Rudolf Presber
Von Ihr und Ihm
Rudolf Presber

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Der Mord in der Padoja-Schlucht

Ehe ich morgen vor den Geschworenen erscheine, um mich, des vorsätzlichen Mordes an der Dorothea Kathinka Kabeljau angeklagt, zu verteidigen, muß ich mir selbst, ganz kühl und ruhig, ohne zu beschönigen, ohne zu fälschen, das Bild jener furchtbaren Tage heraufbeschwören, damit ich es meinen Richtern in seiner ganzen grausigen Farbenpracht malen kann.

Niemand versteht, wie ich, gerade ich, dazu komme, eine Frau in den späten Jahren ihres Mädchentums in die Tiefe der Padoja-Schlucht zu stürzen. Und doch tat ich's; kann's und will's nicht leugnen. Zwar ist der Leichnam nicht gefunden. Dieses fasse ich aber nur als eine bewußte Dauerreklame der Dame auf.

Ich war immer galant. Als meiner kleinen Schwester das Nachttöpfchen zerbrach, habe ich – vierjährig – das meine geliehen und für sie die Prügel bezogen. Ich war der einzige, der wußte, daß Tante Laura falsche Zähne und keine echten Locken hatte; denn ich hatte einmal bei ihr übernachtet, als mein Großvater als einziger in der Familie den Keuchhusten bekam. Und ich habe mein Geheimnis bis heute bewahrt.

Bei unseren Kinderspielen heiratete ich immer das Lieschen vom Buchbinder Schulz, das eine Stuppsnase und krumme Beine hatte. Ich wurde auch mit dem Lieschen eingesegnet, weil niemand anders mit ihr in die Kirche gehen wollte. Später, als ich wirklich heiratete, da nahm ich – meines älteren Bruders Braut. Die hatte ich trösten müssen, weil sie der Schlingel sitzen ließ. Und ich ließ mich erst von ihr scheiden, als sie gern den Apotheker heiraten wollte, der das unfehlbare Mittel gegen den Hundefloh erfunden hatte und zu Geld gekommen war.

Damals fing ich an Bücher zu schreiben. Ich weiß nicht, ob sie gut waren; aber moralisch waren sie gewiß. Wenn zwei Leute sich darin küßten, so waren sie verheiratet oder verlobt. Und meine Ehen trennte nur der Tod im letzten Kapitel. Es gibt Bösewichter darin, aber keine weiblichen. Die Frauen, die darin vorkommen, sind alle wohlgesittet und in guten Jahren. Sind edel und hilfsbereit und gut gekleidet. Trotzdem ernährten sie mich nicht. Die Bücher nämlich.

Ich nahm also die leitende Stellung an einer belletristischen Zeitschrift an. Das stand auch in den Zeitungen; und diese eilige Bekanntgabe meiner Pläne wurde mein Unglück. Durch diese Notiz unter »Mosaik« wurde ich zum Schwerverbrecher.

Ehe ich mich der neuen Aufgabe widmete, unternahm ich eine Erholungsreise und mietete mich auf dem »Ulirothkopf« ein. Der Ulirothkopf ist ein Berg, der damals eigentlich erst erfunden wurde. Er hat einen »Höhenkurort«, der besteht aus einem Hotel, einem Teich, einer Allee und einem Aussichtstempel. In dem Hotel riecht's egal nach zerlassenem Fett, an dem Teich riecht's nach toten Fischen, in der Allee riecht's nach lebenden Kühen, und in dem Aussichtstempelchen riecht's nach Kindern. Man sieht von dem Ulirothkopf aus elf Seen. Auf dem Prospekt. Am Tage meiner Ankunft, dem 4. Juli, sah man zwar keine elf Seen, denn es war Regenwetter, aber sehr viel mehr Damen. Nicht mehr ganz junge Damen. Die saßen in der Halle in Schaukelstühlen um zwei Spiritusöfchen und waren in sehr malerische Tücher gewickelt. Einige trugen Kneifer auf der Nase und hatten Emporlesebücher in den Händen. Andere häkelten. Alle sprachen von den Obermüllers aus Bremen, die eben abgereist waren, weil Herr Obermüller Frostbeulen bekommen hatte. Nicht gut sprachen sie; denn die Tochter der Obermüllerschen hatte sich hier oben mit einem Referendar verlobt, der sich nicht einmal vorgestellt, bloß verlobt hatte. Und sie sprachen auch von den Meyers aus Frankfurt, die eben angekommen waren. Nicht gut sprachen sie; denn die Meyers hatten vier Hutschachteln für zwei Damen bei sich und wollten an einem Tischchen für sich allein essen, nicht an der großen Tafel. Dieses macht fünfzig Pfennige mehr pro Tag und Person und einen schlechten Eindruck.

Als ich meinen Namen in das Fremdenbuch eingetragen hatte – bescheiden klein unter die Riesenbuchstaben eines Ökonomierats aus Hannover – und von der Treppe zufällig zurücksah ins Vestibül, beugte sich eine spindeldürre Dame, die keinesfalls als solche auffiel, über das Buch. Sie schien sehr befriedigt von der Lektüre. Sie hatte weit herausgekämmte rotblonde Haare und – ich weiß nicht, warum – ein lila Band darin, das sich wie der kühne Schienenstrang einer Hochgebirgsbahn durch die Wellen der Frisur zog und sehr neckisch mit ganz kleinen Muscheln benäht war. Außerdem trug sie einen goldenen Kneifer mit Konkavgläsern, am vierten Finger einen Siegelring mit einer Krone im Stein und hieß Dorothea Kathinka Kabeljau.

Dies sagte sie mir am Abend bei Tisch, denn sie saß neben mir. Die andern wußten es offenbar schon. Auch daß ihre Mutter adlig gewesen – der Siegelring, dacht' ich –, war am Tische bekannt. Wie ich aus dem diskreten Lächeln des Ökonomierats aus Hannover und seiner Damen gegenüber entnahm. Die Mutter hieß »Luja« – wieso, weiß ich nicht, ich hätte auch diesen Namen eher für eine Bezeichnung für Seife oder Fruchtbonbons gehalten. Luja wurde in ihrer Jugend nur »das Baroneßchen« genannt, war hinreißend schön und berauschend talentvoll. Sie starb deshalb früh. Vom Vater, der bürgerlich war und nicht schön, war nicht die Rede. Doch existierte er bestimmt. Die Tochter sah ihm offenbar ähnlich; denn – ich sagte das schon – die Mutter war hinreißend schön.

Die Herrschaften gegenüber sprachen von den elf Seen, die man nicht sehen kann, und von dem Spaziergang in der Allee, in der es nach Kühen roch, und von dem Spaziergang nach dem Tempelchen, in dem immer gerade ein Baby ein natürliches Bedürfnis verrichtete, wenn sich ein Kurgast dort niederlassen wollte. Dieses aber wurde nur diskret angedeutet.

Dorothea Kathinka Kabeljau aber sprach nur von sich. Und von der Mutter, dem hinreißend schönen, berauschend talentvollen Baroneßchen, als dessen Fortsetzung sie sich gewissermaßen auffaßte. Die Beteiligung des Vaters blieb durchaus im Dunkel.

Sie ließ durchblicken, daß ich ihr diesen bevorzugten Platz am Tische zu verdanken hätte. Die »Geistigen« müßten »zusammenhalten«, sagte sie; und sie aß sehr viel Hammelkeule mit Bohnen dazu. Und sie freute sich, gehört oder gelesen zu haben, daß ich die Leitung einer illustrierten Monatsschrift übernehme, sagte sie; denn hier könne man wahrhaft Gutes und Großes wirken. Dazu aß sie eine Portion Kirschenkompott, die eine bescheidene vegetarisch lebende Familie in Zeiten der Not durchaus genügend ernährt hätte. Es sei schade, meinte sie, daß ich ihre Mutter nicht gekannt habe, die Luja hieß und das Baroneßchen genannt wurde. Es sei eine bedeutende Frau gewesen. Sie selbst habe sie leider auch nicht gekannt; aber sie freue sich, mich kennen zu lernen. Dazu aß sie zwei Mohntörtchen, wodurch die ökonomische Berechnung des Nachtischs nicht aufging und der Ökonomierat aus Hannover ohne Mohntörtchen blieb. Er bestellte grollend dafür Harzer Käse, was seine Beliebtheit am Tische nicht erhöhte.

Auf meiner anderen Seite saß ein hübsches, junges Mädchen, die immer rot wurde, wenn sie mir die Saucen reichte. Sie erinnerte mich mit ihrem glattgescheitelten Haar und ihren langbewimperten Augenlidern an ein Bild der heiligen Cäcilie im Museum zu Brüssel oder Antwerpen. Und ich mußte, während Dorothea Kathinka Kabeljau sprach, immerzu denken: ob diese heilige Cäcilie nicht die Katalognummer 243 habe. Denn ich habe zuweilen den Zahlen-Drall.

Für den Abend war Mondschein prophezeit. Der Hausknecht machte das. Er war aus dem Tessin und sehr wetterkundig. Sonst fehlte ihm jedes Talent und ein Vorderzahn. Ökonomierats hatten schon den einzigen Kahn auf dem Teich – er hieß »Möwe«, roch nach Teer, war immer halb voll Wasser und sehr hart in den Rudern – für eine »Venezianische Nacht« bestellt. Es regnete aber, so daß Ökonomierats statt der venezianischen Kahnfahrt in der Halle Tarock spielten und auf das Wetter, die Temperatur, den Teich, den Kahn und eine Familie in Hannover, die nicht mit ihnen verkehren wollte, schimpften.

Ich stand in dem Glasbau der Vorhalle und sah in den Regen und überlegte mir, warum ich bei solchem Wetter ausgerechnet 1095 Meter über dem Meeresspiegel mich befinden müsse. Zum ersten fiel mir ein, daß 1095 die Kirchenversammlung zu Clermont war, auf der Papst Urban II. den ersten Kreuzzug empfahl; und daran anschließend beschäftigte ich meine Gedanken damit, daß im Jahre meiner Zimmernummer – »48« im ersten Stock – Cäsar über den Rubico ging und Pompejus in Ägypten erstochen wurde. Da stand Dorothea Kathinka Kabeljau neben mir, lächelte und hatte immer noch das lila Bändchen mit den vielen Müschelchen im Haar.

Sie teilte mir mit, daß sie einen Zyklus »Mondgedichte« geschrieben oder eigentlich mehr unbewußt »empfangen« habe, an den sie hier die letzte Feile zu legen denke. Und sie pries mich, daß ich in meiner neuen Stellung die Lyrik pflegen werde; wovon ich noch gar nichts gesagt hatte. Ich hatte überhaupt nichts gesagt. Weder von Lyrik, noch vom Mond, noch von meiner Stellung, noch vom Übergang Cäsars über den Rubico. Aber Dorothea Kathinka Kabeljau gehörte – und ich sage das wirklich nicht nur, weil ich sie später umgebracht habe und weil man von Toten, insbesondere von solchen, die man selbst dazu gemacht hat, nur Gutes reden soll – gehörte zu den seltenen Menschen, die immer schon wissen, was die anderen sagen wollen oder werden oder gegebenen Falles gesagt hätten. So daß sie recht gut unter Trappisten hätte leben und sich entfalten können, ohne an Fähigkeit und Lust zu dem, was sie Konversation nannte, einzubüßen. Von jenem Abend weiß ich nur noch, daß der Mond nicht kam und Dorothea Kathinka Kabeljau nicht aufhörte von ihm zu reden. Immer mit Beziehung auf ihre Gedichte, von denen ein mir unbekannter Doktor Brettsäger gesagt hatte: das Himmelslicht selber fingere silbern hindurch.

In der Nacht träumte ich von dem Doktor Brettsäger, der mir mit silbernen Fingern in den Mund griff und versuchte, das Zäpfchen vom Gaumen zu reißen. Ich kam deshalb etwas müde zum Frühstück auf der nassen Terrasse; aber gerade noch recht, um Ökonomierats im erbosten Kampf gegen einige Wespen über dem Geleetöpfchen zu unterstützen. Wofür ich die Belehrung erhielt, daß wer hier länger als zwei Tage bleibe, unbesehen reif für ein Irrenhaus sei. Was mir nicht angenehm zu hören war, da ich – um die Vorteile der Pension zu genießen – für drei Wochen fest gemietet hatte. Es erwies sich, daß für mich an dem letzten Frühstückstischlein gedeckt war, an dem schon Dorothea Kathinka Kabeljau mit einem Notizbuch saß und mich anlächelte. Beim Frühstück habe sie ihre besten Gedanken, sagte sie. Das mochte wohl richtig sein; keinesfalls aber gehörte es zu diesen besten Gedanken, daß sie mir alsbald mehrere Gedichte rezitierte – von sich; für anderes versagte ihr monomanes Gedächtnis. Die Gedichte beschäftigten sich liebevoll mit Wespen und Schmetterlingen und waren für Menschen sehr unangenehm. Sie reimten sich zwar hinten, und es gehörten offenbar immer vier Zeilen zusammen; aber sie wirkten doch nicht so.

Ich schützte einen Spaziergang nach dem Tempelchen vor. Dorothea Kathinka Kabeljau hatte es bereits besungen. In zwei Sonetten, die ich hören mußte, während wir den Kuhweg der Allee entlang gingen. Der Weg, der Kuhschmutz und die Sonette endeten gleichzeitig. Das Tempelchen war voller Kinder, die es teils mit Sandspielen unwohnlich machten, teils Unsinniges an seine weißen Säulen kritzelten. Dies veranlaßte Dorothea Kathinka Kabeljau, mir die seltsamsten Beispiele der Frühreife aus ihrer Jugend zu erzählen. Ihren ersten Vers hatte sie mit kaum sechs Jahren in das Fremdenbuch eines Aussichtspunktes bei Niederbreisach eingetragen. Er lautete:

Die Sonne scheint – es blüht die Au –
Anna Kathinka Kabeljau.

Ohne die Dichtung überschätzen zu wollen, wies sie darauf hin, wie sich hier die früh entzündete Phantasie in der Frühlingsmalerei der ersten Zeile mit der energischen Realistik der Verwendung des Familiennamens in der zweiten mische. Hierin sei gewissermaßen die Entwicklungsrichtung ihres Talentes angedeutet, wie ihre letzte Arbeit, ein Gedicht in Prosa: »Der Regenmacher«, beweise, das sie bei Beobachtung des wetterkundigen Hausknechts aus dem Tessin konzipiert habe. Sie hatte es durch einen glücklichen Zufall bei sich. Weshalb sie allsogleich die Kinder samt ihren Fräulein aus dem Tempelchen vertrieb und es mir vorlas. In diese Vorlesung hinein läutete die Dinerglocke. Aber da ich, wie die Dichterin meinte, die einmal empfangene Stimmung durchaus festhalten müsse, las sie ohne Übereilung zu Ende. Ich kam, halb unsinnig vor Hunger, zur Tafel, als gerade der Pudding gereicht wurde. Das Nachservieren erhöhte den Pensionspreis um eine Mark, ohne daß dadurch die bereits kalten Speisen wärmer wurden.

Als ich nach Tisch in tiefer Erschöpfung auf meinem Zimmer gerade ein Nickerchen machte, erschreckte mich der eintretende Zimmerkellner sehr, der mir im Auftrag von Fräulein Kabeljau ein Essay brachte. Es war vor drei Jahren in einer Sonntagsbeilage zum »Budweiser Beobachter« erschienen, handelte von der poetischen Sendung der Dorothea Kathinka Kabeljau und hatte, wie es schien, einen Mann zum Verfasser, der der gepriesenen Dichterin verständnisvoll und gütig, aber der deutschen Sprache verständnislos und feindlich gegenüberstand. Beim Nachmittagskaffee bedauerte es die im Budweiser Beobachter Gefeierte schmerzlich, daß sie mir irrtümlich das falsche Blatt geschickt habe. Sie habe mir nämlich den weit tiefer schöpfenden Aufsatz aus der »Iserlohner Tagespost« unterbreiten wollen. Was sie nun nachholte. Und damit ich in der genußreichen Lektüre nicht gestört werde, nahm sie mir so lange den Kaffee weg und beobachtete scharf meine Züge. Und ich fühlte mich Sklave dieser entsetzlichen konkaven Brillengläser, die meine seelischen Regungen bei Genuß fremden Ruhms kontrollierten.

Als ich endlich, nachdem ich noch in den Plan eines Romans und zweier Operntexte eingeweiht worden war, ein plötzliches Unwohlsein vorschützend, fluchtartig mein Zimmer aufgesucht hatte, erschien alsbald das dicke Zimmermädchen mit einer Bestellung von Fräulein Kabeljau. Die brave Auguste brachte mir ein Fläschchen Baldriantropfen und das Bild der Dichterin in Kabinettform. In einer Steilschrift, die sich ansah wie eins der sinnigen Zündholzspiele, war auf dem leider ähnlichen Porträt die Widmung zu lesen: »Dem Mitstrebenden, Mitstreitenden, Mitleidenden, Mitempfindenden zu dankbarer Dauererinnerung an bedeutsame Wochen geistigen Austauschs. Dorothea Kathinka Kabeljau.«

Wochen!? Wochen – – geistigen Austauschs!!

»Wie lange bleibt die Dame?« fragte ich das Mädchen.

»Sie hat eben mit dem Wirt auf drei Wochen abgeschlossen . . .«

Drei Wochen! So lange wie ich! Drei Wochen – Austausch, geistigen Austausch! Die Sonne scheint – es blüht die Au . . . Ich warf die Baldriantropfen nach Auguste und wühlte meinen Kopf in ein Sofakissen, das leider mit Seegras gefüllt war.

Sieben Tage hab' ich's ausgehalten. Sieben furchtbare Tage. Die heilige Cäcilie an meiner anderen Seite wurde immer blasser. Sie wartete, daß ich sie anrede. Wie konnte ich das, da Dorothea Kathinka Kabeljau zu mir sprach: von ihren Inspirationen, ihrer Vorliebe für Orchideen und Terzinen, ihrem inneren Verhältnis zu Spinoza, ihrem Abscheu gegen Pferdedroschken und Pflaumenkuchen, ihrer Neigung für Verlaine, Giotto, Velvet, Amethyste und Rhabarbergemüse. Ein fröhlicher Ungar war angekommen, der sehr gut Billard spielte. Ich hätte zu gern mit ihm gespielt. Aber wie konnte ich das, da Dorothea Kathinka Kabeljau immer zwischen mir und jedem anderen, Mensch oder Möbel, gleichviel, zu stehen wußte und mir Geständnisse machte über ihre rein menschlichen Beziehungen zu Goethe, Beethoven, ihrer Tante, Napoleon, dem Redakteur der Iserlohner Tagespost, Kaspar Hauser, der romantischen Schule, der Madame Blavatzki und Alexander dem Großen. Wenn ich nach einer Zeitung griff, warnte sie mich, nahm mir liebevoll das Blatt fort und teilte mir mit, was sie einmal gegen die Pest der Tagesjournale geschrieben. Wenn ich einen Spaziergang machte, war sie an meiner Seite und rezitierte mir Oden an die Allmutter Natur. Und als ich einmal verzweifelt auf dem Zimmer frühstückte, schickte sie mir zwei mit Bleistift in der Nacht geschriebene Skizzen mit der dringenden Bitte, ihr beim Lunch meinen unmittelbaren Eindruck mitzuteilen.

Durch die Hintertür des Hotels entwischte ich in der Frühe des achten Tages am wetterkundigen Hausknecht, der die, ach, so kleinen Stiefel der heiligen Cäcilie mit Creme schmierte, und den Küchenmädchen, die mißduftende Abfälle nach den Ställen trugen, vorbei. Den Regenschirm hatte ich aufgespannt, obschon ausnahmsweise die Sonne schien, damit mich von oben aus den Fenstern niemand erkennen sollte. Ich mied die sonettverseuchte Allee und den schrecklichen Tempel und schlug, geduckt wie ein Schleichhändler, den einsamen Weg nach der Padoja-Schlucht ein. Zwischen den hohen, grauen, nassen Felswänden einmal allein sein! Ohne Sonette, Ansichten, Bekenntnisse, Erinnerungen! Herrlich –! Tiefatmend schritt ich die feuchten Steinstufen und sog zum erstenmal mit Bewußtsein die Luft der Berge ein. Tief unten gurgelte, sprang, tanzte das silberne Wasser des Wildbachs. Das knorrige Holzgeländer des Klammpfades hatte hier eine Lücke und ließ den Austritt zu einer schmalen Plattform frei. Auf der stand ich nun. Und dachte an nichts. Lüftete bloß mein Gehirn, ventilierte meine Seele, entspannte meine Nerven. Vegetierte in einem lustig von oben durch Farn und Efeu fallenden Sonnenstrahl.

Da – leise, deutlicher, drohend – ein menschlicher Sohlenschlag . . . ein sich nahender Schritt! Ich erkenne ihn und erblasse. Trete unwillkürlich, die Fäuste geballt, einen Schritt zurück, um nicht fassungslos in den Abgrund zu taumeln. Sie – sie! Die Dichterin, die Schreckliche, die Unvermeidliche – sie! Schon kann ich das muschelbesetzte violette Band im rostroten Haar unterscheiden. Schon winkt mir die Mitleidslose mit der Hand – nein, schlimmer, mit einem Papier.

»Welch glücklicher Zufall,« kräht sie, »nein, nennen wir's, die wir tiefer in die Dinge sehn, keinen Zufall. Welche lustvolle Schickung, welch sinnreiche Fügung! Heute nacht hab' ich diese Ode – nein, ich muß sie schon Hymne nennen – diese Hymne konzipiert: »Die Padoja-Schlucht« – – Und jetzt, da ich hierherkomme, nachzuprüfen, heimlich, wie ich denke, allein, wie ich annehmen muß, finde ich Sie, finde ich den einzigen, der mir nachfühlen kann, der mich verstehen wird, der . . . Aber hören Sie!!«

Sie war neben mich getreten, heraus auf die Plattform. Ich roch wieder das Myrrhenzahnwasser, sah die Konkavgläser spiegeln, die Müschelchen glitzern. Und sie will beginnen.

Da – hab' ich's getan. Da hab' ich mich gebückt und – ich weiß selbst nicht, wie – sie aufgehoben auf meinem Arm wie ein Stück Holz, wie ein Bündel Wäsche, wie einen Sack Kohlen, wie einen Haufen Knochen – und hab' sie hinuntergeworfen in die Schlucht. Und hab' ihr nachgerufen:

»Du . . . also du – du Vampir, du Scheusal, du Stimmungsmörder, du Ferienfresser, du Skandierautomat, du Dichtmaschine – ich bin zu meiner Erholung hier, verstehst du, zu meiner Er–ho–lung . . .!«

Und dann fiel mein Blick auf die Tafel, die über der moosigen Steinplatte angebracht war und auf der zu lesen stand: »Es wird gebeten, diesen Aussichtspunkt nur einzeln zu betreten.«

Und etwas wie Genugtuung strömte erlösend, versöhnend durch mein hüpfendes Herz.

Na, also! dacht' ich. Wahrhaftig nur: Na, also!

Und dann ging ich ruhig ins Hotel zurück wie nach vollbrachter guter Tat, wie von einem Löschwerk heimkehrend, einer Sitzung für gefallene Mädchen oder einer Rettung Schiffbrüchiger.

Und ich ließ mir den Wirt rufen und sagte ihm:

»Herr Grüttlichinger, Nummer 65 im zweiten Stock ist soeben frei geworden. Die Dame liegt in der Padoja-Schlucht und kommt weder als Dichterin noch als Pensionärin mehr in Betracht.«

*

Hier endet der Bericht des Mannes, der am 25. Juli 19.., ungefähr zehn Minuten von dem Hotel Ulirothkopf entfernt, die dreiundvierzigjährige Schriftstellerin Dorothea Kathinka Kabeljau aus Bimmelshausen in die Padoja-Schlucht warf, die im Baedeker einen Stern hat.

Sein Prozeß fand am 20. Oktober desselben Jahres vor dem Schwurgericht zu Büttelheim statt.

Die Geschworenen sprachen den Angeklagten nach kurzer Beratung einstimmig frei.

 


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