J. E. Poritzky
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J. E. Poritzky

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XI. Der Dämon der Melancholie.

Wer weinte nicht,
Wenn das Unsterbliche
Vor der Zerstörung selbst nicht sicher ist?
Goethe

Man wird zwar ein wenig über die Achsel angesehen, wenn man bekennt, zuweilen vom Dämon der Melancholie besessen zu sein. Aber das soll uns nicht hindern, zu gestehen, dass eine solche Wanderung durch das Tal der schmerzlichen Bitternisse von sehr hohem Werte ist. Und dann: man begibt sich ja nicht freiwillig auf diesen qualvollen Weg. Man sucht nicht die Melancholie, sie packt uns vielmehr an und knechtet uns. Man muss es nur verstehen, auch aus dieser Qual Nutzen zu ziehen. Wenn einen die grosse Melancholie überfällt, geht man in seine Gedanken eingemummt dahin und kümmert sich nicht um die Aussenwelt. Es ist, als spalte man sich in zwei Teile; der eine – ein niederes Tier, eine Art dienender und notwendiger Maschine – isst für einen, trinkt für einen, geht, ohne dass man es weiss, die notwendigen Wege, erträgt, ohne dass man es empfindet, die Unannehmlichkeiten und kleinen Quälereien des Lebens und verrichtet alles automatisch, was sein Zustand erfordert; der andere, rein geistiger Art, dehnt sich mit mächtiger Neugierde, richtet sich auf und gibt sich den schmerzlichsten Gedanken hin.

Versunken in den Wogen der Melancholie, erscheint einem alles sinnlos und nutzlos, und das warme Herz zuckt gleichsam erfrierend zusammen. Die Gedanken, die auf die Nichtigkeit des Daseins gerichtet sind, scheinen aus einer Eisregion zu kommen und erfüllen das Herz mit einer furchtbaren Kälte.

Kann man sich an dem Gedanken erwärmen, dass Zivilisationen, aufgebaut mit unendlicher Mühe, hinweggeschwemmt wurden und versanken? Dass edle Kulturen, die feinsten Blüten strebender Menschen, vernichtet wurden? Dass Gedanken, für die die Menschen wie Gladiatoren kämpften und fielen, längst für nichtig erkannt sind? Dass Glaubenslehren, für die die Menschen ihr Leben liessen, als Täuschung und Betrug entlarvt wurden? Dass die Kunst der Griechen durch die Keulen der Goten zu Staub zermalmt wurde? Dass die Träume von einer allgemeinen Menschenverbrüderung immer wieder in einem Meer von Blut ertränkt werden? Dass die Wissenschaft jahraus, jahrein in ihren Werkstätten und Laboratorien, in ihren Kliniken und Museen Kehraus macht, neue Lichter aufsetzt, um besser zu sehen, unermüdlich bohrt, um in die letzten Tiefen zu dringen und überall nur Staub findet? Aus dieser Furcht vor der Leere und vor dem Nichts ist auch das Dogma von einem zukünftigen Leben entstanden; aus dem Verlangen, dem Tode etwas zu entreissen. Und wenn es nur die Illusion des Jenseits ist; der Mensch kommt ohne sie nicht aus.

Die Liebe zum Reichtum lässt wahrscheinlich deshalb alle Herzen höher schlagen, weil er wenigstens einen Teil der Illusionen zu erfüllen verspricht, ohne die der Mensch nicht leben kann. Der Reichtum gestattet ein ewiges Berauschtsein, ein Sichhinwegtäuschen über die aus dem Innersten kommende Melancholie, die eine Folge der ahnungsvollen Erkenntnis ist, dass wir nur willenlose Puppen in einem sehr üblen Possenspiel sind; dass jenseits des Grabes das Nichts uns gewisser ist, als das Paradies und dass jeder zum Himmel gerichtete Schmerzensschrei ohne Echo verhallt.

Und trotzdem doch alles ungewiss ist, alles sich im Dunkel verliert und im Nichts, gibt es Menschen, die Entwürfe machen für die fernste Zukunft. Es gibt freilich auch Menschen, die nie darüber nachgedacht haben; andere, die rasch darüber fortgeglitten sind, die solche Betrachtungen nicht Wurzel fassen lassen in sich und mit übertrieben ernstem Eifer dem Stumpfsinn des Berufs ergeben sind. Am Morgen haben sie den Stolz eines Gottes gefühlt, der das Bewusstsein hat, unsterblich zu sein. Am Abend haben sie trotzdem einsehen gelernt, dass ihre sterbliche Hülle vergehen müsse. Sie haben erfahren, dass nichts von dem, was man auf Erden verfolgt und erreicht, für die Bestrebungen, Anstrengungen, schlaflosen Nächte und für die Habsucht und Kriecherei, zu denen der Ehrgeiz zwingt, entschädigen kann, und am Ende stehen sie bestürzt da und betrogen, geängstigt von der Ungewissheit, dem Misslingen, der vergeblichen Hoffnung, dem Rausch der Scheintriumphe, der getäuschten Eitelkeit. Sie haben erfahren, dass Titel, Würden und Ehren nichtig sind, dass mit ganzen Truhen voll Goldes nicht eine einzige freudige, Lebensstunde erkauft wird, und dass die unsinnige Anhäufung des blendenden Metalls uns überlebt. Und obwohl sie wissen, dass alles unter der Sonne eitel Dunst ist, jagen sie mit einer poesievollen Ernsthaftigkeit Phantastereien nach, die nur ein Rabelais parodieren könnte.

In den Wünschen und Begierden allein liegt das Uebel. Wer aber Lust begehrt, begehrt Leid, sagt Buddha. Könnte man die Wünsche auslöschen, so würden die Taten an Entkräftung sterben. Aber kaum ist ein Wunsch erfüllt, so treten an seine Stelle hundert neue, grössere. Deshalb ist der Mensch selbst die einzige Ursache seines eigenen Elends und seiner ewigen Unzufriedenheit.

Aber woher kommt diese Unruhe in den Menschen? Hat sie denn eine andere Ursache als die Angst vor der Selbstbesinnung? Denn man denke, wohin wir kämen, wenn eines Tages die Bauern und die Kaufleute, die Bäcker und die Metzger, die Bankiers und die Fabrikanten, die Ingenieure und die Eisenbahner, die Kanalreiniger und die Strassenfeger – kurz, wenn alle Menschen, die das soziale Rad in Schwingung halten, erklären würden, sie wollten fortan nur noch ihrer Seele leben, nachdem sie so lange das rein maschinenmässige Dasein ihres Berufs geführt haben. Man sieht hoffentlich ein, dass sie notwendigerweise für eine so gründliche Kultur der Seele keine Zeit haben dürfen. Dass die göttliche Seele nur zu kurzem Aufenthalt an den Körper gefesselt ist und im vergänglichen Körper ihre Reinigung erfahren soll, um für das ewige Leben vorbereitet zu sein, das ist der Inhalt jeder Sonntagspredigt, der man zum Glück an den sechs Werktagen keine Beachtung schenken kann. Wir sind Menschen, und die Notdurft unserer Körper erheischt unsere ganze Zeit. In den knappen freien Stunden, die uns bleiben, geben wir uns wiederum nicht mit der Pflege der Seele ab; im Gegenteil: wir wollen vollständig daran vergessen, dass wir eine Seele haben. Darum suchen wir in unserer Mussezeit nach Möglichkeit nicht an sie zu denken. Da wir aber unser Gehirn nicht totschlagen können, und die Gedanken – bei manchen wenigstens – ungerufen kommen, bemühen wir uns, durch allerlei Zerstreuungen, an unsere Seele zu vergessen. Wir suchen dann Lärm, Vergnügen, Zeitvertreib. Wir verfolgen damit den einzigen Zweck, die Zeit verstreichen zu lassen, um nicht an uns selbst gemahnt zu werden. Wir suchen unsere freie Zeit, diesen schönsten Teil des Lebens, auf jede Art totzuschlagen, weil wir der Melancholie entrinnen wollen, die uns unweigerlich befallen würde, wenn wir über uns selbst, über den Zweck und den Sinn des Daseins und über die göttliche Seele nachdenken würden.

Aber man entrinnt der Melancholie nicht. Ein Sprichwort sagt, dass wir am Abend noch weinen, wenn wir am Morgen lachen. Ausgelassenheit sinkt zurück in Niedergeschlagenheit. Denn wenn man von solch einem »totgeschlagenen« Abend oder einer verbummelten Nacht in der Morgendämmerung nach Hause kommt, hat man wirklich das Gefühl, als hätte man – wie der Volksmund es richtig ausdrückt – jemand totgeschlagen. Nicht nur die Zeit, sondern etwas anderes noch, etwas, das unser Herz wie ein verborgenes Heiligtum verehrt, und das man weder entschleiern noch mit Namen nennen darf. Aus unserem sonst so vertrauten Heim schlägt uns etwas Kaltes und Leeres entgegen, etwas so Feindliches, dass es unheimlich werden kann. Es ist, als ob ein unsichtbarer Unbekannter Besitz davon genommen hätte. Beklommenheit liegt auf den Dingen. Mantel und Hut im Korridor sehen aus, als sei unser Doppelgänger uns vorausgeeilt, um sich zu erhängen, und als sollte uns gezeigt werden, dass wir verdienten zu sterben. Das unberührte Bett schaut uns mit einem stummen Vorwurf an, die übrigen Möbel haben einen feindlichen, fremden Ausdruck. Der Ofen gleicht einem Sarge, der auf den Kopf gestellt wurde, und der Spiegel wirft uns das Bild eines Schuldbewussten zurück. Alles scheint öde und verzerrt. Oder sind nur wir es? Unsere Nerven erwarten irgendein Unheil; man wittert Verdriesslichkeiten, und sobald der Tag beginnt, hat man das dringende Bedürfnis durch vermehrte Arbeit und angestrengten Fleiss irgend etwas wieder gutzumachen. Diese tiefe Scham, die man so stark empfindet, als hätte man gegen ein Naturgesetz gesündigt, ist sie etwas anderes, als der Vorwurf, den wir uns darüber machen, dass wir gegen das Edelste in uns gesündigt haben? Es hätte gewiss verhindert werden können, wenn wir zu Hause geblieben wären. Heil dem Manne, ruft der Psalmist, der in seinem Hause bleibt. Und ebenso Pascal: »Ich habe mir oft gesagt, dass alles Unglück der Menschen auf das Unvermögen zurückzuführen sei, ruhig und mit Vergnügen zu Hause zu bleiben.«

Zu Hause würden wir unsere freie Zeit etwa mit der Lektüre eines guten Buches ausgefüllt haben. Aber was könnte uns ein gutes Buch geben? Im Grunde kann es doch nur wieder zur Selbstbetrachtung und zur Selbsterkenntnis führen. Und das »Erkenne dich selbst«, das die Veden und alle grossen Religionen gepredigt haben, scheint mir das schwierigste und übelste Gebot, das der Mensch befolgen kann. Was hat man schon davon, wenn man sich selbst erkennt? Man verliert nur die Freude an sich selber und den Geschmack an anderen Menschen. Was könnten wir in uns entdecken, das die Seele befriedigen würde? Nichts. Darum sucht sie in der Beschäftigung mit äusseren Dingen das Bewusstsein ihres wahren Zustandes zu verlieren und ist bemüht, sich selbst zu vergessen. Und deshalb fliehen die meisten Menschen die Ruhe und die Einsamkeit und lieben Lärm und Unruhe. Ja, man kann sagen, nichts hassen und fürchten, die Menschen mehr, als mit sich allein zu sein, und in je höherem Grade, desto mehr sie sich selbst lieben. Das ist einer der sonderbarsten Widersprüche der Menschen, dass sie nichts so lieben, wie sich selbst und nichts so fliehen, wie sich selbst. Darauf beruht wohl die Angst vor der Absperrung, dem Gefängnis, und die Tatsache, dass die Einzelhaft als die furchtbarste Strafe empfunden wird. Man vermeidet unbewusst das Alleinsein und die Selbstbetrachtung vielleicht auch deshalb, weil man gewiss ist, sich nicht so zu erblicken, wie man sich gern sehen möchte. Denn es gehört Mut dazu, sich selbst ins Antlitz zu schauen; und wer sieht gern in den Spiegel ohne die leise Hoffnung, dass er nur Schönheit zurückstrahlen möchte? Und wer, dem Eitelkeit, Selbstverblendung oder Verderbtheit den Blick nicht getrübt hat, hält den aus dem Innersten kommenden Blick vor sich selber aus? Denn in irgendeinem Punkte sind wir alle nicht mit uns zufrieden.

Man muss diese Melancholie nicht mit der dumpfen Langeweile der tauben Seelen verwechseln. Denn die Melancholie, von der ich spreche, entsteht, wenn man der Ewigkeit einen Augenblick lang ins unveränderliche Antlitz gesehen hat, wo denn das eigene Selbst vor seiner ungeheuren Nichtigkeit erschrickt und zusammenschrumpft und kaum begreift, wozu man den riesenhaften Apparat der Zivilisation, der Kultur und des Luxus erfunden hat.

Einst verlachte man die Mystiker und die alten Rabbinen, die es verboten haben, allzu tief über das Wesen der Dinge nachzudenken; aber plötzlich begreift man, dass sie Wissende waren: das Forschen nach dem Zweck der Dinge und das allzu lange Betrachten seiner Selbst und das Grübeln über das Woher und Wohin – es führt zur Selbstverneinung, und es macht das Leben zu einer unerträglichen Qual. Gedanken, so schön sie sein mögen, wärmen aber nicht, und wenn man leidet, friert man und will Wärme. Und weil uns bei tieferer Betrachtung im Grunde nichts befriedigen kann, streben wir mit soviel Eifer irgendeinem Ziele zu, es mag noch so unerreichbar sein, und suchen uns eben durch angestrengte und leidenschaftliche Beschäftigung von uns selbst abzulenken. Es ist deshalb eine Täuschung, wenn man nach Ruhe strebt; in Wirklichkeit sucht man das Gegenteil. Und wenn das Ziel, das man anstrebt, auch nur auf Hirngespinsten und Einbildungen beruht, und wenn die Vergnügungen, denen man nachjagt, trügerisch sind und elend, sie lindern doch den Schmerz, den wir darüber empfinden, dass wir weder rein geistige Wesen noch blosse Tiere sein können. Dazu verurteilt, ein Mittelding zu sein, das zwischen Gott und Affe steht, gibt es für uns nur eine Befreiung vom Dämon der Melancholie und nur eine Befreiung von uns selbst: die Liebe. Denn lieben heisst, das Glück eines anderen zum Ziele haben, sich ihm unterordnen und sich für sein Wohl opfern.


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