Rudolf Presber
Von Ihr und Ihm
Rudolf Presber

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Bei 35 Grad im Schatten

Er und Sie sitzen sich in einem Vorortzuge gegenüber.

Die Gegend ist reizlos. Rübenfelder, Felder, Rüben. Auf einem Hügel, der kaum so zu nennen ist, eine Windmühle, die stillsteht. Bauernhäuser, an denen Riesenplakate Schokoladen, Kakes und Zigaretten anpreisen. Und wieder Rübenfelder, Felder, Rüben. Über allem brütet die Mittagshitze des Hundstages.

Er: Gestatten Sie, meine Gnädige, daß ich auch dieses Fenster öffne –?

Sie: Ich bitte – selbstverständlich.

Er: Pardon, »selbstverständlich« ist das nicht. Es ist die Windseite. Das Fenster auf der anderen Seite ist schon offen. So darf ich dieses Fenster – auf der Windseite – laut Reglement »nur mit Zustimmung sämtlicher Fahrtteilnehmer« öffnen.

Sie (lacht): Sie kennen das Reglement gut.

Er (die Melodie diskret andeutend): Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben . . .

Sie: Aber auch nach dem Reglement haben Sie unrecht, mein Herr.

Er: Daß ich nicht wüßte.

Sie: Es spricht ausdrücklich, wenn ich Sie recht verstand, von der Windseite. Die Seite aber haben wir schon seit bald zwei Wochen überhaupt nicht mehr.

Er: Allerdings richtig. Sehr traurig für Kompromißpolitiker und hohe Hofchargen.

Sie: Wieso – gerade für die?

Er: Sie können das Mäntelchen nun nicht nach dem Winde hängen.

Sie (lacht vergnügt): So mögen sie sich mit der Mühle da trösten. Die hat auch ihre einzige Tätigkeit eingestellt . . . Nein, die Hitze, scheußlich!

Er: Ich kann das nicht finden.

Sie: Bloß, weil Sie gern widersprechen?

Er: Nein. Obgleich, wenn zwei Menschen immer derselben Ansicht wären, nie ein Dialog zustande käme. Denn nicht das »Ja« als Antwort, sondern das »Nein« ermöglicht eine Konversation . . . Das heißt manchmal verhindert auch so ein Nein die Konversation.

Sie: Wie das?

Er: Nun sehen Sie, wir fahren jetzt seit acht Tagen mit demselben Zug. Und jeden Tag im selben Coupé!

Sie: Ja, das ist ein sehr merkwürdiger Zufall.

Er: Finden Sie? Ich glaube nicht an Zufälle. Es gibt für alles eine logische Erklärung.

Sie: Auch in diesem Fall –? Da wäre ich neugierig.

Er: Auch in diesem Fall. Sie, meine Gnädigste, kommen immer ein paar Minuten vor mir auf den Bahnhof. Sie lieben die Einsamkeit und steigen stets in das erste leere Coupé zweiter Klasse, das Sie beim Entlanggehen finden. Ich komme wenig später und habe das Prinzip, stets in das erste Coupé zweiter Klasse zu steigen, in dem – eine hübsche junge Dame sitzt.

Sie: Mir scheint, Sie machen mir den Hof?

Er: Niemals – bei 35 Grad im Schatten! Aber ich sage die Wahrheit.

Sie: Immer?

Er: Nein, nur wenn mir die Unwahrheit zu anstrengend ist. Die Lüge, sehen Sie, auch die konventionelle, verlangt Gedächtnis. Man muß sich merken, was man das vorigemal gelogen hat, um das nächstemal an der Stelle weiterlügen zu können. Das ist seelische Anstrengung. Sobald daher die Hitze so groß wird, vermeide ich den Alkohol und alle seelischen Anstrengungen. Auf ärztlichen Rat. Ich mache zum Beispiel auch keine Briefe auf, die Unangenehmes enthalten könnten.

Sie (lacht vergnügt): Schade, nun habe ich Ihnen gerade schreiben wollen.

Er: Den Brief würde ich natürlich öffnen. Er könnte ja nur Angenehmes enthalten.

Sie: Wissen Sie das so sicher?

Er: Ja. Denn ich beobachte Sie seit acht Tagen unausgesetzt – die Zeitung, in der ich lese, ist mir ein schicklicher Vorwand. Ich konstatiere, daß Sie noch nie Ihre Tasche links abgelegt haben, stets rechts. Daß Sie noch nie Ihren Schirm, Ihre Handtasche, Ihr Buch – Raabes »Alte Nester«, ich bin orientiert und salutiere den guten Geschmack – Ihre Abonnementskarte oder irgend etwas vergessen haben, das ich Ihnen hätte nachtragen können.

Sie: Und was beweist diese Ordnungsliebe, die ich nicht leugne, für den Brief, den ich Ihnen hätte schreiben können, und für seine Erfreulichkeit?

Er: Das beweist, daß eine so ordnungsliebende junge Dame – aus Gewohnheit – zwei Dinge bestimmt geschrieben hätte, die mir zu wissen wertvoll wären.

Sie: Nun bin ich aber neugierig.

Er: Unter den Brief – Ihren werten Namen. Über den Brief – Ihre noch wertere Adresse.

Sie: Sie sind kühn.

Er: Auch dieses Lob muß ich bei 35 Grad im Schatten leider ablehnen.

Sie: Und wenn es kein Zufall war, daß Sie immer im selben Coupé mitfuhren, warum haben Sie nie einen Versuch gemacht, mit mir zu sprechen?

Er: Weil ich sah, daß Sie das erwarteten. In dem Augenblick, wo ich das getan hätte, wäre ich für Sie erledigt gewesen. Ein Mann, der das tut, was die Frauen erwarten, interessiert sie nicht.

Sie: Immer besser. Und Sie glauben, daß Sie mich jetzt interessieren?

Er: Ein wenig.

Sie: Woraus schließen Sie das?

Er: Weil Sie sich unauffällig bemühen, während Sie mit mir sprechen, in meinem Hutfutter meinen Namen zu lesen.

Sie: Sie haben eine – fast hätte ich gesagt impertinente Art zu beobachten.

Er: Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie's nicht gesagt haben. Aber Sie haben recht, ich lebe davon.

Sie: Sie sind Maler?

Er: Mit dem Herzen, ja. Bloß die Hände versagen.

Sie: Die Hände? Wissen Sie nicht, daß Raffael ein großer Maler geworden wäre, auch wenn er ohne Hände geboren wäre.

Er: Ich wußte es und wartete sogar auf dieses Lessingzitat. Aber minder große Maler hängen doch vielleicht von ihren Händen ab.

Sie: Und was hätten Sie gemalt, wenn die Hände nicht versagten?

Er: Vor acht Tagen noch das Kind meiner Portiersleute, das – der Himmel weiß, woher – einen entzückenden Murillokopf hat. Mit Augen wie dunkle Edelsteine. Mit einem Mündchen wie eine Kirsche im Sonnenschein. Und seit acht Tagen – Sie.

Sie: Wenn ich Ihnen nämlich gesessen hätte.

Er: Aber, Pardon, Sie sitzen mir doch seit acht Tagen, täglich eine Stunde – nein einundfünfzig Minuten. Ganz still, in einem Coupé des Vorortzuges, das weniger Gelegenheit gibt, auszukneifen, wie jedes Atelier.

Sie: Sie haben, das muß man Ihnen lassen, eine scharmante Art, gewagte Dinge zu sagen.

Er: Das bedeutet nicht viel. Aber Sie haben eine viel scharmantere Art, sie anzuhören. Es gibt Frauen, die immerzu seelisch die Notbremse ziehen. Das macht den Verkehr so ungemütlich und zerstört den Dialog.

Sie: Sie haben sich jedenfalls lange vorbereitet auf diesen Dialog.

Er: Ich hatte eine geheime Angst. Kennen Sie Goethes Bonmot – eins der vielen – »Ehe sie mich ansprach, sprach sie mich an, als sie mich aber angesprochen hatte, sprach sie mich nicht mehr an.«

Sie: Ich hätte das auf Heine taxiert.

Er: Der große Goethe teilte das mit Kleineren: er hatte zuweilen Heinesche Momente.

Sie: Und was fürchteten Sie von meiner Dialogführung? Daß ich von der Hitze reden würde?

Er: Reden dürften Sie schon davon. Nur nicht darauf schelten. Das ist Sache des Chors der Schwitzenden und Schwatzenden. Der Verlegenen und Verlogenen.

Sie: Und warum soll ich nicht auf diese nie erlebte Temperatur und ihre quälende Hartnäckigkeit schelten dürfen?

Er: Einmal, weil es alle tun. Alle, die zu acht in einem Coupé fahren. Sie aber fahren allein. Dann aber, weil Sie zu viel Humor haben – leugnen Sie nicht, ich weiß das aus dem lieben Lächeln, mit dem Sie Raabe lesen, verstehen, genießen – zu viel Humor, um nicht zu empfinden, wie diese abnorme Temperatur auch einmal den Unwichtigen Wichtigkeit verleiht, die Maßgeblichen in Schach hält, lahmlegt, ausschaltet. In der Politik geschehen große Dinge – spricht »man« viel davon? Nein, »man« redet von der Windstille, der Wolkenlosigkeit, den Eisgetränken. Durch zwei Kontinente klirrt's leise von heimlich geschliffenen Waffen – lauscht »man« auf das unheimliche Geräusch? Nein, »man« zieht pustend den Kragen aus, lockert umsichtig Westenknöpfe und belehrt den schwitzenden Nachbar, was er schon weiß: Seit dem Jahre soundsoviel hatten wir solche Hundstage nicht. »Seit dem Jahre« . . . Das ist's! Die Statistiker haben Oberwasser, protzen mit Zahlen, die uns im Grunde gar nichts sagen; haben die Erlaubnis, uns mit Jahreszahlen, Höchsttemperaturen und solchen Dingen zu langweilen. Könige wackeln auf ihrem Thron – wir aber lesen, daß die einundachtzigjährige Frau Meyer, als sie über die Treuchtelfinger Straße ging, einen Hitzschlag erlitt. Ein gut Stück Erde soll wieder mal aufgeteilt werden – wir aber entsetzen uns, daß ein unvorsichtiges Bübchen, das unabgekühlt ins fließende Wasser sprang, nicht mehr an die Oberfläche kam. Es dampft wie Blut von fernen Wüsten her – wir sitzen zu Klumpen geballt in den Erfrischungshallen und trinken eisgekühlte Zitronenwässerchen . . . Es ist für mich sicher, daß Gracian – ich sehe an dem feinen Rot, das Ihnen vom Nacken her über die Wange fließt, daß Sie ihn nicht kennen und befürchten, ich frage Sie danach – er war Jesuit, Rektor in Tarragona, also ein Spanier, und einer der glänzendsten Prosaisten – ich wollte sagen, mir scheint's erwiesen, daß Gracian in solcher heißesten Zeit seine boshafte Allegorie schrieb und berichtete, daß sie im ganzen Lande, selbst in den volkreichsten Städten, keinen Menschen antrafen; sondern alles war bevölkert von Löwen, Tigern, Leoparden, Wölfen, Füchsen, Affen, Ochsen, Eseln, Schweinen – nirgends einen Menschen! Erst spät brachten sie in Erfahrung, daß die wenigen vorhandenen Menschen, um sich zu bergen und nicht anzusehen, wie es hergeht, sich zurückgezogen hatten in jene Einöden, welche eigentlich die Wohnung der wilden Tiere hätte sein sollen . . . Ich liebe mit Gracian die Menschen, die sich zurückziehen in die Einöde.

Sie: Nennen Sie ein Coupé zweiter Klasse eine Einöde?

Er: Es ist jedenfalls das Einsamste, was Sie in einem Vorortzug finden können. Also eine relative Einöde. Die »relativ« stillste Stille, die Sie finden können. Ich bin – ohne etwas anderes von Ihnen zu wissen, als was mir dies Coupé, Ihr Lächeln, Ihre Lektüre und die Rosen auf Ihrem Florentiner Hut erzählen – bin überzeugt, daß Sie in einem Berufe tätig sind, der Stille und Sammlung erfordert. Auch Ihr Lächeln macht mich darin nicht irr. Und wenn ich Ihnen sage, wer ich bin und was mein Metier ist, werden Sie sich nicht über solchen Scharfsinn wundern, der bei uns nur Handwerkszeug ist.

Sie: Sie feiern Ihren Sonntag wohl Donnerstags?

Er: Wieso – Donnerstags? Das war . . .

Sie: Das war vor sechs Tagen, als wir zum zweiten Male zusammen fuhren. Da hatten Sie – Ihr Werkzeug – Ihren Scharfsinn wohl zu Hause gelassen?

Er: Ich verstehe gar nichts –

Sie: Sie lasen in einer Zeitung – etwas unter dem Strich. Plötzlich lächelten Sie, sahen flüchtig nach mir hin – ich las damals einen ziemlich üblen Schmöker – und blickten dann zum Fenster hinaus. Vergnügt, befriedigt. Ich merkte mir die Zeitung und die Stelle, auf die Sie geblickt und die Ihnen solchen beherrschten Frohsinn vermittelt. Ich war überzeugt, da stand etwas – von Ihnen, über Sie. Am Potsdamer Platz hab' ich mir dann die Zeitung gekauft und fand . . . Na, Sie wissen's ja selbst. Seit ich die hübsche Kritik gelesen – übrigens nachträglich meinen Glückwunsch –, wußte ich, wer Sie sind. Am nächsten Tag las ich in der Einsamkeit dieses Coupés – Raabe, als Sie kamen. Ich wußte, das würde Sie freuen. Denn er muß einer von Ihren Heiligen sein.

Er (verwirrt): Sehr gütig . . . Aber . . .

Sie: Und daß Sie mich ansprechen würden – gelegentlich, wenn Sie genug »beobachtet« hätten, um mich zu verblüffen – denn eitel sind die Herren Schriftsteller alle – das wußt' ich auch.

Er: (immer verwirrter): In der Tat . . .

Sie: Und ich hatte mir vorgenommen, Sie dann um etwas zu bitten.

Er (aus allen Illusionen stürzend): Um eine Ansichtskarte – –

Sie (immer vergnügter): Nein. Für mein so »stilles und Sammlung erforderndes« Geschäft um eine kleine Gefälligkeit.

Er (kleinlaut): Vielleicht eine gereimte Reklame –?

Sie: Ach nein. Bloß – – ich bin nämlich Leiterin der Filiale einer amerikanischen Grammophongesellschaft. Ach, bitte, kommen Sie doch mal ins Geschäft – hier ist unsere Karte – und sprechen Sie mir etwas auf eine Walze.

Er: Auf eine – –?

Sie: Auf eine Walze, ja. Ihr Bild kommt dann mit in den Prospekt.

Er: Für die Walzen –? Um Gottes willen, nein. Ich habe überhaupt keine Bilder von mir . . .

Sie: Oh, das macht nichts. Ich habe Sie gestern schon beim Aussteigen rasch getypt mit meiner Liliputkamera.

 


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