J. E. Poritzky
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J. E. Poritzky

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VI. Die Vergeistigung des Materialismus.

Alle erschaffenen Dinge sind nur die Gedanken Gottes.
Poe

Anerzogene Theorien und Gedanken verhindern den Menschen aber oft, sich nach seiner inneren Notwendigkeit zu entwickeln und aus dem eigenen Stoff der Seele zu schaffen. Ehe er seinen eigenen Sinnen traut und auf die Eingebungen seines eigenen Geistes hört, folgt er lieber der Weisheit der Bücher und lässt sich von der Kraft der reizvollen Gedankenspiele so bezwingen, dass er begeistert sein eigenes Denken auslöscht. Kann man die tausend philosophischen Systeme, die sich widersprechen und gegenseitig aufheben, anders betrachten, als eine Art Schachspiel mit Gedanken? Machen sich die spiritualistischen Philosophen nicht ein wenig lächerlich, die, nachdem sie ihren Leib durch eine sehr gute Mahlzeit gestärkt, sich bemühen, die Materie zu verneinen? Ebenso wie die materialistischen Philosophen mit allem Aufwand ihres Geistes versuchen, den Geist zu leugnen? Ist es nicht drollig, wenn die Verteidiger der Theodizeen mitten in den furchtbarsten Katastrophen feststellen, dass diese Welt unmöglich noch besser sein könnte oder, wenn die Pessimisten sagen – was genau so richtig ist –, dass sie die entsetzlichste aller denkbaren Welten sei?

Wohin führen diese unfruchtbaren Auseinandersetzungen? Der Mensch selber bietet für jede der beiden Anschauungen unwiderlegliche Beweise; in ihm selbst vereinigen sich geistige und materielle Dinge. Nur ein Querkopf kann sich weigern, einzusehen, dass der menschliche Körper ein Stück Materie ist. Aber trotz aller Abhängigkeit der Seele vom Magen, haben die besten Magen nicht immer die besten Denker hervorgebracht. Die Anatomen finden freilich nur geringe Unterschiede zwischen dem Aufbau des menschlichen Körpers und dem der anderen Geschöpfe des Tierreiches. Aber nur ein Narr kann behaupten, dass die Vorstellung, die das Vergleichen mehrerer Gegenstände im Menschen erweckt, etwas Materielles sei. Denn die Tatsache meines eigenen Daseins überzeugt mich zugleich auch, dass viel mehr vorhanden sein muss, als nur Materie.

Ueberall gibt es Erscheinungsformen, die von unseren Sinnen erfasst werden; aber unter diesen sinnlich wahrnehmbaren Formen lebt eine Seele. Wenn man an die Kraft der Elektrizität glaubt, die dem Magneten innewohnt, kann man die Macht doch nicht leugnen, die die Seele aussendet. Ihr glaubt an die Physik, obwohl sie, wie die katholische Religion, mit einem Glaubensbekenntnis beginnt. Sie erkennt nämlich eine äussere Kraft an, die sich vom Körper unterscheidet, und dem sie die Bewegung mitteilt. Ihr seht nur die Wirkungen dieser Kraft; aber was ist sie selbst?

Die Fragen entstehen: Existierte meine Seele, ehe mein Körper geformt wurde? Oder schuf die Materie erst den Gedanken? Oder traten Körper und Seele zugleich ins Leben, wie die Flamme durch Verbrennung? Was wird nach dem Tode aus ihr? Wird sie einfach verlöschen wie eine Flamme oder auf die eine oder andere Weise ewig weiterleben? In unserem Ideenkreise gibt es keine überzeugende Antwort darauf. Ich kann früher existiert haben; ich kann früher nicht existiert haben. Meine Seele kann nach dem Ablauf des physischen Lebens weiter existieren oder sie kann es nicht. Nur soviel ist sicher: das natürliche Weltall der Dinge und Wesen endet im Menschen, und mit ihm beginnt auch schon die Wahrnehmung des Unendlichen, die eine rein geistige Welt erfassen lässt. Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das Beweise bietet für den Zusammenhang der geistigen und materiellen Welt. Die sichtbare und begrenzte Welt endet in ihm, und zugleich ist er der Anfang einer unsichtbaren geistigen Welt. Die Materie hört auf, wo die Intelligenz beginnt, und die Intelligenz sollte in das Nichts übergehen? Materie und Geist, beide sind mit einer Brücke verbunden, die über einen Abgrund führt, unter dem das Nichts gähnt. Und sowohl die geistige, wie die materielle Welt sind ewig.

Dass der Tod keine Macht über die Materie besitzt, haben schon jene tiefstehenden Völker gefühlt, die den toten Körper als das zukünftige Gefäss eines neuen Geistes betrachtet haben. Deshalb wurde dem Toten die grösste Sorgfalt zugewendet und er wurde nur aus Pietät als unrein erklärt; man wollte vermeiden, dass die Gebeine zu profanen Zwecken missbraucht werden.

Alles was Staub ist, hat einst gefühlt. Gibt es überhaupt etwas Sichtbares und Greifbares, das ohne Bewusstsein wäre? Ein Atom, das nie von Freude oder von Schmerz durchbebt war? Luft, die nie Schrei oder Sprache war? Tropfen, die nie Tränen gewesen? Der Staub war alles was wir wissen, und vieles, was wir nicht wissen können. Zahllose Male war er Sonne und Mond, Planet und Stern, Tier und Gottheit. Darum ist der Spruch: »Bedenke, o Mensch, du bist nur Staub« so seicht wie der Materialismus, der an der Schale der Dinge Halt macht. Denn was ist Staub? Bedenke, o Staub, du warst Sonne, und Sonne sollst du wieder werden! Du warst Licht, Leben, Liebe und in all dies sollst du durch die ewige, kosmische Magie wieder viele Male gewandelt werden. Von Gott sind wir und kehren zu ihm zurück, sagt Mohammed. Denn die Sonnen, die in Aeonen ihren Feuergeist verglühen, werden, wie aus allem Toten Lebendiges sich entwickelt, aus ihren Gräbern von neuem ins Dasein emporsteigen. Gestorbene Welten verzehren sich in irgendeinem Sonnenscheiterhaufen, aber aus ihrer eigenen Asche erstehen sie wieder. Diese Erde muss vergehen; ihre Meere werden Saharas sein. Aber diese Meere bestanden einst in der Sonne, und ihre toten Fluten, von dem Feuer neu belebt, werden an die Küsten einer anderen Welt donnern.

Was ist unmöglich? Weder die Träume der Alchimisten noch die Märchen der Dichter. Schlacke kann sich in Gold wandeln, der Edelstein in ein lebendiges Auge, die Blume in Brot.

Wenn der Staub der Materie zu Sonne und Stern werden kann, zu Meer und Mond, wie ist es dann mit dem Staub von Erinnerungen und Gedanken?

Denn wenn die Materie unsterblich ist, dann ist es ohne Zweifel auch der Geist und die Seele. Wenn ich in den Bekenntnissen des heiligen Augustin lese, teilt sich mir seine inbrünstige Gottesliebe wie eine Offenbarung mit, und wenn ich mich neben Dostojewski auf das Schafott stelle, leide ich alle Leiden eines zum Tode Verurteilten, auf dessen Herz bereits die Gewehrläufe gerichtet sind. Bin ich, wenn ich Platons Gastmahl lese, nicht zu demselben Symposion geladen, das er vor dreiundzwanzighundert Jahren seinen Schülern gegeben hat? Ich schlage seinen »Phädrus« auf oder seinen »Philebus« und er zieht mich in den Kreis seiner erhabenen Geselligkeit.

Weder Gedanken, noch Gefühle können sterben. Wenn wir in einsamen Nächten, die der inneren Einkehr gehören, hellsichtig werden, fühlen wir nicht nur, nein, dann wissen wir, dass unsere Ahnen in uns sind, die sich durch zahllose Atavismen zu erkennen geben; ebenso wie wir in unseren Kindern spuken werden, ihre Worte und ihre Handlungen bestimmen werden, wenn sie längst unseren Leib bestattet haben.

Die neuen Einsichten in die materielle Welt, die im siebzehnten Jahrhundert gereift, im achtzehnten eine so grosse Umwälzung in der Ideenwelt bewirkten, führten Schritt für Schritt auch eine praktische Verwertung herauf. Dies ist ein Punkt, in dem die auf Voltaires Schultern stehenden Enzyklopädisten über ihn hinausgingen, indem sie auf eine planmässige Ausbeutung der erkannten Naturgesetze und durchschauten Naturkräfte hinwiesen, ja, mit wachsender Entschiedenheit auf eine Ausnützung drangen. Daher bereits in Diderot jene technische Intuition (er hat ja als erster das Telephon vorgeahnt!), der sich hierin mit dem von der anderen Küste eines Weltmeeres herübergekommenen Vater des Utilitarismus begegnete, mit Benjamin Franklin.

Was jene Geister erträumten und erhofften, ist übertroffen. Aus dem werkzeugmachenden Tier, als das wir den Menschen schon in der Urgeschichte antreffen, hat er sich zum vernünftigen Tiere entwickelt, das mit dem Dampfe reist, mit dem Blitze schreibt, mit dem Sonnenstrahl malt. Die Zurückverwandlung des Sonnenlichtes, das in den schwarzen Diamanten aufgespeichert liegt, in Arbeit, vermillionenfacht die menschliche Kraft. Die sieben Weltwunder des Altertums, die Römerwerke, verschwinden neben alltäglichen Unternehmungen des heutigen Geschlechtes. Der Umfang des Planeten wird ihm zu enge. Kaum, dass dessen Höhen und Tiefen ihm noch ein Geheimnis bergen. Wohin körperlich zu gelangen den Menschen versagt bleibt, dahin dringt mittels des Zauberschlüssels der Mathematik sein Geist. In schwärzester Nacht, im wildesten Meere steuert sein Schiff den kürzesten Kurs; klug entweicht es aus dem verderblichen Ringe des Taifun. Was die Wünschelrute vorspiegelte, erfüllt die Geologie. Freigebig erobert sie Wasser, Salz, Kohle, Steinöl, Eisen, Kupfer, Silber, Gold. Noch mehrt sich die Zahl der Metalle, und noch hat die Chemie den Stein der Weisen nicht gefunden. Aber morgen vielleicht besitzt sie ihn. Einstweilen wetteifert sie mit der organischen Natur in der Erzeugung des Nützlichen und Angenehmen. Den schwarzen, stinkenden Abfällen der Leuchtgasbereitung, die jede Stadt in ein Baku verwandelt, entlehnt sie Farben, vor denen die Pracht tropischen Gefieders erbleicht. Sie bereitet Wohlgerüche ohne Sonne und Blumenbeet. Sie besitzt das Geheimnis, Süsses aus dem Ekelhaften zu machen, und unsere Ausscheidungen in Nahrung zurückzuverwandeln. Der Giftmischer sieht mit wütendem Verzagen seine Tücke entlarvt. Die Würgengel Pocken, Pest, Skorbut, Diphtheritis, Syphilis sind gefesselt. Das Chloral breitet die Fittiche des Schlafgottes über die gequälteste Seele, das Opium nimmt den Schmerz von uns, Aether und Chloroform machen den Fluch zunichte, den Gott gegen das Weib geschleudert.

»Was ist unmöglich? Was kann der Entwicklung der Menschheit unerreichbar sein?« fragte der grosse Physiologe Du Bois-Reymond. »Sollte sie, wie sie maulwurfsähnlich durch Gebirge, unter der See fort Wege bahnt, nicht noch den Vogelflug nachahmen? Sollte sie, wie die Rätsel der Mechanik, nicht noch die Rätsel des Geistes lösen? »Ach,« meinte er 1888, als er eben sein berühmtes »Ignorabimus!« ausgesprochen hatte, »ach, es ist dafür gesorgt, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Schwerlich wird die Menschheit je fliegen, und nie wird sie wissen, wie die Materie denkt.« Und wenn Du Bois-Reymond wiederkäme und uns nun fliegen sähe, wenn er sähe, dass der Traum jenes Bildners sich erfüllt hat, der schon vor viertausend Jahren einen fliegenden Menschen dargestellt hat, den man auf einem babylonischen Siegelzylinder des Berliner Königlichen Museums erblickt, – es würde ihn nur ein paar Tage lang verblüffen; dann würde er es ganz selbstverständlich finden und vielleicht sogar die Möglichkeit zugeben, dass man eines Tages wissen wird, wie die Materie denkt; ja, er würde vielleicht zugeben, dass die Quadratur des Zirkels oder das Perpetuum mobile entdeckt werden könnten.

Was ist unmöglich?

So ward des weit in die Zukunft schauenden Bacons Wort erfüllt: Wissen ist Macht. Wissen macht uns den Göttern gleich.

Die meisten Menschen sehen aber in der materiellen Ausnützung der äusseren Welt ihren einzigen Lebenszweck. Dank dieser Leute schlummert der Kaiser nicht mehr im Kyffhäuser; sie haben sich mit der Hacke bis zu seiner einsamen Höhle durchgehauen, um nach Kohlen zu graben. Sie haben die Götter vom Olymp vertrieben. Dank ihrer fürchtet kein Sänger mehr die Verführung der Frawe Venus. Thors Hammer dröhnt nicht mehr um die Bergesgipfel. Aus Wald und Meer haben sie Fee und Sirene verscheucht. Selbst die Geister haben uns verlassen, verjagt vom »Verein zur Erforschung der Psyche«, wo kein Geist geduldet wird. Nach der Meinung dieser Leute sind Gesundheit und Reichtum ein hinreichend hohes Lebensziel. Das sind die Leute mit gesundem Menschenverstand. Solange etwas nur als Gedanke existiert, schreien die Leute mit dem gesunden Menschenverstand es nieder; mag es sich handeln, um was es will. Aber wenn der Gedanke sich verwirklicht hat und als ein Gewinn von fünfzig oder hundert Prozent in Erscheinung tritt, dann schreien dieselben Leute begeistert: »Das ist Gottes Stimme«. Der Ruhm jeder Entdeckung oder Erfindung wird aber mit Recht dem Geiste zugeschrieben, der die Formel aufstellte, und nicht dem Börsianer oder Fabrikanten, der jetzt seinen Gewinn daraus zieht.

Der Verstandesmensch sieht nur die Tatsachen; der Denker erwägt, was er sieht, und der Dichter belebt und beseelt die Erwägungen des Denkers. Der eine dichtet mit dem Revolver in der Hand, der andere mit dem Spaten, ein dritter mit dem Mikroskop und ein vierter mit der Feder. Man muss nur das richtige Werkzeug wählen, das einem am meisten gemäss ist. Aber ohne Phantasie sind sie auf den Gebieten der Mechanik oder der Technik, des Handels oder der Industrie, der Kunst oder der Wissenschaft allesamt nur Stümper. Die Phantasie ist es, die alles Neue schafft, die die Welt geschaffen hat, und sie immer wieder umschafft. Sie ist die schöpferische Macht; sie ist das Feuer, das Prometheus vom Himmel holte, und mit ihr begabt wird der Mensch zum Gott. Ohne Phantasie würde die Erde kalt und tot sein, und der Mensch würde einem blinden Wurme gleichen, der über die dunkle Erde kriecht. Darum ist der Dichter der mächtigste Mensch. Er ist der Schöpfer des farbigen Alls; er hat die Gesetzgebung ersonnen, die Religionen, die Künste und das Wissen. Er erst hat die Welt erschlossen und den Himmel bevölkert. Er hat das erste Kanoe über das Meer gesandt; er hat die Dampfmaschine gebaut und die Aeroplane. Alles, was irgendwie zur Weiterentwicklung beigetragen hat, entsprang seinem Haupte. Und ist Gott selber nicht seine Schöpfung?

Bevor eine Brücke gebaut, ein Kabel gelegt, ein Telegraph errichtet ward, bevor die Maschinen webten, schmiedeten, droschen, schrieben, rechneten, fuhren, flogen, müssen Pläne vorhanden gewesen sein, und vor den Plänen der Geist, der den Gedanken gefasst hat. Folglich kann man sagen, dass der Geist den Tunnel bohrt, die Flüsse überbrückt und alle die Maschinen baut, die der Stolz der Welt sind, und die die Philister satt machen. Und da die Seele der Geist des Geistes ist, ist es die Seele, die baut und errichtet, die den Weltenraum überblickt und sich seine Gesetze dienstbar macht. Folglich kann man sagen, dass die Seele das feinste Werkzeug ist, das der Mensch besitzt.

Und wieder ist es die Phantasie, die die Seele unsterblich gemacht hat. Mit Hilfe der Phantasie hat der Mensch den Tod überwunden. Die Phantasie hat ihm die Sense aus der Hand geschlagen; sie spottet aller Kirchhöfe. Trotz Fäulnis und Verwesung hat sie den Menschen unsterblich gemacht. Sieghaft hat sie den Tod verleugnet, und da aus dem Toten alles Lebendige entspringt, hat sie also das Leben selber geleugnet, und hat ihm gerade dadurch Ewigkeit verliehen.

Aber es ist nur eine sehr kleine Menschengruppe, die diesen höheren Standpunkt einnimmt; ihr sind alle äusseren Dinge und Geschehnisse nur ein Gleichnis. Solche Menschen, Dichter, Künstler, Naturforscher, Denker leben nur der Schönheit des Symbols. Das sind die Menschen, die Geschmack besitzen.

Eine dritte Menschengruppe stellt sich einen noch höheren Lebenszweck: nicht die Schönheit des Symbols, sondern die Schönheit des durch das Symbol bezeichneten Dinges. Das sind die Weisen; sie besitzen geistige Wahrnehmungsfähigkeiten.

Manche Menschen durchmessen die ganze Stufenleiter.

Die Welt ist aber voll von Sprichwörtern und Anekdoten einer gemeinen Lebensklugheit, die durch und durch materiell ist; als ob wir keine anderen Fähigkeiten hätten als die des Gaumens, der Nase, des Tastsinnes, des Auges und Ohres; einer Lebensklugheit, die nur an das Einmaleins glaubt und bei allen Dingen immer wieder auf die Frage zurückkommt: »Wird sich Brot daraus backen lassen?« Solche Menschen leiden an geistiger und seelischer Elefantiasis. Sie glauben im Ernst daran, dass der Biceps mächtiger sei, als das Gehirn; dass rohes Fleisch Energie und Tapferkeit verleihe, dass eine Kiste Wein Beredsamkeit gäbe, dass in einem Paket Tee viel Gefühl stecke und in einem Sack Kaffee viele Ideen. Diese Leute gleichen ein wenig dem Esel, der nur sein Bündel Heu sieht – und weiter nichts.

Wenn sie nach tausend Jahren aus ihren Gräbern ins Leben zurückgerufen würden, was würde die Folge sein? Glaubt man wirklich, die Menschen würden dann überzeugt davon sein, dass es eine Auferstehung gibt? Glaubt man, die Materialisten würden sich nun für besiegt erklären? Mit nichten. Wie ich die menschliche Natur kenne, würde es zwei Wochen lang nur ein grosses Staunen und Gaffen geben, weiter nichts. Die Handwerker würden sich wieder an ihre Arbeit begeben, die Kaufleute an das Studium der Konjunktur und die Geldmänner an die Börsen. Ja, und ich fürchte, dass selbst die Toten, wenn sie wieder lebendig werden würden, kein »neues« Leben beginnen würden, sondern, dass der ehemalige Schuster wieder zu seinem Leisten zurückkehren, und dass der in jeder Beziehung mumifizierte Gelehrte fortfahren würde, Abhandlungen über die Behaarung der Blattläuse zu schreiben und sie unentwegt an die Akademie zu schicken, bis er wieder stürbe. Es gibt gewisse Menschheitstypen, und wenn man Plutarch oder Cicero oder Lucian liest, kann man zuweilen vollkommen vergessen, dass von Philistern, Pedanten, Dummköpfen, Verbrechern, Schustern und Gelehrten vergangener Jahrtausende die Rede ist – so wenig haben sich diese Menschheitstypen, trotz aller geistigen und technischen Entwicklungen, verändert. Auf dieser Tatsache beruht auch die Grösse Molières, den ich früher nicht ausstehen konnte, weil mir alle seine Menschen viel zu absolut, zu starr, und in keiner Beziehung differenziert erschienen. Das Leben hatte mich gelehrt, dass es keine Menschen gäbe, die nichts wären, als nur geizig, nur misanthropisch. Ich war der Meinung, ein Geiziger könne nebenher ein ordentlicher Staatsbürger sein, ein tüchtiger Gelehrter, ein geistvoller Plauderer usw. Aber von dieser Meinung bin ich ein wenig abgekommen und, um viel Menschenerfahrung reicher, finde ich, dass Molière tatsächlich einen Ewigkeitsblick hatte, als er keine individuellen Menschen, sondern Typen schuf.

Ein Mensch von Kultur setzt alle seine Kräfte daran, alle körperlichen, wirtschaftlichen und geistigen, um den Mitmenschen aus dem engen Kreise seines Ichs herauszuführen, um ihn aus dem ummauerten Kerkerhof seiner allzu irdischen Beziehungen zu befreien, ihn zu einem höheren Ziele zu geleiten, und um ihn an der Freude teilnehmen zu lassen, die die Vergeistigung des Materialismus mit sich bringt. Denn ein Mensch, der sich in Geschäfte oder Vergnügungen stürzt, um des Geschäfts und des Vergnügens selbst willen, kann ein gutes Triebrad sein, aber Kultur besitzt er nicht. Wer in sinnlichen Befriedigungen einen Selbstzweck erblickt, bringt sich um die ganze innere und ebenso wirkliche Welt. Die Natur verhöhnt solche Menschen, die immer gehetzt und eilig sind, und bei jedem tieferen oder persönlichen Wort ihre »Geschäfte« vorschützen. Wenn wir vom Reichstag, von der Börse, von den Tagesgeschäften in die Felder und in den Wald kommen, sagt die Natur zu uns: »Warum so wichtig und so eilig, du Knirps?« Euripides mahnt uns daran, dass Zeus die Geschäftigen hasst, und die Menschen, die zuviel tun.

Denn das ist auch eine der grossen Einbildungen, die uns verfolgt, dass eine lange Zeitdauer, zum Beispiel ein Jahrzehnt, wertvoller sei als ein Jahr. Es kommt nicht auf ein langes Leben, sondern auf ein tiefes und gehaltreiches Leben an; auf grosse Augenblicke kommt es an. Das Zeitmaass sollte geistig sein, und nicht mechanisch. Für die meisten ist das Leben ja ganz unnötig lang. Ein Lächeln hingegen, ein Blick, der Augenblick tiefster Sympathie zwischen zwei Menschen, tragen grössere Ewigkeiten in sich. Denn das Leben hat nur einen Sinn, wenn es in die Tiefe geht.

Der Geist setzt alles daran, den Despotismus der Sinne zu schwächen, der uns an die Natur fesselt, und die Natur selber vereinigt sich mit dem Geist, uns von ihr freizumachen. Ein Tier zum Beispiel sieht alles wunderbar scharf mit streng umrissenen Linien. Der Mensch sieht nicht nur Linie und Farbe, er sieht auch Anmut und Ausdruck. Hat er ausserdem Phantasie und Empfindung (der Künstler), so nimmt er den Dingen sehr viel von ihrer winkelrechten Genauigkeit. Lässt er sich noch mehr von seinen Visionen bestimmen (der Dichter), so verschwinden die Dinge für ihn; er schaut gewissermassen durch sie hindurch, sieht nur Symbole in ihnen; erblickt nur Ursachen und Wirkungen. Staub und Stein beginnen zu sprechen, sind mit Vernunft begabt und beseelt. Er wirft die Welt wie ein Spielzeug von einer Hand in die andere.

Um uns am Anblick der Menschen oder der Natur zu erfreuen, müssen wir sie durch Illusionen sehen. Wie wir sie sehen, hängt von den ästhetischen und ethischen Bedingungen in uns ab, obgleich das Wirkliche und Unwirkliche an sich in gleicher Weise illusorisch sein kann. Das Gemeine und das Erhabene, das scheinbar Vergängliche und das scheinbar Dauernde, alle sind sie bloss ephemerer Natur. Wohl dem, der von der Geburt bis zum Tode alles durch irgendeinen schönen Duft der Seele sieht.

Nichts ist lieblicher, als der Anblick einer Dorflandschaft, gleich nach Sonnenaufgang, wenn noch die leise steigenden, blauen Nebel des Frühlings oder Herbstes geisterhaft darüber schwimmen. Aber für den nüchternen Beobachter schwindet die Bezauberung mit dem Nebel. In dem scharfen, klaren Licht sieht er nur Erde, Getreide, Bäume und Häuser mit den Misthaufen davor. So ist es sicherlich mit allem, was das Leben verschönt. Eine tönende Glocke gibt uns doch mehr als akustische Schwingungen. Die Schule, in der wir zuerst die Freuden der Freundschaft und die Leiden des Denkens kennen gelernt haben, ist doch mehr als ein Haus aus Holz, Stein und Eisen. Unser Geburtshaus ist doch mehr als ein Grundstück, das in Gotha oder Bremen gut versichert ist. Und die Wohnstätten Goethes, Napoleons, Beethovens sind doch mehr, als baufällige Baracken; – kurz, der Gedanke löst das materielle Weltall auf. Selbst in der Physik wird die Materie durch das Geistige entthront und zur leeren Hülle herabgesetzt. Astronomen und Geometer verlassen sich mehr auf ihre untrüglichen Rechnungen, als auf unzuverlässige Beobachtungen. »Es stimmt nicht mit der Erfahrung überein, aber es ist doch richtig,« sagte Euler über sein Gesetz vom Kreisbogen.

Im Lichte des Denkens ist die Welt nur ein Phänomen. Die Geisteswissenschaften vollends haben die Materie ja nicht nur zu durchgeistigen versucht, sondern sie oft geradezu geleugnet. Plotin schämte sich seines Körpers. Aber solche Metaphysiker und Theosophen entfremden uns nur die Natur und rechnen nicht mit der Blutsverwandtschaft, die wir ihr zugestehen.


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