Henrik Pontoppidan
Das gelobte Land
Henrik Pontoppidan

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Dritter Teil

Frau Betty ging unruhig auf dem Gartenwege auf und nieder. Obwohl es schon hoch am Vormittag war, trug sie noch ihr Morgenkleid, hatte ein kleines Schlüsselbund an ihrem Gürtel und eine schwarze Spitze über dem Haar. Oft beugte sie sich über die Gartenpforte vor und spähte nach allen Seiten, und ein paarmal ging sie ganz aus dem Garten heraus und begab sich auf eine, ein wenig vom Hofe entfernt gelegene Anhöhe, von wo aus sie mit besorgtem und gespanntem Ausdruck nach den fernen Hügeln jenseits des Dorfes hinüberstarrte.

Auf dem Rückweg von einem dieser Ausflüge überraschte sie die Kinder in einem verborgenen Winkel hinter der Scheune, wo Sigrid den ganzen Vormittag beschäftigt gewesen war, ihre Puppenwäsche zum Trocknen auf eine Schnur zu hängen. Auch die kleine Dagny hatte hier vollauf zu tun, wenn auch nicht mit gutem Willen. Der kleine Dicksack hatte den Finger in den Mund gesteckt und brummte unwillig, während die Schwester jeden Augenblick auf sie einfuhr, entweder um ihr unter geheimnisvollem Flüstern ihre großen Pläne mitzuteilen, oder um ihr durch ein paar kleine Püffe und ein ernstes Durchschütteln einzuprägen, daß sie der Tante und auch sonst niemand davon erzählen dürfe, was hier vor sich ging.

Es war dessenungeachtet ein höchst unklares Schuldbewußtsein, was die Kleine jetzt verriet, als die Tante plötzlich vor ihr auftauchte. Sigrid dahingegen wurde flammend rot bis über die Stirn.

»Wir spielen so schön!« rief sie der Tante gleich entgegen, mit einem der frohen Ausrufe, mit denen die Kinder ein schlechtes Gewissen verbergen zu können glauben.

Frau Betty war aber zu sehr von ihren eigenen Gedanken in Anspruch genommen, um den Kindern etwas anzumerken. Sie gab ihnen im Vorübergehen die gewöhnliche Ermahnung gut acht auf ihre Kleider zu geben und kehrte dann in den Garten zurück.

Hier kam ihr das Dienstmädchen Angelika aus der Gartenstubentür entgegen und sagte:

»Gnädige Frau, da ist ein Mann, der gern mit dem Herrn sprechen will!«

»Sage nur, der Herr wäre nicht zu Hause. – Was für ein Mann ist es denn?«

»Ich kenne ihn nicht. Aber es ist wohl derselbe, der neulich hier war, als der Herr auch nicht zu Hause war.«

»Dann entschuldige den Herrn bei ihm und sage, er möchte in einer Stunde wiederkommen, falls es ihm paßt. Zu der Zeit muß der Herr Pastor schon da sein.«

Frau Betty hatte sich auf die Gitterbank unter den schattigen Apfelbaum gesetzt, die im Laufe des Sommers ihr Lieblingsaufenthalt geworden war. Sie nahm eine Handarbeit, die zufällig da lag, und fing an zu stricken, um ihre Gemütsbewegung zu bekämpfen. Ihr Gesicht war ungewöhnlich blaß, die Augen rot und übernächtig. Die Spannung, in der sie sich nun bald vierundzwanzig Stunden befunden, hatte sie völlig zugrunde gerichtet. Ihr ganzer Körper war gleichsam elektrisch vor Nervosität.

Seit dem Nachmittag des vorhergehenden Tages hatte sie Emanuel nicht gesehen. Sie war damals mit einem Brief, den die Post gebracht hatte, und an dessen Adresse sie die ungeübte Schrift seiner Frau zu erkennen glaubte, zu ihm in sein Zimmer gegangen. Schon lange hatte sie es Emanuel anmerken können, daß er auf Nachricht aus seinem alten Heim wartete, und nun begriff sie, daß dies die ungeduldig ersehnte Antwort war, die über seine Zukunft bestimmen sollte. Sonderbarerweise war ihr gleich beim Anblick des Briefes ein wenig unheimlich zumute geworden; er schien ihr so auszusehen, als enthalte er eine traurige Botschaft. Nie zuvor war ihr auch nur einen Augenblick der Gedanke in den Sinn gekommen, daß die Frau ihres Bruders sich weigern könne, das abgebrochene Zusammenleben wieder fortzusetzen. Jetzt fing sie an, sich zu ängstigen, – und was dann später geschehen war, hatte nur dazu beigetragen, die dunkle Ahnung zu bestätigen, die sie gleich befallen hatte.

Emanuel hatte sich den ganzen Abend nicht blicken lassen. Er hatte sich in sein Zimmer eingeschlossen und wollte niemanden hineinlassen, weder das Mädchen, als sie ihm sein Abendbrot bringen wollte, noch die Kinder, als sie anklopften, um Gutenacht zu sagen. Sie selbst hatte es deswegen aufgegeben, mit ihm zu sprechen; aber die ganze Nacht hatte sie ihn in seinem Zimmer auf und nieder gehen hören . . . und dies anhaltende, endlose Wandern hatte eine schreckliche Erinnerung bei ihr wachgerufen. Es war dies nämlich etwas von dem wenigen, dessen sie sich von ihrer verstorbenen Mutter deutlich erinnerte: daß auch sie halbe Tage und ganze Nächte so, ohne auch nur ein einziges Mal innezuhalten, in ihrem Zimmer auf und nieder gehen konnte. Noch in der Nacht vor ihrem Tode hatte sie sie so unermüdlich wandern hören . . . und das dumpfe, geisterhafte Geräusch von Emanuels Schritten hatte ihr daher eine solche Angst eingeflößt, daß sie die ganze Nacht in ihrem Bett gelegen und gezittert hatte. Erst als es anfing zu tagen, war es drinnen bei ihm still geworden, und sie war endlich eingeschlafen.

Aber nun heute morgen hatte das Mädchen erzählt, daß er schon um Sonnenaufgang fortgegangen sei; sie war aufgewacht, als sie die Gartenstubentür hatte gehen hören; und hinter ihrer Gardine hatte sie ihn dann die Richtung durch das Dorf, nach den westlichen Hügeln zu, einschlagen sehen. Jetzt war die Uhr elf . . . fast vierundzwanzig Stunden lang hatte er also nichts gegessen.

Sie wagte gar nicht daran zu denken, was aus ihm werden sollte, falls ihm nun auch der Weg zu seinem alten Heim versperrt wurde. Er war allmählich hilflos wie ein Kind geworden. Sie hatte ihn in der letzten Zeit fast wie einen Unmündigen behandeln, seine Mahlzeiten bestimmen, sich um seine Person kümmern, seine Kleidung ordnen müssen, weil sie überzeugt war, daß er sogar vergaß, die Wäsche zu wechseln, wenn sie ihn nicht daran erinnerte.

Sie zuckte zusammen. Draußen auf dem Wege wurden Schritte hörbar. Die Gartenpforte tat sich langsam auf. Ganz in sich versunken kam Emanuel den Gang entlang gegangen. Als er ihrer ansichtig wurde, blieb er stehen.

»Sitzest du hier?« fragte er mit gedämpfter Stimme. »Wo sind die Kinder?« fügte er nach einer Weile hinzu.

»Sie spielen draußen hinter der Scheune. Soll ich sie holen?«

»Ach nein. Laß sie nur spielen . . .! Ich bin jetzt auch ein wenig müde.«

Er setzte sich schwerfällig neben sie auf die Bank.

Frau Betty war so beklommen, daß sie lange kein Wort herausbringen konnte. Endlich sagte sie:

»Hier ist ein Mann gewesen, der dich sprechen wollte, Emanuel. Es war, glaube ich, derselbe Mann, der neulich hier war, als du auch nicht zu Hause warst.«

»Was für ein Mann war es, Betty?«

»Ich weiß es nicht. Es muß wohl ein Fremder sein. Angelika kannte ihn jedenfalls nicht.«

Gleichsam erwachend wandte Emanuel ihr sein Gesicht zu.

»Sie kannte ihn nicht, sagst du! . . . das ist doch sonderbar!«

»Ach, warum denn, Emanuel! hier sind ja häufiger fremde Leute gewesen, die mit dir reden wollten.«

»Ja, das ist wahr – natürlich!«

Frau Betty versuchte, Gewißheit aus dem Gesicht des Bruders herauszulesen. Aber sein Ausdruck bestärkte sie eigentlich nicht in ihrer Vermutung, bezüglich des verhängnisvollen Inhalts des Briefes. Emanuel war freilich sehr blaß und offenbar tief bewegt, aber er erschien ihr mehr feierlich gestimmt, als eigentlich niedergebeugt.

Mit einem Schimmer von Hoffnung dachte sie daran, daß sie sich doch möglicherweise geirrt haben könne.

»Du warst heute morgen früh auf, Emanuel. Das Mädchen erzählte, du seist schon um Sonnenaufgang fortgegangen. – Hast du über nacht nicht gut geschlafen?«

Emanuel nickte mechanisch, ohne gehört zu haben, was sie sagte. Er saß vornübergebeugt, die eine Hand unter der Wange, die andere auf den Griff seines Stockes gestützt.

»Sag' mir doch, Betty,« begann er schließlich in einem Ton, als spräche er ebensoviel mit sich selber wie mit der Schwester: »sag mir doch – erinnerst du dich der Dämmerungsstunden daheim, als wir Kinder waren?«

»Der Dämmerungsstunden?«

»Ja. Weißt du wohl noch . . . Mutter saß im Lehnstuhl in der grünen Stube, wo das Licht der Laterne hineinfiel . . . und wir saßen um sie herum auf Schemeln oder auf ihrem Schoß. Sie erzählte uns Märchen von Rittern und Königssöhnen, die in die Welt hinauszogen, um das Banner Christi zwischen das Heidenvolk zu pflanzen.«

»Ich war damals ja noch so klein, Emanuel. Ich entsinne mich kaum mehr der Zeit, als Mutter noch gesund war.«

»Ach ja, das ist wahr. Ich war ja einige Jahre älter. Ich erinnere mich, daß ich selber damals angefangen hatte, in den Sagengeschichten und Chronikbüchern zu lesen. Ich wollte Soldat und Krieger werden und begriff gar nicht, warum Mutter immer sagte, ich solle Pfarrer werden. Und dann eines Abends, als ich sie danach fragte, strich sie mir über das Haar und sagte: »Weil ich glaube, daß das Gottes Bestimmung mit dir ist, mein Junge!« Ich entsinne mich noch deutlich des sonderbaren Eindrucks, den diese Worte auf mich machten. An jenem Abend las ich zum erstenmal aus eigenem Antriebe in der Bibel.«

»Ja, Mutter hat ja einen großen Einfluß auf dich gehabt, das weiß ich.«

»Und dann ein anderes Mal . . . Mutter hatte Besuch von dem alten Pastor Hagensen, der ihr Freund war. Ich denke mir, sie haben beisammengesessen und darüber geredet, ob man den Beruf der Kinder bestimmen dürfe oder dergleichen . . . ich weiß es nicht genau. Aber schließlich zeigte Mutter auf mich und sagte: »Nach welchem Beruf sieht Ihnen denn mein Sohn aus?« Ich mußte ganz nahe zu dem alten Mann herangehen; er faßte mich unters Kinn, und als er mich eine Weile angesehen hatte – ich weiß es noch so deutlich, als sei es gestern geschehen – da legte er seine Hand auf meinen Kopf und sagte: »Du wirst sicher ein Mann der Kirche, davon bin ich überzeugt.« Ich war damals nicht mehr als dreizehn Jahre alt.«

»Aber wie kommst du dazu, gerade heute an diese Dinge zu denken, Emanuel?«

»Was sagst du?«

Er erhob den Kopf und sah sie überrascht an. Er hatte allmählich ganz vergessen, mit wem er sprach:

»Ach ja,« sagte er und legte den Kopf wieder still in die Hand. »Ich will dir etwas sagen, Betty . . . so viele Jahre ist es also her, seit ich die Weihe empfing. Von Kindheit an ist mein Lebensweg gleichsam vom Schicksal bestimmt gewesen. Und doch habe ich bis heute morgen Zweifel empfunden, ob ich auch wirklich berufen sei.«

Betty ließ ihr Strickzeug in den Schoß sinken.

»Berufen?« sagte sie. »Ich verstehe dich nicht . . . Was meinst du damit, Emanuel?«

»Wirklich berufen, meine ich. Von Gott berufen . . .«

Betty schüttelte den Kopf.

»Ich verstehe dich nicht.«

»Ach ja, du weißt doch, daß ich nie zu denen gehört habe, die glauben, daß Talar und Kragen einen Mann zum Geistlichen machen, oder daß ein Examen als Gottes Einwilligung gelten kann, in seinem Namen zu reden. Und doch habe ich erst spät so recht verstanden, wie sich Gott seine Diener selbst erwählt . . . sie durch harte Prüfungen zu Vollziehern seines Willens heranzüchtigt. Erinnerst du dich noch, Betty, daß ich dir vor einiger Zeit eine Sage erzählte, die ich damals gerade gelesen hatte? Sie handelte von einem frommen Mann im Judenland, der sein ganzes Leben lang Gott demütig gesucht hatte und auf seinen Wegen gewandelt war – den Kindern der Welt zum Ärgernis. Und doch schlug ihm der Herr eine Wunde nach der anderen, bis er hier im Leben heimatlos war, wie die Vögel auf dem Meere. Und da verstand, erst jetzt verstand er Gottes Willen mit ihm, und er ging in den Tempel, wo der Herr ihm erschien und ihm gebot, das Urteil über das ungehorsame Volk zu verkündigen. – An die Erzählung habe ich seither oft gedacht . . . Ich finde, sie ist ein Spiegel meines eigenen Lebens. Ich fühle es jetzt . . . auch mich hat Gott lange vergebens gerufen. Auch mir hat er mit seiner züchtigenden Hand alles entreißen müssen . . . alles, selbst meine letzte Zuflucht jetzt, bis ich den Mut fand, ihn ganz zu verstehen.«

»Was sagst du? Hat deine – –?«

»Ja, Betty, jetzt bin ich auch heimatlos hier auf Erden, wie eine Möwe des Meeres. Ich habe keine Frau mehr, kein Heim mehr. Ich bin allein mit meinen Kleinen.«

Das Strickzeug war von Bettys Schoß herabgeglitten. Sie faltete die Hände vor der Brust und sah den Bruder mit entsetztem Blick an.

»Und das . . . das nennst du berufen?«

Emanuel nickte.

»Ja, ich fühle es. Gott hat mich jetzt gefordert . . . ganz und gar . . . Und ich habe mein Leben in seine Hand gelegt.«

Sie saßen einen Augenblick schweigend da. Betty neigte den Kopf und ließ die Hände in den Schoß sinken; – jetzt, wo sie Gewißheit erhalten hatte, brach sie kraftlos zusammen. Aber auch Emanuel vermochte sich nicht länger zu beherrschen. Seine großen, unbeweglich vor sich hinstarrenden Augen standen voller Tränen, und seine Rede klang wie ein mühselig unterdrücktes Weinen, als er fortfuhr:

»Es ist ja auch sonderbar für mich. Denn . . . ja, jetzt kann ich es sagen . . . ich habe immer gefühlt, daß Gott eine Absicht mit mir und meinem Leben hatte. Es war kein Hochmut. Ich habe mich nie weder für größer noch für besser gehalten als die anderen. Im Gegenteil! Aber Christus hat es selbst gesagt: »Meine Kraft ist mächtig in den Schwachen!« Und doch! Jetzt, wo es geschehen ist, begreife ich nicht, daß mich Gott für würdig erachtet hat. Heute morgen . . . heute morgen, als er mich zu sich hinausrief, und ich aus meinem Bett aufstand . . . und als ich mich dann da draußen auf den hohen Feldern von Angesicht zu Angesicht mit meinem Vater befand . . . es war, als werde ich zu Boden gedrückt von der Macht seines Geistes, und ich hatte nicht den Mut, meinen Blick zu dem seinen zu erheben. Aber er sah meine Furcht und nahm mich an sein Herz –«

Er hielt inne. Die Gemütsbewegung war nahe daran, ihn zu übermannen. Die Erinnerung an die kürzlich ausgestandene Todesangst machte seine gebrochene Stimme erbeben. Er zitterte wie vor Kälte, und die Tränen netzten seine Wangen.

Sie saßen wieder eine Weile schweigend da.

»Was denkst du denn jetzt zu tun, Emanuel?« fragte Betty.

»Ich will die Arbeit ausführen, die Gott mir zu tun gibt. Weiter weiß ich nichts. Mein Wille ist in seiner Hand.«

»Aber was willst du denn? Denkst du daran, wieder Geistlicher zu werden. Oder was willst du?«

»Ich weiß es nicht.«

»Willst du etwa reisen? Als Laienprediger herumziehen? . . . Und die Kinder?«

»Ich weiß es nicht. Aber ich habe Gott um ein Zeichen gebeten, damit ich bereit sein kann.«

Betty konnte sich nicht länger beherrschen. In einem Ausbruch wilden Entsetzens warf sie sich dem Bruder um den Hals und rief:

»Emanuel! Emanuel! Komm doch zu dir! höre mich doch! Du weißt nicht, was du sagst. – – Nein, nein, du sollst nicht sprechen. Du mußt mich anhören, ich bin doch deine Schwester! Es ist entsetzlich! Emanuel . . . Du mußt zur Vernunft kommen – hörst du? – du mußt an die Zukunft denken, an die Kinder, an uns alle. Sieh doch! Du weißt nicht, welchen Tag du auf der Straße stehst, ohne Dach über dem Kopf, ohne einen Bissen Brot für deine Kinder. Vater will dir nicht mehr helfen . . . und kann es auch nicht. Mir wird es schwer genug, mich allein durchzuschlagen. Du weißt, wie wenig Torm hinterlassen hat. Was willst du nur einmal anfangen? Stürze uns doch nicht alle ins Unglück, Emanuel! . . . Nein, du sollst nicht reden! Jetzt mußt du einmal die Wahrheit anhören! Hast du uns nicht schon Kummer genug bereitet? Ist es nicht deine Schuld, daß Vater krank und verzweifelt ist? Wir sind alle um deinetwillen verzweifelt, Emanuel! Weißt du, daß ich Vater über dich habe weinen sehen? Daran solltest du denken! Seit mehr als zehn Jahren haben wir in Angst um dich gelebt. Ist das denn nicht genug! Sollen wir denn nie ohne Schande an dich denken können? . . . Ach, Emanuel, wenn du nur wüßtest – –«

Sie vermochte nicht weiter zu reden. In einem Anfall krampfhaften Schluchzens sank sie an des Bruders Brust zusammen.

Emanuel ließ sanft seine Hand mehrmals über ihr Haar gleiten.

»Ruhig, Schwester! Ruhig! Du bist nicht gut gegen dich selbst! . . . Und warum willst du dich an mir ärgern? Sag' mir doch, hat uns nicht Christus den Weg zur ewigen Freude gezeigt . . . er, der nicht so viel haben wollte, daß er sein Haupt darauf legen konnte!«

»Ach – wie du redest!« unterbrach ihn Betty in aufflammendem Zorn und richtete sich wieder auf. »Das ist vermessen! Meinst du, Gott hat dir Haus und Heim und Familie gegeben, damit du das alles zerstören sollst? Hat er dir Weib und Kinder gegeben, damit –«

Sie konnte nicht ausreden. Emanuel legte die Hand auf ihren Arm und sah sie bekümmert an.

»Betty – wäre es dir nicht vielleicht dienlicher, wenn du mit dir selbst ins Gericht gingest, ehe du andere anklagst? Auch dich hat ja der Herr heimgesucht! Glaubst du nicht, daß er bei dir etwas gewollt hat, als er mit der kalten Hand des Todes an deine Tür pochte? Glaubst du nicht, daß er kam, um zu fragen, ob du jetzt für ihn zu Hause seiest . . . für ihn allein? Schließe dein Herz einmal auf! Siehe, Gott hat dir dein Kind und deinen Mann genommen, dazu Reichtum, Ehre, Ansehen und die Bewunderung der Welt . . . hast du wohl daran gedacht, ihm dafür zu danken? Hast du erkannt, daß er also eine Last nach der anderen von dir genommen und dir liebevoll den Weg zu seinem Vaterherzen bereitet hat? Wenn nicht, dann ist es Zeit, daß du vor dir selber erschrickst! Es hat Eile, Betty! Merkst du es nicht? Der Tag des Gerichts ist nahe! Siehst du nicht, wie alles schwankt, daß die Welt in Auflösung begriffen ist? Gott hat seinen Segen von der Menschheit genommen und die Dämonen regieren wie die Würmer im Aas. Gehen nicht die Laster schon nackend auf den Straßen? Hat nicht der Hochmut und die Rachsucht alle Gemüter vergiftet? Siehst du nicht, wie sich ein Stand gegen den anderen auflehnt, ein Volk gegen das andere . . . Der Haß hat das Land zu Flammen entzündet, und der Blutdurst brüllt aus den Mündern der Kanonen. Ja, selbst in Gottes eigenem Hause, in Christi eigener, blutgetaufter Gemeinde ist sein Geist landflüchtig. Selbstgerechtigkeit und Eingebildetheit führen einen Streit um den Hochsitz der Kirche. Wahrlich, ich sage dir – der Tag des Herrn ist nahe! Wehe dem, den er verstößt!«

Er hatte sich aufgerichtet und drohend die Hand zum Himmel erhoben. Aber plötzlich schlug seine Stimme um; der Arm sank herab, und er sagte – milde, halb versöhnend:

»Schwester! Gib mir die Hand! Jetzt willst du mich nicht hören – aber auch deine Zeit wird kommen, das glaube ich zuversichtlich. Aber du wirst einstmals mit Entsetzen das Wort verstehen, daß, wer sein Leben geliebt hat, es verlieren soll. Ich kenne deine Seele, Betty. Du wirst mir schon nachfolgen . . . Gib mir die Hand darauf!«

Sie tat, um was er sie bat. Als er aber gegangen war, ging sie in den Nußgang hinein, wo niemand sie sehen konnte, und rang verzweifelt die Hände.

* * *

Sigrid und die kleine Dagny saßen unten am Strande und spielten, als sie – kurz vor Tische – zu dem Vater hineingerufen wurden, der sie zu ihrer Verwunderung in die Höhe hob und sie einmal über das andere bewegt auf Wangen und Augen küßte. Doppelt überrascht waren sie, als er nach dem Mittagessen zu ihnen sagte, sie sollten sich anziehen und ihn auf einem Spaziergang begleiten, – so etwas war ihnen noch nicht vorgekommen, solange sie denken konnten. Als sie schon mit den Helgoländerhüten dastanden, wollten sie kaum glauben, daß sie ihn recht verstanden hatten. Aber Emanuel nahm sie bei der Hand, und sie gingen über die Felder zu den großen grünen Wiesen hinaus, wo sie am Ufer des Baches Blumen pflückten und die Spiegelbilder der Wolken und der Vögel tief unten in dem blanken Wasser betrachteten.

Es war in ihm ein Verlangen emporgequollen, noch einmal die Luft des Lebens in vollen Zügen einzuatmen, ehe seine Stunde schlug. Er hatte es sich selbst gesagt, daß er die Frist, die Gott ihm noch vergönnte, wohl dazu anwenden dürfe, die Freuden des Friedens mit seinen Kleinen zu genießen, bis die Drangsalstage kamen. Die würden sicher bald kommen. Und er war völlig darauf vorbereitet, daß von dem Tage an, wo Gottes Stimme durch seinen Mund über die Welt geschallt war, seine Tage in einem nie ruhenden Kampf aufgezehrt würden, der schließlich sein Leben forderte.

In seinem langschößigen Rock und seinem flachen Hut ging er nun hinaus, summte eine Melodie vor sich hin, pflückte Wiesenblumen oder lauschte den Lerchen, die tirilierend unter der blauen Himmelswölbung stiegen und sanken. Schließlich setzte er sich mit den Kindern an den Bach und flocht ihnen Blumenkränze, während er ihnen von den kleinen Elfen erzählte, die unten im Kelche der Blüten Tau brauten und Honig siedeten; und obwohl Dagny bei seiner Erzählung schnell einschlief, und auch Sigrid sich nicht zu amüsieren schien, merkte er das nicht, so sehr hatte ihn das kindliche Spiel allmählich selbst gefesselt.

Geduldig das schlummernde Kind auf seinem Arm tragend, während die unermüdliche Sigrid sich an seinen Rockschoß hängte, kehrte er erst nach Verlauf von mehreren Stunden nach Hause zurück.

Kurz darauf stand er einsam am Strande, ganz hart am Wasser und sah auf das Meer und den Himmel hinaus. Mit einer eigenen zitternden Wehmut, die der Gedanke an die nahe bevorstehende Abschiedsstunde hervorrief, beobachtete er seine alten Freunde, die silberweißen Möwen und folgte mit dem Blick der tief eingeschnittenen Küste des Landes und den hohen sonnenbeleuchteten Ufern zu beiden Seiten. Er war so überwältigt von der Schönheit des Strandes an diesem Nachmittag, namentlich so hingerissen von dem feinen Farbenschimmer, in dem alles gebadet lag, daß ihm die Tränen in die Augen traten. Nie hatte ihn der Anblick der Natur entzückt, wie in diesen Augenblicken. Nie hatte ihre Schönheit sich ihm so deutlich als Abglanz der himmlischen Herrlichkeit offenbart. Und er kannte sehr wohl den Grund dafür. Seine Seele hatte sich endlich über die Vergänglichkeit emporgeschwungen. Zum erstenmal in seinem Leben betrachtete er die Welt mit den Augen dessen, der sie überwunden hat. Zum erstenmal sah er das Irdische durchschimmert von dem Strahlenglanz des Ewigen. – O, seufzte er, wenn die Menschen doch nur die Sinne der Seele auftun wollten, da läge das Himmelreich offen vor ihrem Blick, wo sie auch sein mögen. Da tönte der Engel Gesang durch die Luft, und jeder Laut würde ein Widerhall der schönen Harmonien der Ewigkeit!

»Guten Tag,« erklang eine Stimme hinter ihm.

Er wandte sich um. Da oben am Strande stand Fräulein Ragnhild in ihrem großen Hut, von ihrem Gürtel hing ein Fächer herab.

»Guten Tag,« wiederholte sie – offenbar nicht ganz so kühn – da Emanuel weder grüßte noch antwortete. »Es tut mir leid, daß ich Sie stören muß. Aber Sie müssen mir wirklich sagen, was Ihrer Schwester fehlt. Ich komme eben aus Ihrem Hause, und das Mädchen sagte mir, Betty habe sich hingelegt und könne niemand empfangen. Sie ist doch nicht krank? Sie hat schon in den letzten Tagen schlecht ausgesehen. Ich bin ganz besorgt um sie.«

Emanuel blieb noch einen Augenblick stehen, ohne zu antworten. Er war bei ihrem Anblick von einem tiefen Erstaunen ergriffen; es erschien ihm so lange – so unendlich lange, seit er zuletzt an sie gedacht hatte. Der Versuchung, in der ihre Erscheinung ihn solange gefangen gehalten, gedachte er nur noch als eines fernen, bösen Traumes. Ja, jetzt war er befreit! Erloschen war der Brand des Fleisches, der ihn verzehrt hatte . . . nein, nicht erloschen, sondern verwandelt, verherrlicht, aufgenommen in die große, bekümmerte Nächstenliebe, die seine Seele jetzt ganz erfüllte.

»Seien Sie ohne Sorge,« sagte er, indem er sich ihr langsam näherte. »Ich glaube im Gegenteil, daß Betty nun auf bestem Wege ist, gesund zu werden.«

Sein Gesicht war von finsterem Ernst. Nur in den Augen lag noch gleichsam ein Widerschein des himmlischen Lichts, das er eben geschaut.

»Aber wie geht es denn eigentlich Ihnen selber, Fräulein Tönnesen?« fragte er dann.

»Mir? Ach danke . . . wie es einem so gehen kann,« erwiderte sie mit angestrengter Lebhaftigkeit, und da er nun so nahe an sie herangekommen war, daß sie seinen Atem spüren konnte, fing sie an, ihren Fächer zu gebrauchen. – »Ich esse gut, schlafe gut, gedeihe gut . . . was kann man da weiter verlangen?«

»Wahrlich – Sie sind genügsam, Fräulein Tönnesen! Ich fragte übrigens nicht nach dem Wohlergehen des Fleisches.«

»Nun ja – wollen Sie dann also die Güte haben, Betty von mir zu grüßen? Ich muß nach Hause, Herr Pastor!«

»Fräulein Tönnesen,« sagte Emanuel, als sie sich schon eine Strecke entfernt hatte. »Darf ich nicht einen Augenblick mit Ihnen reden? . . . Wollen Sie mir erlauben, Ihnen Gesellschaft zu leisten?«

Sie blieb stehen. Ihr Busen wogte.

»Freilich können Sie mich begleiten. Aber nur bis an die Gartenpforte! Ich halte streng auf die Form, wie Sie wissen!«

»Was ich Ihnen heute zu sagen habe, läßt sich in wenig Worte fassen.«

Sie waren eine Weile am Strand entlang gegangen, als Emanuel begann: »Sagen Sie mir, Fräulein Tönnesen . . . meinen Sie nicht auch, daß wir beide noch eine Abrechnung miteinander abzumachen haben?«

»Eine Abrechnung? . . . Ich kann mir nicht denken, was das sein könnte.«

»Sie entsinnen sich gewiß noch einer sternenklaren Winternacht vor anderthalb Jahren, als wir zusammen aus einer Gesellschaft kamen, von einem üppigen Gastmahl, dessen leichtfertiger Luxus – davon bin ich überzeugt – die Engel im Himmel zum Weinen gebracht hat.«

»Aber, du lieber Gott, was für eine Gesellschaft war denn das nur?«

»Können Sie sich dessen wirklich nicht mehr erinnern?«

»Sie meinen doch nicht etwa die letzte Geburtstagsgesellschaft Ihres verstorbenen Schwagers? Ich entsinne mich jetzt, daß Sie mich damals absolut nach Hause begleiten wollten, obwohl ich Sie dringend bat, sich keine Mühe zu machen.«

»Ja, freilich, den Abend meine ich.«

Fräulein Ragnhild machte ihrer Unruhe in einem kleinen, nervösen Gelächter Luft.

»Sie bleiben sich doch immer gleich, Herr Hansted! Wie können Sie nur auf den Einfall kommen, die kleine unschuldige Gesellschaft mit so schrecklichen Farben auszumalen. Sie war ja ganz einfach und bestand ausschließlich aus der Familie. Sie waren bei Generalkonsuls ja noch in Trauer um den kleinen Kaj. Wenigstens entsinne ich mich, daß alle Damen in Schwarz waren, ich auch.«

»Ja – Sie auch. Und über der schwarzen Seide schimmerten die weißen Schultern.«

»Herr Hansted, Sie vergessen sich,« sagte sie vornehm-tadelnd. – »Wie kommen Sie übrigens dazu, an so gleichgültige alte Geschichten zu denken?«

»Ja, Fräulein Tönnesen – ich will Ihnen sagen – ich schließe heute meine Abrechnung ab.«

»Aber mir schulden Sie nichts,« unterbrach sie ihn schnell. »Nicht einmal eine Erklärung.«

»Ja. Gerade die schulde ich Ihnen. Ich schulde Ihnen viel mehr, als Sie vielleicht ahnen. Jetzt kann ich es Ihnen ja sagen – ja, jetzt ist es meine Pflicht, es Ihnen zu sagen – an jenem Abend hat Gott über mein Schicksal entschieden. Und Sie, Fräulein Tönnesen, waren das Werkzeug in seiner Hand.«

Er blieb stehen und betrachtete sie mit einem brennenden Blicke, der von heiligem Eifer leuchtete.

»Wollen Sie mir sagen« – fuhr er fort – »hatten Sie damals selbst diese Empfindung?«

»Ich verstehe gar nicht, was Sie meinen«, sagte sie in wachsender nervöser Unruhe und beschleunigte ihre Schritte.

»Ach ja, Sie verstehen mich gewiß ganz gut. Und sehen Sie, jetzt will ich offen zu Ihnen reden, Fräulein Ragnhild. Ich habe mir gedacht, daß jetzt vielleicht die Zeit gekommen sei, wo ich es Ihnen vergelten könnte. Jetzt sind ja auch Sie allein geblieben. Derjenige, der bisher Ihr Begleiter hier war, ist abgereist. Vielleicht kann ich jetzt ein wenig Gehör erlangen. – Ja, nun sehen Sie so ungeduldig aus. Ich weiß es wohl, . . . ich mißfalle Ihnen. Aber das tut nichts. Wenn ich nur zu Ihrer Seele Zutritt erlangen kann. Und das werde ich schließlich schon erreichen. Wenn nicht jetzt, wenn auch nicht heute oder morgen, so doch, wenn meine Stunde schlägt.«

»Ich glaube nicht, daß es einen Zweck hat, wenn wir über diese Dinge reden, Herr Hansted. Sie wissen, wir denken so verschieden, daß –«

»Ach ja, es wird schon einen Zweck haben . . . es wird schon einen Zweck haben! Und ich werde Geduld haben!«

»Ja – verzeihen Sie – aber nun sind wir an der Gartenpforte angelangt. Und hier wollten wir uns ja trennen. Also – adieu.«

»Fräulein Tönnesen! Nur noch ein Wort! . . . Nur noch ein einziges kleines Wort!«

»Was haben Sie denn nur?« – Sie sah ihn von der Seite mit einem halb zornigen, halb scheuen Blick an.

»Sind Sie mir böse?«

»Wie kommen Sie nur darauf?«

»Warum geben Sie mir denn nicht die Hand zum Abschied? . . . Wollen Sie es nicht tun? . . . Wollen Sie es nicht tun . . . Ich bitte Sie darum!«

Ragnhild war sehr bleich geworden. Sie kämpfte einen kurzen Kampf mit sich selbst. Es war, als gehe von seiner demütig ausgestreckten Hand eine Macht aus, der sie nicht widerstand.

»Sie sind ein Kind«, sagte sie und reichte ihm gesenkten Hauptes die Hand. »So – ist es nun gut?«

Aber Emanuel behielt die zitternde Hand zwischen seinen Händen und sagte gedämpft, mit leidenschaftlich bewegter Stimme:

»Fräulein Ragnhild! Jetzt sind Sie die meine! Jetzt lasse ich Sie nicht wieder! . . . Hören Sie? Ich lasse Sie nicht, ehe Sie ein Kind Gottes geworden sind! . . . O nein, sehen Sie mich nicht so erzürnt an! Ich bitte Sie, ich flehe Sie an, schenken Sie mir Ihre Seele, daß auch wir beide in der Wonne der Seligkeit um den Thron meines himmlischen Vaters vereint werden können! Ragnhild – meine Schwester!«

Mit einem heiseren und gebietenden: »Gehen Sie!« entrang sie ihm heftig ihre Hand und eilte in den Garten hinein.

* * *

Als Emanuel bald darauf nach Hause kam, erzählte das Mädchen ihm, daß der Mann, der ihn bereits zweimal vergebens aufgesucht habe, jetzt wieder gekommen sei und in seinem Zimmer auf ihn warte. Bei seinem Eintritt erhob sich eine Gestalt von dem harten Roßhaarsofa, das ganz einsam an der langen inneren Wand stand. Aber in seiner überspannten Gemütsverfassung mußte er sie ziemlich lange anstarren, ehe er Weber Hansen erkannte. Das Mißgeschick der letzten Zeit war auch nicht spurlos über diesen geprüften Mann hingegangen. Wie er so dastand, den Kopf auf der Seite und so tat, als sei er ein wenig verlegen und wisse nicht so recht, ob er die Hand reichen dürfe oder nicht, glich er nur wenig dem Bilde, das Emanuel von seinem alten, unversöhnlichen Gegner bewahrt hatte.

Wenn Emanuel jemals Groll gegen einen Menschen gehegt hatte, so war es dieser Mann. Sein Blut hatte ins Sieden geraten können, wenn er an die versteckte Feindschaft dachte, mit der der Weber in jedes kleine Feuer der Zwietracht hineingeblasen hatte, das in seiner alten Gemeinde entstanden war, – an die Schonungslosigkeit, mit der er ihn persönlich verfolgt hatte, als der Streit schließlich auf seine Anstiftung hin in helle Flammen ausgebrochen war. Es erwachte deswegen jetzt beim Wiedersehen ein Bedürfnis in ihm, Buße zu tun, weil er solange lieblose Gefühle für jemand empfunden hatte, der doch sein Nächster, sein Bruder, ein Gotteskind war, so wie er selbst.

»Willkommen sollst du sein!« rief er aus und reichte ihm freundlich die Hand. »Du kommst, als seiest du gerufen!«

»Gerufen?« fragte der Weber und spitzte die Ohren.

»Ach ja – du verstehst es noch nicht! Du weißt nicht, lieber Freund, daß sich zwischen mich und die Vergangenheit gleichsam ein Schleier herabgesenkt hat. Jetzt sehe ich nur dem Zukünftigen entgegen. Komm – setz dich! – wir wollen zusammen reden!«

Der Weber saß eine Weile da und rieb den Hut mit seinem Rockärmel, als bedrücke ihn die Veranlassung zu seinem Besuch, als werde es ihm schwer, eine passende Einleitung zu finden. Sie sprachen einige Minuten über die Verhältnisse in Vejlby und Skibberup, und nachdem auch die bevorstehende Freundesversammlung in der Sandinger Hochschule zwischen ihnen berührt war, sagte er endlich:

»Ja, denn will ich dir man geradeheraus sagen, daß ich schon lange . . . gar nicht zufrieden gewesen bin . . . will ich dir sagen . . . über den Entwicklungsgang da bei uns in der letzten Zeit, so was die geistlichen Sachen anbetrifft. Ich kann auch wirklich nich anders glauben, als daß manch ein Christenmensch sich so recht von Herzen betrübt fühlen muß über all die babylonische Verwirrung, die wir nu in unserer Kirche erlebt haben. Alle liegen sie sich um unserer Seelen Seligkeit in den Haaren. Siehst du, grade all diese Zwietracht hat mir das Herz so lange bedrückt, daß ich manch liebes Mal denk', ich kann es nich verstehen, was da zu guter Letzt noch aus werden soll.«

Emanuel nickte.

»Da redest du ein wahres Wort, Jens Hansen!«

»Nu hab' ich gerade in der letzten Zeit, in Veranlassung von dieser Freundesversammlung so viel da über nachgedacht, ob nich bald der Mann kommen wird, der so mit der rechten Macht des Geistes die zersplitterten Teile von der Gemeinde Gottes in unserm Lande sammeln könnt! Und darum bin ich nu hier zu dir hergekommen, um dir geradeheraus zu sagen, wovon ich nu ganz fest überzeugt bin, – daß du der Mann bist, Emanuel!«

Es zuckte ein geheimes, halb qualvolles Lächeln um Emanuels Mund.

»Warum glaubst du das so sicher, Jens Hansen?« sagte er.

»Ach ja – ich hab' ja auch gehört, was hier in der letzten Zeit vor sich gegangen is. Ich weiß nu, wie ich mich damals ganz in dir geirrt habe, weil ich dich nich auf die rechte Art verstanden hab', will ich dir sagen! . . . Aber übrigens hatt' ich neulich auch so ne sonderbare Erklärung, oder wie man es nu nennen will – da war wie so 'ne Stimme in mir, die sagte, ich sollte . . . ich sollte hier 'rüberfahren un mit dir reden . . .«

»Eine Stimme, sagst du?«

»Ja . . . so 'ne inwendige Stimme, die ich seither nich' wieder hab' los werden können . . . Immer wieder hat sie mich gemahnt und ich konnt' keine Ruh' finden, ehe ich nich' herübergefahren bin, um mit dir zu reden. Es war, als wenn da 'ne ganze Bedeutung in lag. Jedesmal, wenn ich mit Bekümmerung an diese Freundesversammlung gedacht hab', denn war es, als wenn einer zu mir sagt: Emanuel, der is der Mann, der hat die Macht! – –«

Emanuel hörte nicht mehr nach ihm hin. Er hatte sich in heftigster Gemütsbewegung vornübergebeugt.

Das Zeichen! dachte er, während die Schauer einer heiligen Weihe ihn durchrieselten.



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