J. E. Poritzky
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J. E. Poritzky

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III. Der Kreis der Kultur.

Mit der sogenannten Kultur sieht es recht elend aus.
Multatuli

Weil der Begriff der Zivilisation die weitesten graduellen Unterschiede zulässt, weil etwa ein wilder Volksstamm, der keine Menschen mehr frisst und der bereits das Gewehr zu handhaben weiss, schon »zivilisiert« ist im Vergleich mit anthropophagischen Stämmen, die nur den Giftpfeil kennen, so muss man sich nicht besonders viel darauf zugute tun, wenn man nur Zivilisation besitzt. Selbst den höchsten Grad von Zivilisation haben, heisst noch nicht Kultur haben.

Dass wir mit Messer und Gabel essen, danken wir der Zivilisation; aber erst wenn wir manierlich essen, haben wir Kultur. Dass man Takt haben müsse, kann man wohl lehren; aber dass man dann auch taktvoll sei, steht noch dahin. Kultur ist also ein Empfindungszustand, etwas weder Erlernbares noch Lehrbares; es ist ein veredelter, gepflegter Instinkt, der einen mit derselben Kraft abhält etwas Hässliches oder Unschönes zu begehen, mit der das Tier abgehalten wird, seiner Art untreu zu werden. Kultur ist nicht die »segensreiche«, deren »Fahne« von einer bestimmten Menschengruppe bei festlichen Gelegenheiten immer »hochgehalten« wird. Sie – die Kultur – ist auch nicht daran erkennbar, dass sie in allen Büchern und offiziellen Reden hochgepriesen und zu Hause und inoffiziell missachtet und ignoriert wird. Sie ist auch nicht jene, die anwendbar ist auf seelische Zustände, auf staatliche und bürgerliche Einrichtungen, auf Kunst ebensowohl wie auf Kartoffeln, Bazillen und so weiter.

Kultur ist etwas, wovon eigentlich niemand kurz und bestimmt sagen kann, was es ist. Der bloss Zivilisierte hat seine Zivilisation, aber keine Kultur. Der Snob, der Kulturträger zu sein glaubt, hat nur seinen Snobismus. Der Gelehrte kann ein grosses Wissen haben und kann von Kultur sehr weit entfernt sein. Der Künstler kann ein Genie und dabei ein Flegel sein. Ich glaube auch nicht, dass Goethe die verheirateten Philister im Auge hatte, als er sagte, die Ehe sei der Gipfel aller Kultur.

Andere sind geneigt, unter Kultur eine Verfeinerung der Sitten und Gebräuche, Anschauungen und Gewohnheiten zu verstehen. Wieder andere definieren sie als das Alter einer Nation – darum spricht man immer nur von der Zivilisation der Amerikaner, aber von der Kultur der Griechen –; andere verstehen unter Kultur eine hohe Stufe der Selbsterziehung; andere: Selbstbeherrschung in jeder Situation, und noch andere – Oskar Wilde etwa – geben nur dem Volke Kultur, das die Lüge zur höchsten Entwicklung gebracht hat.

Aber es ist leicht nachzuweisen, dass alle diese Erklärungen unzulänglich sind.

Wenn beispielsweise die Lüge ein Gradmesser der Kultur wäre, stünden wir zweifellos auf einer sehr hohen Kulturstufe. Denn wir leben in einer Verlogenheit und in einer Ideenverwirrung, die kaum noch einer Steigerung fähig ist und die ungeheuerlich wäre, wenn überhaupt die Möglichkeit bestünde, ein Leben in Wahrheit und Ideenklarheit führen zu können.

Sich auszubreiten und zu vermehren, wird immer das erste Gebot der Rassen und Individuen bleiben; die Bibel hat sogar ein göttliches Gebot daraus gemacht und der Staat würde sich selber entkräften, wenn er nicht ebenfalls auf dessen Erfüllung beharrte; andrerseits untergräbt er aber durch systematische Verteuerung der Lebenshaltung den zeugungslustigen und zeugungsfähigen Individuen die Möglichkeit hierzu und nimmt ihnen durch einen unerträglichen Steuerdruck die Lust dazu. Man predigt humane Ideen und entwickelt gleichzeitig den Völkerhass und den Krieg. Man propagiert den Weltfrieden, preist den Altruismus, die Gleichheit und Freiheit und kann das alles nur erreichen, indem man fortgesetzt seine Nachbarn bedroht und tieferstehende Völkerschaften beraubt und ausbeutet. Man hat die Sklaverei verpönt, aber man schämt sich nicht, die Naturvölker zu unterwerfen, zu vertreiben, auszurotten oder im besten Falle sie für sich frönen zu lassen. Der Ertrag der eigenen Felder reicht nicht mehr hin, die europäischen Menschen und Haustiere zu ernähren; wir nehmen also schwächeren Völkern einfach ihre Erträgnisse an Kaffee, Tee, Kakao, Tabak, Zucker, Reis, Mais, Baumwolle, Getreide usw. fort. Europa beherrscht den Weltmarkt nicht mit Mitteln der Kultur, sondern mit zivilisatorischen; nämlich mit Kanonen, Dynamit, Maschinen und Panzerschiffen. Wir protestieren öfters im Namen der Völkerrechte und der Nächstenliebe und verstehen darunter die Liebe zu uns selbst. Parasitenhaft vermehren wir uns auf Kosten anderer Rassen.

Wenn die Statistik herausgefunden hat, dass wir am Schluss eines Jahrhunderts doppelt soviel Menschen wie am Anfang beherbergen und ernähren, dass wir Städte gebaut haben, Flotten und Eisenbahnen, so fragen wir nicht, ob es auf ehrliche Weise möglich war, sondern freuen uns, dass es so ist. Aber wir wissen, dass wir uns bei gleicher wachsender Bevölkerungsziffer gegenseitig ermordet hätten, wenn wir uns vom eigenen Boden und aus eigenen Mitteln hätten ernähren müssen; wissen, dass wir nur kraft des Goldes schwächerer Rassen und dank der Nahrungsmittel, die fremde Erdteile hervorgebracht, emporgewachsen sind, und dass wir immer Steine für Brot gegeben haben.

Zugleich treten wir als Beschützer der tieferstehenden Völker auf, ähnlich wie wir das Getier des Waldes schützen, damit es Zeit habe, sich von unseren Morden zu erholen, sich aufs neue fortzupflanzen, um von neuem gemordet werden zu können. Denn die völlige Ausrottung der schwächeren Völker und jagdbaren Tiere hätte ökonomische Verluste für uns im Gefolge. Wir nehmen den Naturvölkern ihre Güter und ihre Freiheit, ihre Arbeit und ihr Leben, ihre Sitten und ihre Götter und geben ihnen dafür Schnaps, Ketten und das Christentum, dem in Europa kein Mensch mehr nachlebt. Man predigt in einem Atem Selbstbeherrschung und Rücksichtslosigkeit, Selbstbegrenzung und Expansionsgier, Pflichtgefühl und Tyrannei, Vaterlandsliebe und Feindschaft, Mut und Unterdrückung, Männlichkeit und Unehrlichkeit.

Selbst jetzt noch glauben Millionen gedankenloser Menschen des Abendlandes an irgendeinen göttlichen Zusammenhang zwischen der Militärmacht und dem christlichen Glauben, und selbst von den Kanzeln wird göttliche Rechtfertigung für politische Raubzüge verkündet und Erfindungen von Explosivgeschossen werden auf göttliche Inspiration zurückgeführt. In vielen Ländern ist der Aberglaube nicht auszurotten, dass die Rassen, die sich zum Christentum bekennen, von der Vorsehung ausersehen worden seien, andersgläubige Rassen zu berauben und zu vernichten.

Und trotz des scheinbaren Reichtums und Fortschritts gibt es das eine nirgends, das allein für all die tausend Verbrechen, die man im Namen der Kultur begeht, eine Entschuldigung sein könnte: Lebensfreude. Trotz der glänzenden ökonomischen Systeme erweisen sich alle geraubten Werte als Truggold. Die Reichtümer werden scheinbar in einem Danaidenfass gesammelt, denn je mehr die »segensreiche Kultur« fortschreitet, desto hoffnungsloser und freudloser wird der Mensch, und desto unfruchtbarer wird das Symbol des Geldes.

Was mich betrifft, ich habe Kultur niemals dort gefunden, wo man so viel von ihr sprach. Ich neige überhaupt zu der Annahme, dass die breite Masse niemals Kultur haben wird, ohne behaupten zu wollen, dass dies ein grosses Uebel sei. Jedenfalls, das, was ich unter Kultur verstehe, habe ich in der Geschichte und in der Gegenwart immer nur selten und nur bei Einzelnen gefunden, dort, wo ich es weder erwartete, noch wo man wusste, dass man Kultur habe.

Die Geschichte lehrt, erstens: dass alle Kultur stets ihren Niedergang findet, sobald der kleine Kreis, auf den die Kultur naturgemäss immer beschränkt ist, nach einer gewissen Zeit in seiner Abgeschlossenheit gestört wird und endlich in grösseren Kreisen, die einer weit niederen Kulturstufe angehören, aufgehen muss. Die Gemeinschaft, mit deren Interessen der Einzelne verwächst, schliesst sich nach aussen mit allen egoistischen Mitteln ab und fördert ihren Sturz durch das gleiche Absonderungsprinzip derjenigen Kreise, denen sie die höhere Kultur verdankt.

Sodann: die Unterschiede, die sich innerhalb der fortschreitenden Gesellschaft entwickeln, werden allmählich immer grösser, die Berührungspunkte geringer und die wichtigste Quelle der verbindenden Sympathie versiegt. Innerhalb der Masse, die ursprünglich von gleicher Art war, bilden sich alsbald bevorzugte Klassen aus, die keinen rechten Zusammenhang unter sich finden. Die Anhäufung von Reichtümern führt zu neuen Genüssen und es entsteht ein Egoismus von hoher Raffiniertheit. Die Bevölkerung mehrt sich, folglich entsteht Mangel an Boden – wie zum Beispiel im alten Rom zur Zeit der Latifundien, wo die Parkanlagen der Reichen den Ackerbau des Volkes verdrängten und halbe Provinzen im Besitz einzelner Begüterter waren, – die Bodenrente steigt, der Arbeitslohn sinkt. Die Unterschiede zwischen Besitzer und Pächter, Pächter und Arbeiter werden immer grösser. Die Industrie blüht auf und bietet dem Arbeiter höheren Lohn. Bald herrscht auch hier Ueberfüllung und der Arbeitslohn sinkt wieder. Die entstehende Not hemmt die weitere Vermehrung der Bevölkerung und man sucht Rettung vor dem Elend in Arbeiten, die man um jeden Preis annimmt. Die Folge ist steigender Reichtum des Unternehmers, der dem Arbeiter gerade so viel gibt, dass er sein Dasein kümmerlich hinfristen kann. Das Elend des Proletariats erweckt wohl Teilnahme, aber wie soll der Reiche nun zurückfinden zu der alten Einfachheit? Denn inzwischen hat er sich an eine verfeinerte Lebenshaltung gewöhnt. Kunst und Wissenschaft haben sich entfaltet. Die Sklavenarbeit der Proletarier hat vielen Köpfen Musse und Mittel zu Forschungen, Erfindungen und künstlerischen Schöpfungen verschafft. Es gilt, diese höchsten Güter der Menschheit zu wahren und man tröstet sich, dass sie im unbestimmten »Einst« Gemeingut Aller sein werden. Inzwischen geniessen viele, deren Gemüt roh und unempfänglich ist, dank ihres Reichtums die Vorteile der Kunst und Wissenschaft; andere arten in moralischer Beziehung aus und bekunden für nichts Interesse, was ausserhalb ihres Genusskreises liegt. Starke Sympathien mit den Leidenden schwinden durch das gleichförmige Wohlleben der Begüterten. Diese halten sich bald für besondere Wesen, betrachten ihre Diener als Maschinen und die Elenden als eine dekorative Staffage, die Gott eigens zu dem Zwecke gemacht hat, um den Begüterten den Besitz des Reichtums erst recht wertvoll erscheinen zu lassen. Das sittliche Band, das alle Menschen verknüpft, ist zerrissen; die Scham, die früher von allzu grosser Ueppigkeit zurückhielt, stirbt; der Geist erstickt im Wohlleben; das Proletariat allein bleibt roh, aber empfänglich und geistesfrisch.

Bekannte moderne Zustände?

Nein. So war die antike Welt, als das Christentum ihrer Herrlichkeit ein Ende machte.

Was die Menschen der Gegenwart betrifft, so leiden sie nicht mehr an der Genusssucht, sondern an der Arbeitssucht. Der Zweck des Lebens, ja, der Sinn des Daseins ist vollständig in sein Gegenteil verkehrt. Die durch den wahnwitzigsten Erwerb zusammengerafften Mittel werden nicht für den Genuss des Lebens verwendet, sondern um den Erwerb selbst noch umfangreicher, noch hetzender zu gestalten. Die Menschen treiben längst keine Geschäfte mehr, sondern längst treiben die Geschäfte die Menschen. Die antiken Religionen bezweckten wenigstens eine glückliche Entwicklung der physischen Lust; wir aber haben angeblich die Seele und die Hoffnung entwickelt. Heute haben die Ueberfüllung des menschlichen Kopfes, die Menge und der Widerspruch der Lehren, die Uebertriebenheit des Gehirnlebens, die sesshaften Gewohnheiten, die künstliche Verfassung und fiebrige Ueberreiztheit der Grosstädte die Nervenmaschine überanstrengt, das Bedürfnis nach starken und neuen Erregungen übertrieben und dumpfe Traurigkeiten, unbestimmtes Trachten und Sehnen und unbegrenzte Gelüste entfaltet. Der Mensch ist nicht mehr, was er war und was er vielleicht immer hätte bleiben sollen: ein Tier hoher Art, zufrieden damit auf dieser Erde, die ihn ernährt und unter dieser Sonne, die ihn bescheint, zu handeln und zu denken. Er ist ein wunderbares Gehirn geworden, eine unendliche Seele, für den die Glieder nur Anhängsel und die Sinne nur Diener sind, unersättlich in seiner Wissbegierde und in seinem Ehrgeiz, immer auf der Suche und eroberungsdurstig, ergriffen von Schaudern und Ausbrüchen, die seinen tierischen Bau erschüttern und seine körperliche Stütze zerstören, mit allen Sinnen herumirrend bis an die Grenzen der wirklichen und bis in die Tiefen der eingebildeten Welt, bald berauscht und bald niedergedrückt von der Unermesslichkeit seiner Errungenschaften und seines Werkes, auf das Unmögliche versessen oder in den Beruf eingesperrt, in tiefe, schmerzliche und grossartige Träume hinausgeschleudert, oder eingezwängt durch den Druck seiner sozialen Kammer und ganz nach einer Seite verkrümmt durch Besonderheiten und Monomanien.

Die Lust am Spektakel und die Freude an lauten oder sinnlosen Vergnügungen ist nichts als eine Folge dieser übermässigen, aufreibenden und abstumpfenden Arbeit. Denn gleichwie ein abgespannter Körper durch immer grössere und unerhörte neue Reize aufgepeitscht werden muss, wenn er genussfähig sein soll, büsst am Ende auch der Geist durch das beständige Hetzen und Jagen im Dienste des Erwerbs die Fähigkeit ein für einen reinen, edlen und ruhig gestalteten Genuss. Die Erholung des Geistes bekommt unwillkürlich ein ebenso fieberhaftes Gepräge, wie das Gewerbe, und sie wird genau so wie die Erwerbsarbeit in den dazu bestimmten Tagen und Stunden pflichtmässig absolviert.

Das ist die eine Seite.

Andererseits ist nicht zu verkennen, dass eben durch dieses Gehetze ungeheure Leistungen vollbracht werden, die – vielleicht – für eine spätere Zeit die Früchte einer höheren Kultur reifen lassen werden. Würden die Besitzer eines mässigen Vermögens sich aus dem Erwerbsleben zurückziehen und bei ruhigem Lebensgenuss, in welchem Maass und Würde ist, fortan ihre Musse dem Allgemeinwohl, er Kunst und Literatur zuwenden, so würden sie ein schönes Dasein führen und eine edle Kultur besitzen, die sie solchermaassen dauernd erhalten könnten. Und dadurch allein würde unsere Periode einen Gehalt gewinnen, der den Kulturgehalt des klassischen Altertums bei weitem überwiegen würde.

Wenn die bereits ins Unermessliche gewachsene Kraft unserer Dynamos und die durch Arbeitsteilung bis in das Feinste vervollkommneten Leistungen des Menschen darauf verwendet würden, um Jedem das zu geben, was notwendig ist, um das Leben erträglich zu machen und dem Geist die Musse und die Mittel zu seiner höheren Entfaltung zu bieten, so wäre vielleicht schon jetzt die Möglichkeit vorhanden, ohne Beeinträchtigung des Fortschritts und der geistigen Aufgaben der Menschheit, die Segnungen der Kultur über alle Berufe und Klassen zu verbreiten.

Allein dadurch, dass alsdann dem Geschäftsleben wahrscheinlich grosse Kapitalien entzogen werden würden, ist dafür gesorgt, dass dies eine Utopie bleiben wird, der Traum von einem Reich, in das nur Wenige gelangen können.


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