J. E. Poritzky
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J. E. Poritzky

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VII. Die Analyse des Gewissens.

Ganz leise spricht ein Gott in unsrer Brust.
Goethe

Der verfehmte Lamettrie, der Freund des grossen Preussenkönigs, hat in seinen Büchern, die nur bei den orthodoxen Metaphysikern in Verruf stehen, sehr viel Frivoles über das Gewissen gesagt, an das ich, als ich im Jahre 1900 ein Buch über ihn geschrieben habe, nie glauben konnte. Was sollen uns die Gewissensbisse! rief er aus. Da sie nur die Ruhe des Menschen beeinträchtigen, ohne sein Handeln zu beeinflussen, sind sie ohne weiteres verwerflich. Der Böse hat nicht nur das Recht, sondern die Selbstpflicht, alle Gewissensbisse zu ersticken, da er doch nicht anders handeln kann, als er gezwungenerweise handelt. Vor dem Verbrechen hat man keine Gewissensbisse, und wenn die Marter der Gewissensbisse beginnt, ist das Verbrechen schon vollbracht. Du – so ruft Lamettrie mit dem Pathos Stirners oder Nietzsches aus – den man gewöhnlich unglücklich nennt, und der du es in der Tat der Gesellschaft gegenüber bist, vor dir selbst kannst du ganz ruhig sein. Ersticke nur die Gewissensbisse durch die Reflexion oder durch andere, mächtigere Gewohnheiten. Wenn du nicht in den Ideen erzogen wärest, welche heute die moralische Grundlage der Gesellschaft bilden, würdest du diese Feinde in dir nicht mehr zu bekämpfen haben.

Es ist klar, dass Lamettrie nur jene Gewissensbisse meinen kann, die durch das Uebertreten der staatlichen Gesetze oder kirchlichen Dogmen im Menschen wach werden.

Gorki bekennt sich zu einer ähnlichen Anschauung. Das Gewissen – sagt er irgendwo – ist nur für schwache Seelen eine unbesiegbare Macht. Die Starken bezwingen es bald und machen es ihren Wünschen dienstbar, denn sie fühlen unbewusst, dass es, räumen sie ihm Freiheit und Unbeschränktheit ein, ihnen das Leben verstümmeln würde.

Und in der Tat scheint dem, der die Massenanhäufung von täglich verübten Verbrechen und Betrügereien überblickt, als hätten solche Lehren Beherzigung gefunden. Es sieht aus, als sei das Gewissen in vielen Menschen erstorben; als sollte Vauvenargues recht bekommen, der einmal behauptete, das Gewissen sei käuflich, ebenso wie die Ehre, die Keuschheit, die Liebe und die Achtung der Menschen.

Sicher ist, dass das Gewissen das wechselndste aller inneren Gesetze ist; dass Mängel des Gewissens unbewusst bleiben; dass das Gewissen vermessen ist in den Starken, zaghaft in den Schwachen und Unglücklichen, schwankend in den Unentschlossenen; dass es also ganz dem Grade der Empfindung entspricht, die uns beherrscht; dass es eine Gesinnung ist, die uns leitet. So betrachtet, ist es verständlich, wenn die Moraltheoretiker das Gewissen nicht als eine angeborene, sondern als eine anerzogene Kraft ansehen, abhängig von Eltern und Amme, von Ort und Zeit, von Luft und Wetter, von Kost und Kleidung, von Gehirnkonstruktion und Erfahrung, von Gelegenheit und Studium, von Gesundheit und Gesellschaft; zusammengesetzt aus der Furcht vor den Menschen, den Vorurteilen, der Strafe, der Eitelkeit, der Gewohnheit, der Selbstachtung, dem Egoismus. Anderen Bräuchen entsprechen andere Sitten, anderer Geistesrichtung andere Empfindungen, anderer Religion andere Gewissensbisse. Das erste Recht, ein Recht, das die ganze Natur anerkennt, ist das Recht des Stärkeren: das Faustrecht. Erst nachdem ein höheres Recht in Wirkung getreten ist, wird jenes zum Unrecht; allein nur solange das höhere Recht der Gesellschaft auch wirklich höhere Dienste leistet. Ist das rechtbildende Prinzip aber verlorengegangen, so wird stets das Recht des Stärkeren geübt. Denn ob man seinen Mitmenschen mit den Händen erdrosselt, weil man der Stärkere ist, oder ob man ihm durch raffinierte Geschäftspraktiken und überlegene Rechtskenntnis, die eine Umgehung des Rechts gestattet, den Hals zuzieht und erreicht, dass er im Elend umkommt, während uns der Vorteil seiner Arbeit »rechtmässig« zufällt, ist ganz gleichgültig.

Die Reue und Angst, die mancher über das, was er getan hat, empfindet, ist im Grunde oft nichts anderes, als die Furcht vor dem, was ihm dafür geschehen kann. Wären die Menschen nur eine Stunde lang von der Macht des Gesetzes befreit, so würde sich der Egoismus in seiner furchtbarsten Form offenbaren; die Menschen würden einander umbringen; man würde herz- und besinnungslos Glück und Leben des Anderen vernichten, um sich selber einen kleinen Vorteil zu verschaffen, und die Kulturarbeit der Jahrtausende würde sich als ein sehr dünner Firnis erweisen, der von der heissen Lauge der entfesselten Leidenschaften in einem Augenblick fortgewaschen würde. Das Gewissen, von dem Baco, Hobbes, Lamettrie, Helvetius, Volney und andere Moraltheoretiker sprechen, – die, nebenbei bemerkt, nur davon sprechen, ohne aber auch nach ihren Worten zu handeln – würde im Nu erstickt sein.

Aber ich bin nicht der Meinung der meisten Moralphilosophen, die das Gewissen nur als ein Produkt der Furcht vor dem Gesetze ansehen. Das Gewissen spricht ja auch dort, wo es sich nicht nur um Handlungen dreht, die im Sinne des Gesetzes unrecht sind, sondern die lediglich moralisch unrecht sind. Gesetzliches Unrecht ist es beispielsweise, sich fremdes Eigentum anzueignen oder aus Hunger und Not zu morden; man begeht aber kein gesetzliches Unrecht, wenn man ruhig zusieht, wie ein Mensch vor unserer Tür verhungert. Aber ich glaube, obwohl im ersten Falle das Gesetz mit seiner Strafandrohung das Gewissen erweckt, dass auch im zweiten Falle das Gewissen wach wird, weil wir gegen das moralische Gesetz in uns gesündigt haben. Jene Gerechtigkeit, die uns die staatliche Gewalt zu beobachten zwingt – da, ohne Macht und Gewalt hinter sich zu haben, kein Land Gerechtigkeit üben könnte – ist doch eine wesentlich andere Gerechtigkeit, als die, die unser inneres moralisches Recht uns vorschreibt.

Die staatliche Gerechtigkeit wird von wechselnden modischen Dogmen, Philosophemen, Glaubensartikeln usw. bestimmt. Der Staat kann es nicht dem Individuum überlassen, die Satzungen der Gerechtigkeit nach Willkür zu befolgen, da nicht in jedem Individuum die göttliche Stimme gleich laut spricht. Wäre dies der Fall, so müsste die Gerechtigkeit zu allen Zeiten und in allen Ländern immer ein und dieselbe gewesen sein, und ihr Glanz würde immerdar allen Völkern vorangeleuchtet haben. Wir würden uns dann nicht das Recht der Römer zum Muster nehmen, sondern in allen Staaten der Welt würde die Gerechtigkeit von Urbeginn an bestehen. Aber schon der Grundsatz, dass jeder den Sitten und Gesetzen seines Landes folgen solle, beweist, dass dem nicht so ist. Mit dem Wechsel des Himmelstriches verkehrt sich Recht in Unrecht. Ein paar Kälte- oder Wärmegrade mehr, und die ganze Rechtsgelehrsamkeit wird umgestossen. Der Krieg ändert die allgemeine Wahrheit, der Sieg ändert die Grundsätze der Moral. Kurz, das Recht hat seine Zeiten und Klimate. Aber ist es nicht sehr drollig, dass ein Fluss und ein Berg die Gerechtigkeit begrenzen! Denn was in Deutschland erlaubt ist, ist in Russland verboten.

Recht kann sich in Unrecht kehren, und das ist meist dort der Fall, wo Recht gesprochen wird: beim Gericht. Denn dort sucht man seinen Zweck durch List, Spionage, Fallenlegen, Qualzufügen im Namen des Gesetzes zu erreichen. Auch in Zwangslagen handle ich recht, wenn ich lüge oder töte; zum Beispiel, wenn ich einen Verbrecher, der mich berauben will, unter falschen Vorspiegelungen in ein Zimmer locke, wo ich ihn einschliessen kann, oder wenn ich, ehe er mich erschlagen kann, ihn töte.

Es kommt stets auf den inneren Sinn und auf die Gesinnung unserer Handlungen an. Stünden wir nicht unter dem Gesetzeszwange, so müsste die innere Stimme uns sagen, worin wir Recht und Unrecht tun. Der Moralist kann aber keine Gesinnung lehren. Gesinnung und Gewissen im höheren ethischen Sinne sind überhaupt nicht lehrbar. Ebenso wie das Studium aller Poetiken der Welt keinen Dichter machen, ebenso können alle Ethiken keinen Tugendhaften machen oder das Gewissen schärfen. Es wäre auch schlimm, wenn der ethische Wert des Menschen, wenn sein Göttlichstes aus Büchern zu schöpfen wäre und von Dogmen, Lehren, Predigten usw. abhinge. Die Glaubensartikel können dem Menschen nur die Richtlinie angeben, in der sich sein moralisches Handeln bewegen möge, niemals aber bestimmen sie das Gewissen selbst.

Die Verletzung äusserer gesellschaftlicher Satzungen quält manchen genau so stark, als ob er gegen das Gewissen selbst gesündigt hätte. So wird ein Offizier sich zuweilen eher töten, wenn er den in seinem Kreise herrschenden Ehrbegriff einmal missachtet hat, als wenn er sein Wort hundertmal gebrochen hat; vorausgesetzt, dass die Wortbrüchigkeit nicht mit seinem Ehrbegriff kollidiert. Und ein braver Bürger, der nicht imstande wäre, eine Fliege zu töten, ohne sich die heftigsten Gewissensbisse zu machen, fühlt sich gehoben, als ob er eine besonders edle Tat vollbracht hätte, wenn er im Kriege soviel Menschen tötet, als er nur kann. Er empfindet über seine Morde ebensowenig Reue, wie die Kannibalen, die ihre gefangenen Feinde fressen. Die Wilden würden erst dann Gewissensbisse empfinden, wenn sie Erziehung genug besässen, die Abscheulichkeit ihrer Gewohnheit einzusehen; ebenso wie der »Kulturmensch« erst dann Gewissensbisse über das schrecklichste aller Verbrechen empfinden wird, das er begeht – ich meine den Krieg – wenn der Krieg nicht mehr geheiligt sein, nicht mehr als eine göttliche, sondern als eine satanische Institution betrachtet werden wird.

Ich gebe zu, dass die Menschen, die aus barbarischer Gewohnheit das Naturgesetz übertreten, nicht so gepeinigt werden, wie diejenigen, welche die Macht des Beispiels noch nicht so verstockt gemacht hat. Aber ich glaube auch, dass jeder Mensch, soweit Krankheiten seine Vernunft nicht beeinträchtigt haben, Rechtschaffenheit von Ehrlosigkeit, Edelmut von Gemeinheit, Tugend von Untugend zu unterscheiden weiss; das heisst, dass jeder Mensch die ungeschriebenen Paragraphen des sittlichen Naturgesetzes kennt; dass selbst das roheste Gemüt sein Delphi und sein Dodona hat. Und dies ist eigentlich das Gewissen, von dem ich hier spreche, und das wesentlich verschieden ist von jenem Gewissen, das der Mensch als zoon politikon gezüchtet hat.

Ich glaube, dass etwas im Menschen ist, das eine unendlich grössere Macht besitzt, als der Wille. Denn zuweilen werden wir gezwungen, – ich weiss nicht, wie ich diese unbekannte Kraft benennen soll! – gegen unseren Willen gute oder böse Handlungen zu begehen. Solange der Mensch wach und bei Vernunft ist, vermag er kraft des Willens seine Gedanken zu dirigieren und sie, wie der Steuermann sein Boot, zu lenken. Er lässt in Vergessenheit sinken, was er vergessen will. Aber anders im Schlafe. Es werden Gedächtnisschreine im Traume aufgeschlossen, die lange verriegelt waren; der Mensch wird offenbar zum Taucher, der aus längst versiegt geglaubten Brunnen das Versunkene heraufholt; er wird zum Zauberer, der Totes wieder belebt, und.es scheint sogar, als schwebe zuweilen eine unsichtbare Hand über ihm, die die dichten Schleier von seinen Augen fortreisst, um ihm die ferne Zukunft zu enthüllen. Der Wachende mag mit den Fragen des Gewissens und der Gerechtigkeit sich vielleicht gut abzufinden wissen und längst damit im Reinen sein; der Träumende aber ackert alles noch einmal durch und forscht nach, ob vielleicht nicht doch irgendwo ein Korn liegen geblieben sei, aus dem die Saat erspriessen werde.

Ich glaube, ebenso wie der menschliche Körper nicht eher ruht, als bis er jedes Schmutzatom, jeden Fremdkörper, der in seine Maschine geraten ist, sei es auch durch Schwären und Beulen wieder ausgetrieben hat, dass auch die menschliche Seele ihre Ruhe nicht eher findet, als bis sie alles Gemeine, Schmutzige, Verbrecherische wieder ausgestossen hat und in ihrer ursprünglichen göttlichen Reinheit strahlt. Und ebenso wie der Körper sicher zugrunde geht, der nicht die Kraft hat, den in die Blutbahn geratenen Schmutz wieder auszusondern, ebenso stirbt die Seele, welche das Unrecht hegt und nicht darauf bedacht ist, das Schicksal auf irgendeine Weise wieder zu versöhnen. Das bringt auch die materialistische Lehre des Buddhismus zum Ausdruck, die dem verbrecherischen Menschen die Rückverwandlung in ein Tier androht; in ein Tier, das desto tiefer steht, je grösser das Verbrechen war. Der Mörder kehrt als Raubtier wieder, der Korndieb als Ratte, der Fleischdieb als Geier; die Seele eines Bramahnentöters wandert in den Körper eines Hundes oder Esels; der Brahmane, der säuft oder stiehlt, wird zur Motte oder Natter, und wer die häusliche Ehre seines Lehrers verletzt, wird als Dorn oder Distel oder reissendes Tier wiedergeboren.

Das Gewissen lenkt unsere Gefühle und die kleinsten Tätigkeiten unseres Denkens. Jede Inkonsequenz, jede Unbedachtsamkeit, jedes Handeln gegen unsere Vorsätze, Grundsätze, Ueberzeugungen, jede Taktlosigkeit, jeder Fehlgriff, jede Unanständigkeit wurmt uns hinterher und lässt einen Stachel in uns zurück. »Den Boshaften hilft kein Schlupfwinkel,« sagt Epikur, weil sie sich niemals vorstellen können, dass sie sicher verborgen sind; das Gewissen entdeckt sie ihnen selbst. Begehe ein Verbrechen, und die Erde scheint aus Glas zu sein. Schreite auf den Wegen der Untat, und es scheint, als ob eine Schneedecke über dem Erdboden ausgebreitet wäre, die deine Fusspuren verrät; es ist, als befändest du dich in einem Kesseltreiben und als würden die unsichtbaren Gewalten einen Kreis um dich ziehen und dich immer mehr einschliessen. Verbirg dich, wo du magst, die Furien sind dir auf dem Fusse. »Nicht im Luftreich, nicht in des Meeres Mitte, nicht wenn du in Bergeshöhlen hinabdringst, findest du auf Erden eine Stätte, wo du der Frucht deiner bösen Tat entrinnen magst,« sagt Buddha.

Die Verbrecher, die Boshaften, die Lügner, die Undankbaren, endlich diejenigen, welche die guten Empfindungen leugnen, unglückliche und des Sonnenlichts unwürdige Tyrannen mögen aus ihrer Barbarei sich immerhin ein grausames Vergnügen bereiten; in den Augenblicken der Ruhe und Ueberlegung erhebt sich jedoch das Gewissen in ihrer Brust und steht gleichsam als unparteiischer Zuschauer gegen sie auf, zeugt wider sie und verurteilt sie. Die Verachtung ihrer selbst ist ihr einziger Gewinn.

Furcht und Vernunft haben den Menschen dazu getrieben, einen Staat zu bilden. Dieser Staat musste mit der denkbar grössten Macht betraut werden, mittels der er das Eigentum des Einzelnen genügend schützen konnte, indem er jeden unrechtmässigen Uebergriff mit den schwersten Strafen belegte. Was hat aber Gott mit alledem zu tun? Und wer wäre dieser Gott, den der Mensch durch ein Verbrechen beleidigen könnte? Ein Gott der Rache? Er würde in der Wagschale zu leicht befunden werden. Einem Gott der Rache, einem Gott, der sich mit den Tränen der Menschheit bezahlt macht und der sich nur bemerkbar macht, wenn wir gefoltert werden, würden wir die Tempel verschliessen. Ein Gott voller Güte? Ein Gott voller Güte sollte beleidigt sein, weil ein armer Teufel aus Not silberne Löffel gestohlen oder in der Leidenschaft– mit der Gott ihn bedacht!– einen anderen Menschen erschlug? Und dieser Gott sollte wieder versöhnt werden dadurch, dass der arme Teufel sein Leben lang auf einer Holzpritsche schläft, billige Stiefel herstellt und Erbsen isst? Das Bild ist zu lächerlich, um es weiter auszumalen. Gott ist nicht so leicht zu beleidigen wie die Menschen, sonst wäre alles verloren. Und übrigens ist es – um an ein Wort des grossen Friedrich zu erinnern – der Beruf Gottes, zu verzeihen.

Das Gewissen des Diebes, Mörders oder anderen Verbrechers, mag vielleicht nichts anderes sein, als die Furcht vor der Strafe, die auf dem Verbrechen ruht. Aber jeder, der eine Strafe verdient hat, erwartet sie, und ein jeder, der sie erwartet, erleidet sie. Der Verbrecher zimmert sich selbst die Anklagebank. Wer die Menschen quält, wird vom eigenen Ich gequält, und die Pein, die er empfindet, wird derjenigen gleich sein, die er Anderen bereitet hat.

Gewissensbisse entstehen zunächst aus Angst. Der Mensch, der bewusst oder unbewusst mit der Gesellschaft sich verknüpft fühlt und dem zum Bewusstsein kommt, an der Gesellschaft, der er durch Vererbung, Art und Weise ebenfalls angehört, sich vergangen zu haben, fürchtet, von ihr verfehmt zu werden; darum fühlt er von dem vernichtenden Urteil, das sie über ihn fällt, sich derart getroffen und verfolgt, durch die Ausstossung aus ihrem Kreis sich so verlassen und von der Einsamkeit schliesslich so erdrückt, dass er es auf die Dauer nicht ertragen kann und – um in die Gesellschaft zurückkehren zu können – der Macht seines Gewissens sich beugt und sich jeder Strafe unterwirft, die ihm die Gesellschaft zur Busse auferlegt. Er wird sogar den Tod als willkommene Erlösung begrüssen, wenn er dadurch seine beschmutzte Seele wieder reinwaschen kann, ebenso wie der Hermelin lieber stirbt, als dass er sich beschmutzen wird. Dies sagen nicht nur die Dichter; etwas davon lebt selbst im gewissenlosesten Schurken. Witzig drückt es der geniale Lichtenberg so aus: »Es gibt wohl keinen Menschen in der Welt, der nicht, wenn er um 1000 Taler willen zum Spitzbuben wird, lieber um das halbe Geld ein ehrlicher Mann geblieben wäre.« Denn wir alle kennen von einzelnen, unvergesslichen Augenblicken des Lebens her das Gefühl der Harmonie mit allem, was die Welt in sich birgt. Wir kennen diese Stunden, in denen der Schmerz sich löst und uns die Gewissheit wird, dass eine harmonische Gemeinschaft besteht zwischen uns und allem übrigen auf Erden; die Gewissheit, dass unser Gewissen sich auf der Wanderung nach oben befindet; dass es zum Himmel drängt, zum Licht hinan will. Das ist ungefähr auch die Meinung Dostojewskis, wie er sie in seinem »Raskolnikow« zum Ausdruck bringt. Er will sagen: Die besondere Strafe mag erst lange nach dem begangenen Unrecht erfolgen; aber sie folgt unbedingt, weil sie die Schuld unzertrennlich begleitet. Missetat und Busse wachsen aus einer Wurzel. Ursache und Wirkung, Mittel und Zweck, Same und Frucht können nicht voneinander getrennt werden. Niemand kann Unrecht tun, ohne Unrecht zu leiden. Der ethische Gedanke der Gnadenerlasse kann nicht der sein, die Unglücklichen von Strafen zu erlösen, die sie verdient haben, sondern sie von den Gewissensbissen zu befreien und sie wieder in die Gesellschaft aufzunehmen.

Die Tortur war eine gefährliche und lächerliche Erfindung, um das Gewissen zu wecken. Sie konnte höchstens ein Prüfstein der Geduld sein, der Selbstbeherrschung, der Nervenkraft, aber nie der Wahrheit. Derjenige, der die Folter aushalten konnte, verbarg die Wahrheit so gut wie der, der sie nicht zu ertragen vermochte. Nur schwachmütige Schuldige konnte der Schmerz dahin bringen, zu bekennen, was an einer Sache wahr gewesen ist. Sehr oft aber zwang die Folter die Gemarterten zu sagen, was nicht wahr gewesen; etwas zu bekennen, was sie nie verbrochen hatten. Die Geschichte des Mittelalters allein liefert viele tausende Beispiele von Menschen, die unter dem Zwang der Folter verblendeten Richtern eingestanden, mit dem leibhaftigen Satan gebuhlt zu haben, auf den Blocksberg geflogen zu sein, Ueberschwemmung und Dürre verursacht zu haben, kurz und gut, die unmöglichsten Verbrechen begangen zu haben, für die man ein Geständnis verlangte. Die Marter hat zuweilen diesen Erfolg bewirkt, aber durchaus nicht das Gewissen. Konnte der, der ein Verbrechen aber nicht begangen hatte, kraft seines reinen Gewissens die auferlegte Pein erdulden und schweigen, so konnte der wirklich Schuldige auf der Folter erst recht schweigen, da ihm schliesslich als Lohn das Leben winkte.

Kant hat die menschliche Seele mit einem Gerichtshofe verglichen, der das Gewissen prüft. Im Innern des Gemüts– meint er –finde ein regelrechter Prozess statt; da gebe es Richter, Ankläger, Verteidiger und Urteilsspruch. Wenn aber so eine übernatürliche Einrichtung in uns bestünde, wenn ein solch unsichtbares Fehmgericht im geheimnisvollen Dunkel unseres Bewusstseins tagte, würde es jeden abhalten, die Gesetze der Menschlichkeit im Kleinen wie im Grossen zu übertreten und sich gegen die staatlichen Gesetze zu vergehen.

In Wirklichkeit kündigt sich die furchtbare Macht des Gewissens nicht mit dieser unfehlbaren Sicherheit an. Es bedurfte bei den meisten Völkern erst der Religion, um das Gewissen zum Reden zu bringen, und seine Wirkung war oft belanglos, wenn Umstände und Zufälle nicht zur Beichte zwangen.

Jede grosse Stadt gibt wohl im Jahre zehntausende Mark her, um den Verbrechern auf die Spur zu kommen; aber sie gibt diese Summe nicht auch her, um Verbrechen zu verhüten. Darum ist es noch sehr die Frage, ob wir nicht, wenn wir einen Mörder rädern, gerade in den Fehler des Kindes verfallen, das den Stuhl schlägt, an dem es sich stösst. Schon um Pfennige mordet Mancher aus Hunger und Verzweiflung. Steigen die Brot- und Fleischpreise, so steigt auch die Zahl der Verbrechen. Aber ist das nicht selbstverständlich? Wenn ein bedeutender Mensch schlecht verdaut hat, fallen die Kurse, und wenn ein Hungriger sich Brot zu schaffen sucht, soll es keine Bewegung geben? Zu dieser Summe für die Fahndung kommen übrigens noch andere Kosten: wir zahlen ungefähr dreissig Millionen im Jahr für die Gerichtshöfe und Gefängnisse, für die Armee der Richter, Anwälte, Assessoren, Polizisten, Gerichtsdiener, Gefängniswärter, die ja alle im Grunde ihre Existenz nur der Tatsache verdanken, dass die Stimme des Gewissens in Vielen gar nicht laut wird. Denn hätte jeder ein reines Gewissen, lebte jeder nach dem Kantischen kategorischen Imperativ, der ebenso verehrungswürdig wie unbequem ist, tagte in jeder Seele der Kantische Gerichtshof, so könnten die Richter betteln gehen. Der ganze soziale Apparat, den das Gerichtswesen umfasst, scheint lediglich dem einen hohen Zweck zu dienen: die Wahrheit an den Tag zu bringen, das befleckte Gewissen zu reinigen und den Gott in unserem Innern zu versöhnen.

Denn ich glaube: wie der im Erdreich lebende Pflanzenkeim den Weg sucht und kennt, der zum Lichte führt, so findet auch der Mensch inmitten der Dunkelheit einen zuverlässigen Wegweiser an seinem Gewissen. Wenn wir den Stimmen unseres Hirns und Herzens lauschen und uns dennoch selbst belügen, dann befällt uns Unruhe, Angst und Unsicherheit. Wenn wir uns selbst belügen, werden wir feige; die Wahrheit aber ist die Quelle des Mutes. Mut ist Fortschritt, Furcht ist Rückschritt. Der Mut zieht Gutes nach sich, wie die Furcht Böses. Der Mut im Kampfe des Lebens, der Mut des einsamen Denkens und der kleinen und grossen Arbeit führt uns zu der geheimnisvollen Quelle des Lebens, zum Gewissen. Denn das Gewissen ist der gemeinsame Gott des Menschen, den man nicht ungestraft missachtet und nicht unbelohnt verehrt. Es ist das Gesetz der Gesetze und eine höhere Instanz gibt es nicht. Wer sich ihr unterwirft, hat ein Gefühl tiefster Glückseligkeit. Das Gewissen ist das lebendige Organ des Universums, das in tausend Formen und Bildern angebetet und gefürchtet wird. Es bedeutet ewige Furcht vor der Sünde gegen die Wahrheit. Es ist ein Sonnenfunke, der durch die Seelen und Zeiten leuchtet; ein Spiegel in unserm Inneren, der nicht schmeichelt und nicht täuscht, dem jede Tat, jede Handlung, jeder Gedanke in einer wahren Gestalt gegenübergestellt wird, so dass die Seele sich gleichsam selber in die Augen schauen kann. Das Gewissen ist der geheime Sinn des Gebäudes, das wir errichtet haben. Es ist ein Traum von etwas, das über uns alle herrscht, uns alle in seiner Gewalt hat, und Frieden gibt oder Unrast. Es ist der Ordner im Chaos, der Befreier aus Erniedrigung und Missmut. Es ist der unausrottbare Glaube und der unbezwingbare Wille der Völker. Nur ihm verdankt die Welt ihre Bewohnbarkeit, nicht dem Wissen oder der Macht. Es ist ein göttliches Gefühl und es vergöttlicht. Es macht unbegrenzbar und zeigt, dass die Quelle alles Guten in uns selber ist. »Wenn der Mensch spricht: ,Ich soll', wenn ihn Liebe erwärmt, wenn er, der Stimme der Höhe gehorchend, das Grosse und Gute erwählt, dann wandern tiefe Melodien der höchsten Weisheit durch seine Seele. Nun erst kann er anbeten und durch seine Andacht wachsen, denn über jenes Gefühl hinaus kann er nie gelangen. In seinen erhabensten Flügen schwingt sich der Geist nie über die Höhe der Sittlichkeit, nie über den Gipfel der Liebe empor.«

Lasst den Denker gegen das intellektuelle Gewissen sündigen, den Pfarrer gegen das moralische, den Bruder Leichtfuss gegen das ökonomische und den Verbrecher gegen das soziale; lasst alle Lügner, Betrüger und Unholde in die entferntesten Winkel der Erde entfliehen, sie entfliehen nicht ihrem Gewissen. Es reitet auf ihrem Nacken. Und wenn sie ihre Seele auch in eine Pfütze verwandeln, wollen wir nicht daran vergessen, dass auch die Pfütze das Bild der Sonne widerspiegeln kann.


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