mich nach einem Treppenaufgang führte.

Mit einiger Besorgnis stieg ich ihn hinauf und liess mir das Geräusch derer, die vor mir hergingen, als Führer dienen. Sie liessen sich die Türe des zweiten Stocks öffnen und schlossen sie sofort hinter sich. Neugierig legte ich mein Ohr einige Augenblicke an sie. Das Misstrauen begann bereits sich meines Herzens zu bemächtigen und ich ward noch mehr durch die Stille um mich her beunruhigt, als ich es von dieser ganz anderen Entwicklung meines Schicksals geworden wäre. Ungeduld überkam mich; da ich jedoch noch andere Massnahmen beachten wollte, klopfte ich sehr leise an und sprach ebenso mit einer kleinen Dienerin, welche mir öffnete. Ich fragte sie, ob Fräulein *** hier für länger weile, und sie antwortete mir, dass sie es nicht wisse, dass ihre Herrin aber nicht daran denke, junge Mädchen noch so spät in ihrem Hause zu dulden. Dieser Ausspruch machte mich zittern. Als ich einige erklärende Worte, die ich die Kraft besass, mit derselben Liebenswürdigkeit zu sagen, vollendet hatte, um mich zu vergewissern, an welchem schrecklichen Ort ich sei, fehlte nicht viel daran, dass meine Wut sogleich in Schreien und all den Gewaltausbrüchen sich Luft gemacht hätte, zu welchem mich dieses schändliche Abenteuer aufreizen konnte. Indessen drückte noch ein Rest von Hoffnung meine Aufregung nieder, ich erbat mir als einzige Gunst von der Dienerin, mich geräuschlos in das Vorzimmer eintreten zu lassen, wo sie sich auf Befehl aufzuhalten hatte. Ein ihr zugestecktes Goldstück bestimmte sie sogleich, mir gefällig zu sein; und sich einbildend, ich sei willens, mir ein Vergnügen zu verschaffen, machte sie einige Einwürfe, die ich unbeantwortet liess. Ich bat sie einzig und allein mir zu sagen, wohin sich das Fräulein zurückgezogen habe; sie aber hatte es nicht sehr eilig, mir die Türe des Gemachs zu zeigen, welches seinen Eingang vom Vorzimmer aus hatte.

Soll ich Ihnen all meine Schande auseinandersetzen?

Ich näherte mich dieser Türe und die unvorsichtige Lebhaftigkeit, mit der man sich in dem Gemache unterhielt, überhob mich der Mühe, mich mit Horchen abgeben zu müssen. Ich war der Gegenstand dieser wichtigen Unterhaltung. Der elendste aller Männer lobte sich beifällig, mir Schande angetan zu haben, und beglückwünschte sich, etwas erhalten zu haben, was man ihm leider nur allzulange verweigert.

Kurz, ich vernahm aus den Gesprächen dieses ehrenwerten Liebespaares, dass sie, nachdem sie sich länger als achtzehn Monate in bestimmten Schranken gehalten, welche die Furcht vor ihnen aufgepflanzt, diesen Tag erwählt hatten, um sich für solch einen langen Zwang zu entschädigen, und dass man mir nur die Reste von dem aufhob, was man in Liebe verschwendet hatte.

Denken sie sich meine Wut. Ich würde die Schändlichen augenblicklich erdolcht haben ... Ich würde einen im Blute des andern ertränkt haben; aber eine feste und wohlverschlossene Tür schirmte sie vor meinem ersten Ingrimm. Ich nahm mir vor, wegzugehen und ihnen am Tore auf der Strasse Bestrafung zuteil werden zu lassen. Ort, Stunde, alles sicherte mir eine vollkommene Rache. Ich verliess die Dienerin unter dem Vorwande, es würde mir zu spät, um noch länger zu warten. Als ich die Sänftenträger wieder gefunden hatte, welche ungeduldig an der Türe warteten, bezahlte ich sie eiligst und drängte sie, fortzugehen. Die Nacht war nicht so dunkel, dass sie mir meine Opfer verbergen konnte. Wenige Schritte vom Hausausgang stellte ich mich auf und jeder Augenblick, den ich auf sie wartend zubringen musste, verdoppelte meine masslose Wut.

Ich hörte sie. Ihr Kommen verursachte mir eine grausame Freude. Wünschte, ich könnte sie mit einem Stosse zugleich durchbohren. Doch statt sie zusammen erscheinen zu sehen, erblickte ich nur meinen unwürdigen Nebenbuhler, der den Kopf nach dieser und jener Seite wendete, um die Sänftenträger zu erspähen. Ich hätte mich auf ihn stürzen und ihm durch tausend Verwundungen das Leben rauben können. Die Furcht, seine Genossin könne mir in der Zeit entschlüpfen, war der einzige Grund, der mich zurückhielt. Als er mich bemerkte, ergriff er plötzlich mit so grosser Schnelligkeit die Flucht, dass ich nicht hoffen konnte, ihn einzuholen. Beklagte mich darüber bitter beim Himmel, indem ich ihn der Ungerechtigkeit zieh; und keine Massnahme mehr innehaltend, stürzte ich mich gegen die Türe, um mich wenigstens des Hauptteiles meiner Rache zu versichern. Meine Schändliche, die mich zweifelsohne für ihren Liebsten hielt, trat mir auf der Schwelle entgegen. In einer unbeschreiblichen Erregung packte ich sie und unter der Drohung, sie zu erwürgen, wenn sie den geringsten Laut von sich gäbe, zerrte ich sie nach den Stufen der Brüstung, wo ich leichter auf sie hinauf zu besteigen vermeinte. Auf der Stelle hatte ich den Plan gefasst, sie zu ertränken. Ihr anfänglicher Schrecken und meine heftigen Gebärden sorgten dafür, dass sie mich im ersten Augenblicke nicht wieder erkannte; nachdem sie sich aber lange Zeit geirrt haben mochte, sank sie ohnmächtig in meine Arme. Ich liess mich dadurch nicht im entferntesten rühren, sondern fühlte, wie sich meine Wut bei der Schwierigkeit, sie in diesem Zustande vorwärts zu bringen, verdoppelte; die Anstalten, welche ich traf, um sie fortzutragen, liessen sie bald wieder zu Bewusstsein kommen. Sie stiess einige Schreie aus, welche in Anbetracht der Schwäche und Verwirrung, die sie bedrängte, nicht sehr laut gewesen sein können. Endlich erreichte ich die Brüstung und zwang sie, auf diese hinaufzusteigen.

Vielleicht vermutete sie mein Vorhaben noch nicht. Ich hatte nicht ein einziges Wort gesprochen. Als sie nun aber an der Bewegung, die ich machte, um sie an die Mauer zu drängen, merkte, dass ich mich ihrer entledigen wollte, wurde ihr Widerstand so hartnäckig, dass ich fast der Schwächere zu sein vermeinte. Sie packte mich am Arm, und solange an ihm zerrend, bis sie mich hinderte, ihn zu benutzen, sagte sie mit einer halb vor Angst erstickten Stimme alles, womit sie mich zu rühren glaubte. Ich antwortete ihr nicht, war hartnäckiger denn je darauf bedacht, mich von Schmach zu befreien, bediente mich meines anderen Armes, um sie über die Mauer zu biegen, und hoffte, sie leichter mit den Knien stossen zu können. In diesem Augenblick glaubte ich, jemanden sich der Brücke nähern zu hören. Sie vernahm es gleich mir, und die Hoffnung, gerettet zu werden, verdoppelte ihre Kräfte. Ich merkte, dass ich meine Rache tatsächlich nicht ausüben könnte, die Verzweiflung bemächtigte sich meines Herzens, und es für ganz sicher haltend, dass man begierig sein würde, mich zu sehen und mir meine Beute zu entreissen, auch dass ich alsbald die Beschämung erleiden möchte, erkannt zu werden, und dass man vom folgenden Tage ab mein Abenteuer obendrein in allen Stadtteilen von Paris erzählt hören würde, fasste ich den unheilvollen Entschluss, mich selber hinunterzustürzen. Einen Augenblick schwankte ich noch, ob ich mich nicht meines Degens bedienen sollte, um mit einem einzigen Hiebe der das Leben zu nehmen, welche etwa über meinen Tod triumphieren könnte; doch vermeinte ich, durch Verachtung noch besser gerächt zu sein. Ich stiess sie mit einigen Ausdrücken, welche mir dieses Gefühl eingab, von mir und stürzte mich, meiner selbst nicht mehr bewusst, in den Fluss.


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