J. E. Poritzky
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J. E. Poritzky

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XII. Das Mysterium der Liebe.

Ein Menschenleben ohne Liebe, ist wie eine Harfe ohne Saiten.
Theophile Gautier

Zuweilen muss ich an die zahllosen Liebespaare denken, die täglich in den Tod gehen und ich verstehe dann nicht, dass diese Gefühlskatastrophen auf die menschliche Gesellschaft nicht den geringsten Eindruck machen. Soll man annehmen, dass die Häufigkeit des Vorkommnisses den Eindruck abgeschwächt hat? Durfte man nicht vielmehr erwarten, dass gerade die Häufigkeit der Selbstmorde den Eindruck vertiefen würde? Denn während die Gesellschaft bei allen anderen Selbstmorden, wenn sie sich so oft wiederholen würden, mit allem Nachdruck auf Abhilfe dringen oder mindestens doch versuchen würde, die Ursachen zu ergründen (Selbstmorde der Soldaten, Gefangenen, Schüler), geht man über die Selbstmorde aus Liebe gleichgültig hinweg, und das Bedürfnis, diese Tragödien zu verhindern, wird keineswegs in uns ausgelöst. Wahrscheinlich, weil man annimmt, es läge im Interesse der Gesellschaft, die anderen Selbstmorde zu verhüten, während der Selbstmord aus Liebe nur die beiden Liebenden anginge, und wahrscheinlich weil man glaubt, die Gründe, die zum Selbstmord aus Liebe führen, müssten in den Liebenden selbst gesucht werden, während bei Selbstmorden aus anderen Gründen die Gesellschaft selbst sich gewissermaassen verantwortlich fühlt. Aber diese Einwände sind nicht stichhaltig. Denn die Gesellschaft hat erstens ebenso schuld an dem Selbstmord der Liebenden wie an dem der Soldaten oder Schüler, die durch überspannte Ehr- oder Moralbegriffe in den Tod getrieben werden, da die Gesellschaft es ist, die Begriffe geprägt oder Gesetze aufgestellt hat, die viele Menschen nicht erfüllen können. Und zweitens, da der liebende Mensch ein leben bejahender Mensch ist, wäre es undenkbar, dass er das Leben verneinen könnte, wenn nicht bestimmte soziale Faktoren (Armut, Schande, Furcht) ihn zur Verneinung zwingen würden.

Und zuweilen muss ich an alle die Menschen denken, die in der Einsamkeit die Hände über das Schicksal ringen, das nicht kam oder das sich nicht erfüllte; denen das Leben nicht gab, was sie berechtigt waren, zu fordern; die kein anderes Herz finden, an dem die Unruhe ihres eigenen still würde; die niemals die Möglichkeiten verwirklicht sehen, die in ihnen liegen, weil ihnen allen das Geld fehlt. Aber jährlich werden Millionen für Dinge geopfert, die weder schön, noch gut, noch nützlich sind; die nichts anderes sind als Staub. Zum Beispiel das Studium der Keilschriften und Papyrusrollen, die nichts als zweifelhafte Geschichte oder Anrufungen von Götzenbildern enthalten; die assyrischen Terrakottatäfelchen, von denen einige nur Fabeln und einige nur Verträge zwischen Leuten enthalten, die schon vor zweitausend Jahren in Staub zerfallen sind. Welchen Sinn und positiven Wert hat es, mit einem solchen Aufwand von Geist und Zeit und Geld diese Moderhaufen zu erforschen? Der Staub der Assyrer und Aegypter – um nur dieses Staubes zu gedenken! – kostet uns Millionen; Millionen, durch die nie ein physisches und noch viel weniger ein Kulturideal erreicht werden wird. Jener alte Chinesenkaiser Liwangti, der befohlen hatte, alle Bücher zu verbrennen, hatte recht gehabt. Ebenso wünschte ich, dass das Meer allen urgeschichtlichen Staub hinwegspülte zugunsten der lebendigen Menschen, um ihrem Körper, ihrem Geist und ihrer Seele glücklichere Lebensmöglichkeiten zu geben. Würden die Summen, die das Wühlen in toten Symbolen kostet – eine Arbeit, der wir nicht einen einzigen fruchtbaren Gedanken verdanken – für den lebendigen Menschen verwendet, so dass viele ihr Ideal von Schönheit, Gesundheit und Glück erreichen könnten, so würde ich dies von jedem Gesichtspunkte aus für den grösseren Fortschritt halten.

Es gibt natürlich auch sehr viele Menschen, die für Pferde, Hunde und Katzen allen Willen, alles Gemüt, alles Vermögen hingeben, um Rassen zu züchten, die bei Wettläufen in der Sekunde eine Nasenlänge mehr zurücklegen können, oder deren Schwanz ein bisschen kürzer ist, oder die in Moll miauen, anstatt in Dur. Ist aber von Menschen die Rede, von seelischer Veredlung und von menschlichem Glück, so würden dieselben Rassezüchter und Tierfreunde sich hüten, auch nur einen Groschen zu opfern. Ferner gibt es tausende staatlich angestellte Beamte, die für das religiöse Empfinden des Volkes zu sorgen haben; und Religion ist ja nach der Meinung einiger Zurückgebliebener auch eine seelische Angelegenheit. Aber um ein weit grösseres seelisches Bedürfnis, um den Hunger nach Glück und Liebe, den tausende blühende Menschen nicht stillen können, weil Glück und Liebe ohne ökonomische Basis nicht bestehen können, kümmert sich kein Teufel, kein Staat, kein Pfarrer und kein Menschenschutzverein.

Man wende nicht ein, dass man Tierschutzvereine begründet habe, weil das Tier hilfslos sei und sich nicht objektivieren könne, während der Mensch, dank seiner Willenskraft wohl gegen das Schicksal anzukämpfen vermag. Es ist eine lächerliche Phrase, dass der Wille alles sei. Was nützt aller Wille in einer Welt, in der der Tüchtige sich demütigen lassen muss, der Schurke und der Schmeichler ihr gutes Fortkommen finden und der Mammon mehr gilt, als Mut und Stolz, Treue und Nächstenliebe und wie alle die Tugenden unserer Urahnen geheissen haben mögen. Gerade das ist die Tragödie »Brands«, dass er glaubt, der betätigte Wille versetze Berge. Er, der Gut und Blut geopfert, Herz und Seele, Weib und Kind, die Mutter und sich selber – am Ende schreit er, ein Verstossener und in Eiswüsten Sterbender, die Frage gen Himmel:

Sag' mir Gott, im Todesgraus
Reicht nicht zur Errettung aus
Manneswillens quantum satis?

und eine Stimme antwortet:

Er ist deus caritatis.

Brand hat gegen den tiefsten Gottessinn und gegen die Liebe gesündigt, da er Gott als Wille deutete. Denn Gott ist die Liebe. Und deshalb ist die Liebe des Menschen, in welcher Form sie sich auch äussern mag, nichts als die mehr oder minder verkappte Liebe zu Gott. Dies gibt, wenn man liebt, der Persönlichkeit diese beseligende Steigerung. Und da in der Liebe gerade der höchste Selbstgenuss der Persönlichkeit liegt, kann die Person, die sich im Besitz der Liebe weiss, ihre Liebe nicht aufgeben, ohne sich selbst aufzugeben. Sie klammert sich vielmehr krampfhaft an ihre Liebe, als an das, was ihrer Persönlichkeit den höchsten Wert verleiht.

Der Liebende möchte mit seiner ganzen Persönlichkeit in der geliebten Person aufgehen, die er als das Höhere und Wertvollere seiner selbst anerkannt. Vor der Liebe versinkt sein natürlicher Selbsterhaltungstrieb; das eigentliche Ich, dieser finstere Despot, stirbt, und das wahre Selbst feiert in dem besseren Ich des Geliebten seine Auferstehung.

So ersehnt die Liebe etwas, womit sie die sittlichen Aufgaben der Persönlichkeit überspringt und ein fernes Zukunftsziel idealiter vorwegnimmt. In den Augenblicken, in denen die Liebe zwei Wesen verzaubert und durch die Magie des Blicks zusammenschliesst, die Sehnsucht in den beiden Wesen weckt und ihnen im Kuss die Seligkeiten des Himmels offenbart, die Flammen ihres Blutes schürt und die Seelen zum höchsten Taumel hinreisst, in denen im selben Atemzug Eines das Leben des Andern trinkt und aus dem Blitzschlag ihrer Vereinigung mystisch und unerklärlich ein neues Leben entsteht, in denen die Liebenden die Gesetze der Vernichtung und Wiedergeburt erfüllen, – in solchen ekstatischen Augenblicken ahnen die Liebenden, dass diese Aufhebung der Persönlichkeit in der Vereinigung ihr letztes höchstes Ziel ist. Darum würden alle um ihre Liebe Betrogenen lieber alle Schmerzen erdulden, als immer allein zu bleiben! Oh, einsam zu sein! Ohne Hoffnung und ohne Zukunft! Keinen lieben Namen zu haben, um ihn auszusprechen! Kein Wesen, um es zu rufen. Kein Datum eines glücklichen Tages! Ein äusserliches Leben führen in kalter Umgebung; niemals die Sprache der Liebe hören und sie nie sprechen dürfen! Niemand seine Wärme mitteilen können, die einen durchströmt! Sich nicht opfern dürfen! »O armes Wesen, das niemals geliebt hat!« ruft die heilige Therese dem Satan zu. Lieber ein hartes Leben, lieber den Schmerz zu zweien, aber von Zärtlichkeiten begleitet, von der Hoffnung aller Möglichkeiten erfüllt. Denn ebenso wie der Durchschnittsmensch von der Geschlechtlichkeit und von der Ehe abhängt, ebenso hängt der höher geartete Mensch, der Vermögen und Kultur besitzt, von der Liebe ab.

Um der Liebe willen verlassen die Wassergeister ihre Fluten, die Elfen ihre Wälder, die Zwerge ihre Höhlen und die Götter ihre Himmel. Zeus findet auch den Olymp öde ohne Liebe. Sie kommen alle auf die Erde zu den Menschen, wenn sie die Liebe kennen lernen wollen. Liebe verwandelt Bären, Raben und Frösche in Menschen. Und kann der tiefere Sinn dieser Märchen, in denen Liebe allein das Zaubermittel ist, um eine Kröte in eine Prinzessin, ein Schwein in einen Königsohn zu verwandeln, ein anderer sein als der, dass Liebe erlöst und erhöht, den Menschen aus dem Tierzustand befreit und ihn in höhere Sphären versetzt? Glücklich der, dessen Augen Oberon mit dem Zaubersaft benetzt hat! Er wird seine Liebste mit allen Attributen der Schönheit bedenken, und er wird nicht begreifen, dass andere sehen wollen, sie sei schlecht gewachsen, fahl, zänkisch und temperamentlos. Der Verzauberte hält die Anderen für verzaubert. Und durch die Brillengläser der Liebe sieht sie in ihrem elefantenartigen Tölpel das Ideal aller Männer. Wenn Oberon den Zaubersaft auf unsere Augen träufelt, ist Helena natürlich die schönere, und der Weber Zettel mit dem Eselskopf ist »ein Engel«. Mit diesem Saft im Leibe sieht Faust in jedem Weibe Helena, und irgendein kleines Spiessbürgermädel ist dann »der eingeborene Engel«. Der geheimnisvolle, allmächtige Zauber des Weibes ergreift ihn; eine unbekannte, rätselvolle Kraft, deren Quelle man nicht kennt; die dämonische Herrschaft des Fleisches, die den vernünftigen, selbst den genialen Mann einem kleinen Weibchen unterjocht (Goethe und Christiane, Heine und Mathilde, Napoleon und Josephine), ohne dass irgend etwas in ihr diese verhängnisvolle Macht begreiflich erscheinen lässt. Die Wissenchaft hat vergeblich dies Geheimnis zu entschleiern versucht. Durch all die tausenden Bücher über die Psychopathia sexualis, in denen manche von der Norm abweichende Aeusserungsformen der Liebe aufgezeichnet sind und als Perversität der Sinne erklärt werden, erfährt man nichts anderes, als dass die Menschen das Mysterium der Liebe in tausend Formen erfüllen müssen. Es gehört jedoch viel naiver Mut dazu, sie als »krank« zu betrachten. Dann wären wir alle krank; denn jeder feiert die Feste des Blutes auf die ihm gemässe und oft auf die ihm eingeborene rätselvolle Art und Weise.

Liebe! Furchtbare Wollust des Geistes! Musik der Sinne! Wonnezeit des Blutes! Ungewollte Trunkenheit! Zauberstab, der selbst aus einem Herzen von Stein Wasser schlägt! Blumenkranz, der sich um die ältesten Stirnen legt! Beherrscherin der Herrschenden! Echo der unausgesprochenen Worte! Prüfstein der Seele! Du stellst den Charakter vor heldenmütige Proben; heiligst unsere Begierden; beseelst die Phantasie; schaffst die Künste; machst aus der Leidenschaft, die wir mit allen Lebewesen gemein haben, eine Religion und wandelst das Fieber, das uns erfasst hat, in segenbringende Kraft; du giebst der menschlichen Gesellschaft Dauer. In deiner Glut schmelzen alle Worte zusammen, denn Worte dienen nur der Notwendigkeit und der halben Verständigung, nicht aber der Verzückung. Darum finden Liebende alle Worte zu arm, ihr Empfinden auszudrücken. Wo Liebe ist, strahlt Glanz vom Himmel, die Seele steht in Sonne und die Schönheit webt ihre Wunder um das geliebte Haupt.

Alle anderen Gefühle gewinnen in der Rückschau an Stärke und Schönheit; in der Welt der Erinnerung ist alles Erlebte ein wenig teuer und ein wenig traurig; alles liegt in einer seltsamen Ruhe. Die Liebe allein heischt die Gegenwart. Sie ist die einzige Beziehung von Mensch zu Mensch, die den Zauber des Lebens ausmacht. Sie gibt uns das mystische Bewusstsein, als ob man im Zeitlosen lebte; es ist, als ob wir endlich nach Hause gekommen wären und als hätten wir schon lange Jahre mit dem geliebten Wesen gelebt. Man hat das Bedürfnis aus sich herauszugehen und darf es getrost. Die Herzen tun sich auf und lauschen andachtsvoll wie Kinder- oder wie Mutterherzen. Hier ist tiefste Uebereinstimmung und innigste Sympathie; hier ist alles Vertrauen; denn von dem Augenblick an, wo ein Geheimnis zwischen zwei Herzen besteht, wo der eine dem anderen einen Gedanken verbirgt, ist der Zauber gebrochen, das Glück zerstört. Alles verzeiht Liebe: Nachlässigkeit, Brutalität, Ungerechtigkeit, Untreue; die Verheimlichung aber und der Mangel an Vertrauen, bringen etwas Entfremdendes und Verlogenes in das Verhältnis und nehmen beiden Teilen die schöne Sicherheit, die Natürlichkeit und das Gefühl des Heims. Der Mensch entartet, wenn er einen Gedanken in seinem Herzen trägt, den er fortwährend verbergen muss.

Die Liebe nimmt uns wie wir sind, und fragt nicht viel, ob ein Verbrecher in uns steckt oder ein Heros, eine Dirne oder eine Heilige. Aber während das Herz sich im Besitz beruhigt, beginnt die Phantasie unermüdlich zu arbeiten; sie will die geliebte Person verwandeln, entwickeln, will uns über unser armes Selbst hinausheben. Sie heilt und korrigiert unsere Fehler, und wenn man der Phantasie die Gefolgschaft versagt, beginnt die Tragödie. Da, wo die Phantasie nicht in Tätigkeit tritt, ist nur Sinnlichkeit, aber keine Liebe. In der Liebe wird die Phantasie nicht weniger in Anspruch genommen als das Herz, und gewöhnlich ist es die Phantasie, die zuerst verwundet wird. Denn wer wirklich liebt, betet immer nur einen Traum an, der sich in einem bestimmten Menschen zu verkörpern scheint. Und der Traum entspricht nie der Wirklichkeit. Die Phantasie ist viel empfindlicher als das Herz. Das Herz ist blind und geht oft Irrwege, aber die Liebe ist wach und sieht scharf. Je nach dem Temperament ist die Liebe ein strenger Richter oder ein milder; darum gilt für jeden ein anderes Gesetz. Der eine tötet, wenn man seine Liebe verletzt hat, der andere vergibt, und doch sind beide der höchste Ausdruck der Leidenschaft. Die Wirkungen der Liebe im Armenviertel sind oft Verbrechen und Niedrigkeit. Denn Elend und Armut sind Feinde der Liebe. Solange die Plebs begehrt – und begehren heisst nicht lieben! – weiss sie was sie will; sobald sie liebt – und Liebe setzt nicht Ehe voraus! – sobald sie also durch eine feinere Empfindung über sich hinausgehoben wird, wird sie bestürzt.

Tritt man in den Bereich der Liebe, so ist es, als wüchse man. Ueberirdische Glückseligkeit erfasst uns, und dem Herzen ist es ganz gleichgültig, ob die Liebe sich auf Gott oder auf einen Menschen richtet. »Die Ohnmacht – sagt der Dichter und weimarische Generalsuperintendent und Oberkonsistorialrat Johann Gottfried Herder – die Ohnmacht, die die heilige Therese vor dem Altare fühlte, als der himmlische Amor ihr Herz berührte, konnte, wenn sie in diesem Augenblick nur körperlich betrachtet würde, schwerlich von einer anderen Art sein als die jede liebende Ohnmacht hat: Denn in den Säften des Körpers ist Liebe und Liebe an Wirkungen gleich, wer auch der Gegenstand sein möge. Bei allen Gefühlen dieser Gattung ist also auch dem unschuldigsten Herzen die grösste Behutsamkeit nötig; selbst im Strome der göttlichsten Liebe bleibt's immer nur noch ein menschliches Herz. Alle Mittlerinnen, und wenn es die Mutter Gottes selber wäre, sind gefährlich: so wie es dem weiblichen Herzen alle irdische, und (zu sinnlich empfunden) selbst der himmlische Mittler sein kann.«

Und dennoch, so köstlich die Stunden der Liebe sind, weil das Gefühl der Einsamkeit und Verlassenheit geschwunden ist, so sehr der Geist schwärmt und die Illusion uns gefesselt hält – dennoch ist die Liebe kein ununterbrochenes Glück. »Sie ist keine Heringsware, die sich einpökeln lässt auf viele Jahre.« Wenn man auch ein Heim bekommt und zusammen leben darf, das Gefühl bleibt nicht immer dasselbe. Auch unser Blut herbstet und in unserem Herzen herrscht zuweilen Unlust. Immer stellt sich ein Niedergang ein, und dann kommen die Zwistigkeiten und Missverständnisse, und da einem das Leben dann immer mehr oder weniger verfehlt erscheint, so schiebt man sich gegenseitig die Schuld zu, und das, was am höchsten gestanden hat, wird in den Schmutz gezogen. Man flucht einander, aber man träumt voneinander. Den Stürmen seines Blutes kann man nicht mit Vemunftgründen beikommen. Dann fühlt man nach jedem Kuss, nach jeder Umarmung, dass zwischen zwei Seelen ein Abgrund klafft, wenn die Körper sich auch umschlungen halten. Man besitzt sich mit müdem Hasse, und es ist, als könnte man nie wieder zueinander kommen.

Dies ist eine der sonderbarsten Eigenschaften des Menschen, dass er sich von der geliebten Person loszureissen vermag, an die er sich mit Ungestüm gehängt hat; dass er sie bald ebenso grausam vernachlässigt, wie er sie einst abgöttisch geliebt hat; dass er ihren Namen gleichgültig aussprechen hören wird, während er sie früher wie eine Gottheit verehrt hat; dass er sich ihr völlig entfremdet, die früher sein zweites Ich war; nichts für die empfindet, die früher seine einzige Empfindung war; kein Herz mehr für die hat, für die allein sein Herz schlug. Diese unerklärliche Wandelbarkeit zwischen zwei Menschen, die so eng verbunden waren, dass sie getrennt voneinander ebenso wenig gedacht werden konnten, wie Ton und Schall, Wort und Sinn, Licht und Schatten, ist eine der unauflöslichen Aufgaben unserer Organisation, deren Triebe schwankend sind und wechselvoll. So betrachtet, scheint die Liebe eine höchst ungerechte Leidenschaft. Einen Augenblick lang erweicht sie ein versteinertes Herzt und oft versteinert sie ein sanftes Herz fürs ganze Leben. Sie beschränkt die Empfindung der Seele auf eine Person und macht sie unempfänglich für alle übrigen. Man lässt eine ganze Stadt in Flammen aufgehen, um der Geliebten ein Ei zu kochen. Liebe tötet alle anderen Zuneigungen und erdrückt alle anderen Gefühle. Und sie erzeugt eine Leidenschaft, hoch sinnloser, noch rasender, noch tyrannischer: die Eifersucht. Diese Furie entflammt, um sich den eigenen Busen zu zerreissen;sie macht unfähig, das Glück zu geniessen oder die Ruhe zu ertragen; sie ist nach Verdacht und Argwohn lüstern; beschwört Trugbilder und Vorwände zur eigenen Qual; nährt sich von Besorgnissen und Aengsten; verzehrt sich in Nachforschungen um das zu ergründen, was nicht zu wissen für sie vom grössten Interesse wäre. Sie ist die wahre Tochter der Hölle, das sicherste und schleichendste Gift, eine satanische Ausgeburt des Egoismus, die das Blut der Mutter verheert, bis es gegen die eigene Tochter wütet; die dem Freunde die schändlichsten Gedanken eingibt, bis er den Freund verrät; die dem Sohne den grässlichen Mut verleiht, den Vater zu töten; die selbst dem erbärmlichsten Schwächling Willen und Kraft gibt, Betrübnis zu säen, Niedertracht und Tod.

Und diese Liebe, so gewaltig, dass ihr das Universum zu klein ist, um es zu zerstampfen, wenn man gegen sie gesündigt hat, – diese Liebe wird eines Tages mit einer Schmerzlosigkeit und Selbstverständlichkeit verlöschen wie eine zu Ende gebrannte Kerze. Und doch: das ist keine Liebe, die nicht an ihre Ewigkeit glaubte. Die Gewissheit, dass der Reiz, die Sinne, die Lust, die Leidenschaft sterben müssen, lebt in keiner Brust eines Liebenden. Darin hat Schopenhauer recht: die Natur will nichts als die Erhaltung der Art, nichts als die Erfüllung des göttlichen Gebotes, und sie begnügt sich, Männchen und Weibchen zu schaffen. Während aber die Natur nichts will als die Dauer der Gattung, will die Liebe nichts als die Dauer des Verlangens, das auf ein bestimmtes Individuum gerichtet ist; sie will nichts als »sich hingeben ganz und eine Wonne fühlen, die ewig sein muss! Ewig!« Eine Liebe, die sich nicht für ewig hält, ist eine Verhöhnung ihrer selbst. Die Liebe, die uns nicht treibt, gegen allen Verstand und alle Besinnung zu handeln, ist nicht viel wert.

Selbst La Rochefoucauld schien es schwer, die Liebe zu erklären: in den Seelen eine Sucht zu herrschen, in den Geistern eine Gleichgestimmtheit und in den Leibern nichts als ein zarter heimlicher Wunsch nach vielen Mysterien das zu besitzen, was man liebt ... mehr konnte selbst dieser grosse Psychologe von ihr nicht sagen.

Wer liebt, besitzt keinen freien Willen mehr und sollte auch nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Die Naturwissenschaft, sonst allem Unsichtbaren abhold, stimmt darin mit der Metaphysik überein, dass die Liebenden keine Wahl haben, dass sie beide willenlos von denselben Einflüssen regiert werden und dass nicht die Lebenden, sondern die Toten schicksalsbestimmend sind, eine über das eigene Selbst hinausgehende, unerkannte, mystische Macht, das, was der Buddhist »Die Macht des Karma« nennt. Der französische Gesetzgeber weiss am besten, dass die Leidenschaft eine ganz besondere Moral schafft und Rechte verleiht, die ein ruhiges Gefühl nicht besitzt. Die praktische Moral ist streng darauf bedacht, dieses gefährliche Fieber niederzuhalten. Das verhindert freilich die blitzartige Offenbarung, bereitet aber auf diese Weise furchtbare Ausbrüche vor. Wenn die Leidenschaft den Menschen fortreisst, warnt die Vernunft allerdings vor der Gefahr; folgt man aber der Vernunft, so fragt die Leidenschaft: »Und soll ich sterben?« Liebe ist ein Vergessen aller anderen Pflichten und Interessen, um die höchsten Pflichten und Interessen zu wahren; ist Selbstsucht und Hinopferung zugleich. Es ist erhebend, dem Schauspiel der Leidenschaften zuzusehen; zu sehen, wie die Leidenschaft gegen Wirklichkeit und Schicksal kämpft; wie die Glut ihres Verlangens sie über ihre eigenen Kräfte täuscht und sie mitten in ihrem Schmerze über sich selbst hinaushebt. Die Hartnäckigkeit echter Leidenschaft ist furchtbar; sie widersetzt sich eher den Scharen des Himmels, Gottes grossem Aufzug der Tatsachen, als dass sie ihr Ziel aufgäbe. Sie muss zermalmt werden, ehe sie unterliegt. Sie kann nur durch den Tod besiegt werden und selbst das leugnet der Buddhist.

Die Gräber all derer, die um der Liebe willen starben, schreien uns laut zu, den ausserordentlichen Wert des menschlichen Lebens zu erkennen und jede Stunde für den Sonnenschein zu retten; die Sympathie der Seelen zu erweitern; denen, die wir lieben, wirklich Freude zu bereiten und die Freude derer zu fördern, die geboren werden sollen; unseren Geist zu tieferem Nachdenken zu zwingen, um denen andere Arbeits- und Lebensmöglichkeiten zu schaffen, die sich lieben, und um die Not der Liebesarmen zu mildern, damit auch sie, wenn ihre Zeit gekommen ist, wo sie wieder den Kreislauf des Staubes antreten sollen, das Schönste genossen zu haben, was das Leben zu bieten vermag.


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