Henrik Pontoppidan
Das gelobte Land
Henrik Pontoppidan

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Zweites Buch.
Das gelobte Land

Erster Teil

Oben auf den hochgelegenen Äckern nördlich von Vejlby ging ein Mann und pflügte. Es war eine hochgewachsene Gestalt in einem Kittel aus grober Sackleinwand, mit roten Müffchen um die Handgelenke und plumpen Schaftstiefeln, aus denen die Strippen zu beiden Seiten der von den Hosen gebildeten Kniebeutel aufragten. Auf seinem Kopf saß ein verschossener Plüschhut, unter dessen breitem Rande das lange, von Sonne und Wind gebleichte Nackenhaar herunterhing, und über die Brust herab wogte ein großer, blonder Bart, der zuweilen vom Wind über die eine Schulter geführt wurde.

Sein Gesicht war mager, die Stirn schmal und über den Schläfen tief eingesunken, die Augen waren groß, hell und sanft.

Ungefähr zehn Ellen über seinem Kopf kreiste eine Schar Krähen, von denen bald das eine, bald das andere Paar sich in die frischgepflügte Furche hinter ihm niederließ, und eine Weile ihm beinahe auf den Fersen folgte, indem sie nur vorsichtig ein wenig zur Seite hüpften, sobald er mit einem Ruck der Zügel den bedächtigen Gang seiner beiden mageren und sich schwer vornüberbeugenden Pflugpferde zu beschleunigen suchte.

Dieser Mann war der Gemeindepfarrer von Vejlby und Skibberup – Emanuel, wie er sich recht und schlecht von seinen Pfarrkindern nennen ließ, »der moderne Apostel« wie einige weniger freundlich gesonnene Kollegen in den benachbarten Kirchspielen ihn spöttischerweise zu nennen pflegten. Trotz der Kleidung und dem ungepflegten Haar und Bart war es auch leicht zu sehen, daß er kein gewöhnlicher Bauer war. Dazu war seine Gestalt zu schlotterig, die Schultern zu schmal und abfallend. Die Hände waren wohl blaurot geschwollen, doch hatten sie nicht die unverhältnismäßige Größe, die sie bei Leuten zu bekommen pflegen, die von Kindesbeinen an mit schweren Lasten sich haben tummeln müssen. Auch hatte das Gesicht nicht die richtige, einfarbig dunkle lederartige Bauernhaut, sondern war rotfleckig und mit kleinen, weißen Punkten übersät.

Es war ein naßkalter Vormittag zu Anfang März. Stoßweise führte der Wind unzusammenhängende Nebelmassen über das Land hin. In dem einen Augenblick war die Gegend in einen wollgrauen Dampf eingehüllt, der so dicht war, daß man nicht von dem einen Acker nach dem andern hinüberzusehen vermochte, im nächsten Augenblick konnte dann ein einziger Windstoß die Dünste vertreiben und nur einen niedrigen Rauch an den Ackerfurchen entlang hinterlassen, während sich ein bleiches Sonnenlicht langsam zwischen den schweren und schwarzen Wolken des Himmels hindurchdrängte. Dann konnte man von dem hochgelegenen Pfarracker das ganze Kirchspiel bis zu der einsamen Fjordkirche übersehen, die fern im Süden auf ihrer steilen Landzunge wie ein Nebelgespenst aufragte. Ein wenig näher und ein wenig westlicher erhoben sich die drei dunklen Erdhügel von Skibberup, und über ihnen blitzte ein kleiner, ziegelroter Lichtpunkt auf, der die Stelle bezeichnete, wo ein gezackter Giebel von dem neuen und großen Versammlungshaus dieser Gegend sonnenbeschienen über den Hügelkamm hervorlugte.

Emanuel war zu sehr in Anspruch genommen von seinen Gedanken, um sonderlich Acht zu geben auf diesen unruhigen Wechsel im Aussehen der Landschaft. Selbst wenn er hin und wieder stehen blieb, um die Pferde ein wenig verschnaufen zu lassen, glitt sein Blick über die Gegend hin, ohne zu sehen. Erst gegen Mittag ward er geweckt durch das Geräusch einer kleinen Menschenkarawane, die sich auf dem Feldwege vom Dorfe her näherte.

Voran ging ein kräftig gebautes, kleines Mädchen von vier, fünf Jahren, die mit Hilfe eines Strickes, den sie über die eine Schulter gelegt hatte, einen alten Korbwagen zog, in dem ein kleines Mädchen lag. Infolge der Anstrengung, die es sie kostete, den Wagen durch den tiefen Weg zu ziehen, war ihr die Kappe über ihr zerzaustes, gelbbraunes Haar in den Nacken geglitten, und jeden Augenblick mußte sie den Strick mit der einen Hand loslassen, um ihre roten Strümpfe, die beständig über die Holzschuhe herabglitten, wieder in die Höhe zu ziehen. Von hinten wurde der Wagen von einem andern Kinde geschoben, von einem Knaben, der eine gestrickte Mütze tief über den Kopf gezogen hatte und dessen eine Wange ein großes Wattenstück bedeckte, das unter die Ohrenklappe der Mütze geschoben war. Ein junges und aufrechtschreitendes Bauernweib beschloß den Zug. Sie ging ein Stück hinter den anderen drein, ganz hart am Wegrande und hatte den Kopf in ein geblümtes Tuch gehüllt, dessen Zipfel im Winde klatschten. Ohne die Augen von dem Strickzeug zu erheben, das sie in den Händen hatte, kam sie daher, eine Melodie vor sich hinsummend, von der sie hin und wieder – und gleichsam in Gedanken – einige Töne ganz laut sang.

Es war Hansine mit ihren drei Kindern – Emanuels ganze Familie.

Als die Karawane bis an das Ende des gepflügten Ackers gelangt war, ließen die Kinder den Wagen stehen und setzten sich auf einen Stein am Wege, von wo aus sie den Vater betrachteten, der gerade auf dem Wege zu ihnen hin war, vom anderen Ende des Ackers her. Sie waren beide ganz blau vor Kälte im Gesicht und naß unter der Nase. Wie sie so dasaßen mit ihren verschlissenen Holzschuhen und geflickten Kleidern, glichen sie überhaupt ganz der Straßenjugend des Dorfes. Niemand würde leicht auf den Gedanken kommen, daß sie zu dem palastartigen Pfarrhause gehören konnten, dessen rotes Ziegeldach und hoher Pappelpark sich da unten über den schiefergedeckten Bauerhöfen des Dorfes erhob.

Schon von weitem hatte Emanuel sie begrüßt, indem er munter seinen großen Hut über dem Kopf schwang, und als er nun an das gepflügte Erdreich ungefähr zwanzig Ellen vom Wege her, gelangt war, hielt er seine dampfenden Pferde an und fragte:

»Was Neues, Hansine?«

Hansine war draußen auf dem Wege stehen geblieben, wo sie mit dem einen Fuß den Kinderwagen in einer leisen hin und her gehenden Bewegung hielt, um die Kleine zu beruhigen, die ungeduldig geworden war, weil das Fahren aufgehört hatte. Sie zählte die Maschen auf ihrer Stricknadel und antwortete darauf in ihrem unverfälschten Bauerndialekt:

»Ne, nich, daß ich weiß . . . Ja, das is wahr, der Weber war erst da. Er wollt' dich sprechen, sagt' er.«

»So?« sagte Emanuel zerstreut und sah zurück auf das Feld, um mit dem Auge das Stück zu messen, das er gepflügt hatte. »Was hatte der denn auf dem Herzen?«

»Ja, da hat er nichts nich von gesagt. Ich sollt' bloß sagen, ob du nich heut nachmittag um drei Uhr zu einer Versammlung bei dem Schulzen kommen wollt'st.«

»Ach so,« lachte Emanuel. »Ja, er hat ja so seine Eigenheiten . . . Du, Hansine!« unterbrach er sich selbst, in verändertem Ton. »Weißt du wohl noch, daß ich dir von dieser neuen Düngermethode erzählt habe, von der ich vor einiger Zeit in der Landwirtschaftlichen Zeitung gelesen habe. Je mehr ich darüber nachdenke, um so vortrefflicher, meine ich, muß sie sein. Eigentlich ist es ja auch viel natürlicher, – nicht wahr? – den Dung so im frischen Zustand hinauszufahren und ihn gleich unterzupflügen, statt ihn in diesen Dunggruben zu sammeln, wo so viel von der besten Kraft verduftet und obendrein die Luft um unsere Wohnungen herum verpestet. Weißt du wohl noch, da stand in dem Blatt, das Land verlöre alljährlich wenigstens sechs Millionen durch unsere Dunggruben. Denk' dir Hansine – sechs Millionen! Das wäre wahrlich ein hübsches Stück Geld, wenn man das gewinnen könnte, und es würde uns gerade in Zukunft, wo wir hier zu Lande sicher manchen alten Schaden wieder gutzumachen haben, sehr zustatten kommen. – Etwas habe ich aber doch nicht so recht verstehen können, nämlich, daß man nicht schon längst etwas so einfaches hat ausfindig machen können, . . . denn im Grunde liegt es ja doch so klar auf der Hand, nicht wahr? Aber weißt du, woran ich heute habe denken müssen? . . . ja, wovon ich beinah' ganz fest überzeugt bin? Ich glaube, diese Dunghaufen die haben die Bauern in alten Zeiten aus purer und trauriger Notwendigkeit angelegt, ganz einfach als eine Folge des Frondienstes, in dem sie sich den Herrensitzen gegenüber befanden, – verstehst du? Da sie allzeit zuerst die Arbeit ihrer Herren verrichten mußten, ehe sie Erlaubnis erhielten, an ihre eigenen Sachen zu denken, so sind sie gezwungen gewesen, daheim bei sich selbst von einem Tag zum anderen alles hinauszuschieben und auf den Haufen zu werfen, bis sie sich endlich einen freien Tag stehlen konnten, um ihre eigene Wirtschaft zu besorgen . . . Und da der Ursprung dieser Dunghaufen allmählich in Vergessenheit geraten ist, hat man natürlich gemeint, daß ihrer Erhaltung ein besonders tiefer Sinn zugrunde liegen müsse, und hat daher nicht den Mut gehabt, sie sich vom Halse zu schaffen . . . Kurz und gut: diese stinkenden Dunggruben sind ganz einfach ein Erbe aus den Zeiten der Knechtschaft, wie so viele alte Fäulnis, von der die menschliche Gesellschaft zu befreien wir jetzt bemüht sind. Ist das nicht amüsant? Hansine? . . .

– – – Ach ja, was für eine herrliche Zeit ist es doch überhaupt, in der wir leben! Zeuge zu sein, wie die Aufklärung unserer Zeit, ihr überall erwachendes Wahrheits- und Gerechtigkeitsverlangen nach und nach im Großen wie im Kleinen das Joch der Knechtschaft zerbricht, und den Menschen eine leichtere und glücklichere Zukunft bereitet!«

Hansine wechselte eine Stricknadel mit einem leisen, ungläubigen Lächeln. Sie kannte die leicht erregte Begeisterung ihres Mannes für die neuen Ideen der Zeit und war gewohnt, die stumme Anhörerin zu sein bei seiner Entwicklung der großen Ergebnisse, die er beständig davon erwartete.

»Nun . . . es ist übrigens wohl Zeit, auszuspannen,« ergriff Emanuel wieder das Wort, indem er nach seiner großen silbernen Uhr sah und sie nach alter Bauernweise an das Ohr hielt. Er warf die Zügel über die geduckt gehenden Pferde und sagte: »Na, Bub! Kannst du Vater wohl die Hand geben!«

Diese Worte galten dem Knaben, der noch immer neben der Schwester auf dem großen Stein saß. Hier war er indessen so tief in Gedanken versunken, während er den Krähenschwarm beobachtete, der sich in einiger Entfernung in der umgepflügten Erde niedergelassen hatte, so daß er den Anruf des Vaters nicht hörte. Er blieb unbeweglich sitzen, die Hand unter dem wattenbedeckten Ohr und starrte vor sich hin mit dem feierlichen Ausdruck, mit dem sich Kinder in der Erinnerung kürzlich überstandene Leiden zurückrufen.

Er war ziemlich klein für sein Alter, ein wenig blaß und überhaupt schmächtiger von Wuchs als die ein Jahr jüngere Schwester, die im vollen Besitz der gewöhnlichen kräftigen Formen und lebhaften Farben der Wangen und Augen ländlicher Jugend war. Im übrigen war er Emanuels ausgesprochenes Ebenbild; er hatte dieselbe gedankenvolle Stirnwölbung, dieselbe unirdische Milde im Blick. Auch hatte er das rotblonde, seidenartige Haar des Vaters geerbt, seine tiefen Höhlungen in den Schläfen und die großen, hellen, in der Sonne fast farblosen Augen.

»Hörst du nicht, mein Junge . . . Vater ruft dich,« sagte Hansine.

Bei dem Klang von der Mutter Stimme riß er gleichsam verlegen die Hand vom Ohr und wandte das Gesicht mit einem kleinen erheuchelt unschuldigen Lächeln nach ihr hin.

»Tut es noch ein bißchen weh im Ohr, mein Junge?« fragte sie.

»Nein, gar nicht,« versicherte er eifrig. »Ich kann gar nichts mehr merken.«

»Kommst du denn jetzt, mein Bub?« rief Emanuel wieder vom Pfluge her.

Der Kleine stand augenblicklich auf und eilte über das gepflügte Feld zu den Pferden, wo er anfing, die Wage an der Pflugdeichsel zu lösen und die Stränge aufzubinden – so vernünftig und gewissenhaft, wie ein ausgelernter kleiner Großknecht.

Dieser Junge war Emanuels Augapfel. Er war nach Hansinens altem Vater Anders Jörgen genannt; aber sowohl daheim, wie überall in der Gemeinde wurde er nie anders als »der Bub« gerufen, ein Name, den ihm Emanuel bereits bei seiner Geburt gegeben hatte, und an dessen frischem Bergklang alle ein solches Gefallen gefunden hatten, daß sein Taufname fast vergessen war.

Beim Anblick des Wattenlappens unter seiner Mützenklappe rief Emanuel aus: »Was ist denn das, mein Bub? . . . Ist das Ohr jetzt wieder schlimmer gewesen?«

»Ja – ein bißchen,« antwortete der Junge leise und fast beschämt.

»Es ist doch auch recht dumm mit dem Ohr. Aber es hat wohl nichts weiter auf sich – wie?«

»Nein, jetzt ist es ganz vorüber . . . ich kann gar nichts mehr merken.«

»Na, das ist gut, mein Bub! Zeig' mir auch, daß du ein tapferer Junge bist und dich von solcher Kleinigkeit nicht unterkriegen läßt. Schwächlinge, – weißt du, – bringen es nie zu was hier in der Welt . . . Nicht wahr?«

»Ja.«

»Und dann denkst du doch daran, daß wir heut nach Tisch nach der Mühle fahren wollen. Wir beide haben wirklich keine Zeit, krank zu sein . . . wie?«

Draußen auf dem Wege waren Hansinens Stricknadeln in lebhaftere Bewegung geraten. Als die andern schwiegen, sagte sie:

»Ich glaub' wirklich, es wäre besser, wenn der Bub heut zu Hause blieb, Emanuel! Er is den ganzen Vormittag gar nich gut gewesen.«

»Ja, aber Liebste . . . du hörst ja, daß es jetzt ganz vorbei ist. Er sagt selbst, daß er gar nichts mehr merken kann. Und weißt du was, die frische Luft kann ihm doch nur gut tun. Die frische Luft ist des lieben Gottes Heilmittel, sagt ja ein altes Sprichwort! . . . Der Bub hat wieder zu viel im Hause herum gesessen und gesonnen, daher ist er in der letzten Zeit ein bißchen blaß geworden!«

»Ich glaub' wirklich, es wär' besser, Emanuel, wenn wir ein bißchen vorsichtiger mit ihm umgingen. Und am allerbesten wär' es woll, wenn wir endlich Ernst machten und mal mit dem Doktor über ihn sprächen. Nu hat er das schlimme Ohr bald zwei Jahr gehabt, un das kann doch wahrhaftig nich seine Richtigkeit haben.«

Emanuel antwortete nicht sogleich; es war dies eine Sache, über die sie häufiger geredet hatten, ohne sich einigen zu können.

»Ja, natürlich, Hansine . . . wenn du es wirklich für das Richtige hältst. Aber du weißt ja, daß ich für mein Teil kein sonderliches Vertrauen zu den Doktoren habe. Und namentlich was Doktor Hassing anbelangt, – du weißt ja, wie ich über ihn denke. So eine kleine Ohrengeschichte ist ja etwas ganz Allgemeines bei Kindern und gibt sich ganz von selbst, wenn man der Natur nur Ruhe und Zeit läßt, den Schaden selbst auszubessern. Das sagt auch deine Mutter, und die hat doch eine langjährige Erfahrung, nicht wahr? . . . Ach, nimm du die Leine, mein Junge! . . . Ich kann nun überhaupt niemals glauben, daß der liebe Gott die menschliche Natur so unvollkommen geschaffen haben sollte, daß sie stets der Doktorfinger bedarf, um wieder in Ordnung zu kommen, sobald sie ein klein wenig in Unordnung geraten ist. Ich denke oft daran, wie es seinerzeit zwei von meinen Schulkameraden erging, die beide schlimme Augen bekommen hatten . . . nach den Masern, glaube ich. Der eine von ihnen wurde von einem Doktor behandelt, obendrein von einem Professor, der den armen Jungen im Namen der heiligen Wissenschaft mit Pinselungen und Einspritzungen und ich weiß nicht was, quälte, bis er völlig blind wurde! Bei dem andern dahingegen erhielt die Natur Erlaubnis, sich in Ruhe selbst zu besinnen, und nach Verlauf von kurzer Zeit hatte er ein Paar Augen, um die ihn jeder hätte beneiden können. Diese Geschichte sollte uns eine Lehre sein, meine ich! Übrigens . . . haben wir nichts mehr von dem Öl, das Maren Nilsen von der alten Grete drüben auf Strynö bekommen hatte? Das hat dem Buben ja das letztemal so gut geholfen. Aber tue, was du für gut hältst . . . Nun komm her, mein Bub!«

Bei den letzten Worten nahm er den Jungen unter die Arme und hob ihn auf den Rücken des Handpferdes.

Hansine schwieg. In diesen kleinen Scharmützeln, die Kinder betreffend, behielt Emanuel stets das letzte Wort. Er war ihr zu überlegen in der Redegewandtheit, es ward ihm so leicht, seinen Gedanken Ausdruck zu verleihen, er konnte so viele Gründe für die Richtigkeit seiner Auffassung angeben, daß sie – selbst wenn sie nicht überzeugt war – durch seine Beredsamkeit zum Schweigen gebracht wurde.

. . . Der Nebel rollte wieder wie eine wollgraue Masse vom Westen herbei, während die kleine Familienkarawane dem Dorfe zuzog. Voran ritt der Bub mit den Pferden; dann kam Emanuel mit dem Kinderwagen, den er mit der einen Hand vor sich herschob, während er oben auf der Schulter die Tochter Sigrid mit dem Beinamen »Dicksack« trug. Sie hatte den Hut von seinem Kopf genommen und indem sie ihn hurrarufend in der Luft schwang, trieb sie allerlei Kurzweil, um die Kleine zu belustigen, die denn auch vor wilder Freude in ihrem Wagen schrie.

Eine Strecke hinter den andern her ging Hansine mit ihrem Strickzeug. Sie hielt ihre kleine Gestalt noch immer so gerade, wie in ihren Mädchentagen, bewegte sich auch mit denselben sicheren und gemessenen Schritten. Dahingegen hatte sich der Ausdruck in ihrem brünetten Gesicht ein wenig verändert; er war noch mehr nach innen gekehrt und gleichsam ein wenig gedrückt. Ihre bald siebenjährige Ehe mit den drei Wochenbetten hatte, was ja nicht zu verwundern war, ihr früher so jugendfrisches Aussehen auch nicht ganz unberührt gelassen. Die Wangen waren ein wenig schmal geworden, die ernsten Augen lagen noch tiefer als ehedem. Doch war sie noch immer eine ungewöhnlich hübsche Frau, die ihre sechsundzwanzig Jahre nach ländlichen Verhältnissen mit seltener Ehre trug; und es war ganz natürlich, daß man in ihrem Heimatsdorf Skibberup noch immer nicht wenig stolz auf sie war. Freilich waren da manche – und ihre Zahl nahm mit den Jahren zu – die sich nicht gut mit ihrer Verschlossenheit aussöhnen konnten und sie ihr gern als Hang zu Stolz auslegten; ja, im stillen beklagte man es stellenweise, daß Emanuels Augen gerade auf sie gefallen waren, als er seinerzeit auf den Gedanken kam, eine Braut aus der Mitte der Gemeinde zu wählen. –

Als Emanuel und die Kinder durch den gewölbten Torweg des Pfarrhofes kamen, saß der Knecht Niels auf dem Rande des großen steinernen Wassertrogs unter der Pumpe, offenbar eifrig beschäftigt, das »Volksblatt« der Umgegend zu studieren, das er über seine Knie ausgebreitet hatte. Er war ein dunkelhaariger Mensch von gut zwanzig Jahren, mittelgroß von Wuchs, mit breiten Schultern und starkem Rücken, einer aufwärts gewandten, sogenannten Gießkannennase und dicken roten Wangen, die ein werdender Bart mit Flaum bedeckte. Auf dem großen Hofplatz, auf dem in alten Zeiten – zu Propst Tönnesens Regiment – stets eine musterhafte Ordnung und Ruhe geherrscht hatte, die an das Verhältnis des Ortes zur Kirche erinnerte, sah es jetzt ganz aus, wie auf einem gewöhnlichen Bauernhofe. Hingeworfene Ackergerätschaften, zerstreute Strohhaufen, offenstehende Stalltüren und ein anhaltendes Brüllen des Viehes, das auf sein Mittagsheu wartete, zeugten von der Geschäftigkeit des Tages. Hier und da auf dem unebenen Steinpflaster war Heringslake ausgegossen, um das keimende Unkraut zu ersticken; und vor der Tür des Brauhauses liefen die Hühner umher und scharrten in dem hinausgeworfenen Küchenabfall.

»Worin hast du dich denn so vertieft, Niels? Steht da etwas Neues heute in der Zeitung?« fragte Emanuel, nachdem er Sigrid niedergesetzt und den Buben vom Pferderücken gehoben hatte.

Der Knecht schielte von seiner Zeitung auf und antwortete, indem er den Mund mit einem breiten Lächeln bis an die Ohren zog.

»Aha, Philosoph! Bist du wieder auf dem Kriegspfad gewandert? . . . Nun, gegen wen hast du denn heute deine Lanze gerichtet, Niels? Laß mich einmal sehen!« fügte er hinzu, nachdem er die Pferde abgeschirrt hatte.

Der Knecht reichte ihm das Blatt, das Emanuel zu lesen begann, während der Bub die Pferde von dem Wassertrog fort und in den Stall hineinzog.

»Wo steht es? . . . Ah, hier! ›Über die Hochschulen und die sittlichen Forderungen!‹ . . . Ei, ei! . . . Nun, der Anfang ist wirklich nicht übel. Sehr gut . . . Ja, wahrhaftig, darin hast du völlig recht, Niels! . . . Nun, bange bist du aber nicht . . .«

Mit gespannter Aufmerksamkeit hatte der Knecht das Mienenspiel seines Herrn während des Lesens beobachtet, und jedesmal, wenn Emanuel durch ein Kopfnicken oder einen kleinen Ausruf seinen Beifall zu erkennen gab, erhöhte sich der schillernde Glanz seiner kleinen, schwarzbraunen, von den Wangen halb begrabenen Augen.

»Der Artikel macht dir wirklich alle Ehre,« sagte Emanuel, indem er ihm lächelnd das Blatt wieder hinreichte. »Du bildest dich ja förmlich zum Schriftsteller aus, Niels! . . . Ja, ja, gib nur acht, daß du nicht ganz in der Tinte ersäufst, mein Freund! Die große Tintenkleckserei kann ein gefährliches Gift sein, wenn man damit spielt!«

Er wurde von Hansine unterbrochen, die den Rückweg durch den Garten genommen hatte und nun auf der hohen Fliesentreppe des Wohnhauses erschien, um zum Mittagessen zu rufen.

»Dann müssen wir uns beeilen, das Sielengeschirr wegzuschaffen, mein Bub!« wandte er sich an den Jungen, der im selben Augenblick aus dem Stall zurückkam. »Ach Niels . . . lauf einmal hin und rufe den alten Sören. Er ist draußen in der Koppel auf dem Rübenacker.«

* * *

Am Nachmittag, gegen drei Uhr, saß ein stiller Mann an einem der Fenster in des Dorfschulzen Jensen weitbekannter Staatsstube. Seine hohe und magere Gestalt war in einen dunklen Anzug von dem gröbsten, selbstgewebten Fries mit hoch in die Höhe stehendem Rockkragen und engen Ärmeln gekleidet. Er saß in einer vornübergebeugten Stellung da, die Arme auf seine Beine gestützt und die Hände zwischen den Knien gefaltet. Das bleiche sommersprossige Gesicht, das nach oben zu fast horizontal von dem kurzgeschnittenen rotgrauen Haar begrenzt wurde, umrahmte nach unten ein dünner Vollbart, der über ein schwarzes Halstuch und einen jener gesteppten »Brustlappen« hing, die fast außer Mode gekommen waren. Die Handgelenke umschlossen ein Paar stramme, schwarze Wachstuchmanschetten, die all das Blut des Körpers in die großen blauroten Hände hineingetrieben zu haben schienen. Es war Weber Hansen.

Die Leute, denen er hier ein »Stelldichein« gegeben hatte, waren die sogenannten »Vertrauensmänner« – sechs von der Gemeinde gewählte Männer, die namentlich das Amt hatten, die politischen Interessen zu wahren, die Abhaltung von Wahlversammlungen zu veranstalten, politische Redner zu berufen und die Verhandlungen mit den übrigen demokratischen Wahlkomitees des Kreises in die Hand zu nehmen. Das trübe Tageslicht, das sich über ihn weg durch die betauten Fensterscheiben stahl, die tiefe Mittagsstille, in der das ganze Haus noch ruhte, endlich seine eigene vollständige Unbeweglichkeit und der glanzlose Blick, mit dem er unter halbgeschlossenen Lidern vor sich hinstarrte – alles trug dazu bei, seine Person mit einem sonderlichen Unbehagen zu umgeben. Mit dem flachen rotgrauen Kopf, seinem verzerrten Munde und den entzündeten Augenrändern erinnerte er an einen lauernden Luchs, der aus einem Hinterhalt im Schatten des Urwalds über die endlose Steppe hinausspäht.

Die himmelblaue Staatsstube des Dorfschulzen, der Schauplatz für so viele frohe Festgelage früherer Zeiten, hatte in den letzten Jahren vollständig den Charakter gewechselt. Freilich standen die polierten Mahagonimöbel noch da und leuchteten rot an den Wänden entlang, und oben auf der Chiffonniere tickte die feuervergoldete Tafeluhr aristokratisch zwischen ein Paar leicht bekleideten Gipsschäferinnen; aber an Stelle des Spieltisches am Fensterpfeiler, wo in früheren Zeiten Tierarzt Aggerbölle, Kaufmann Villing und der jetzt verstorbene Jubelgreis, Schullehrer Mortensen zusammen mit dem Wirt selbst so manche muntere Nacht bei Kartenspiel und Gläsern starken Grogs verbracht hatten, thronte jetzt ein mit Papieren überladener Schreibtisch; an einer anderen Wand stand ein Bort voller Anschreibebücher, Protokolle und mächtiger Zeitungsstapel, was alles miteinander dem Zimmer ein äußerst ernsthaftes Aussehen verlieh und den Gedanken an ein Kontor wachrief.

Etwas Ähnliches war es in Wirklichkeit auch, und eine ganz entsprechende Verwandlung war gleichzeitig mit dem Dorfschulzen selber vor sich gegangen.

Die politische Erhebung, die die volkstümliche Aufklärungsarbeit allmählich in dem Bauernstande des ganzen Landes bewirkt, hatte endlich auch dieses Mannes fast entschlummertes Gewissen geweckt und ihn zum Kampf für die Befreiung seines Standes in die Reihen gerufen. Und da er unbestritten der reichste Bauer des Kirchspiels und daneben für seine unter Bauern ungewohnte Freigebigkeit in Geldangelegenheiten bekannt war, auch ein angeborenes Talent zu öffentlichem Auftreten besaß und sich sehr bald im Besitz einer nicht gewöhnlichen Beredsamkeit zeigte, so hatte er sich im Laufe von kurzer Zeit zu dem erklärten politischen Führer der Gegend aufgeschwungen und wurde beständig ringsumher in den Blättern des Landes als »der bekannte Bauernhäuptling Hans Jensen aus Vejlby« genannt. Diese leitende Stellung hatte er jedoch nicht ohne Vorbeigehen des Mannes erreichen können, der der eigentliche Ursprung der ganzen volkstümlichen Bewegung in der Gemeinde war, nämlich Weber Hansens. Zu Anfang waren da denn auch manche gewesen, die mit einiger Angst den schnell wachsenden Einfluß des Dorfschulzen beobachteten, da man Grund zu der Annahme hatte, daß der kampfbereite Weber sich nicht ruhig in eine so grobe Zurücksetzung finden würde. Aber zum allgemeinen Erstaunen zeigte der Weber in diesem Falle eine ihm ganz ungewohnte Friedfertigkeit; ja, man erfuhr allmählich, daß der Weber selbst von Anfang an den Dorfschulzen zur Teilnahme an dem öffentlichen Leben veranlaßt und ihm sogar sehr ernsthaft vorgehalten hatte, daß er in seiner unabhängigen Stellung es der Gemeinde geradezu schuldig sei, seine Zeit und seine Rednergabe in ihren Dienst zu stellen.

Es sah überhaupt so aus, als wenn der Weber jetzt, wo die Gefahr und die Spannung des Kampfes vorüber waren, uneigennützig andere die Ehre und den Lohn für seine lange und geduldige Arbeit einheimsen ließ. Jahr für Jahr hatte er sich mehr in das Schneckenhaus seines Wesens zurückgezogen, ohne im übrigen deswegen in irgendeiner Weise gleichgültig gegen die Sache geworden zu sein, der er sein Leben geweiht hatte. Im Gegenteil. Während er es abschlug, auch nur den geringsten der Ehrenposten anzunehmen, die ihm in reichem Maße als Anerkennung seiner Verdienste angeboten wurden, übernahm er aus eigenem Antrieb die bescheidenste Invalidentätigkeit im Dienste des Fortschrittheeres. Er besorgte freiwillig allerlei Botendienste, war den vielen verschiedenen Verwaltern behilflich bei ihrer Rechnungsführung und ihrem Briefwechsel, ja, fuhr mit gleicher Treue – wie es schien, sogar mit verdoppelter Aufmerksamkeit fort –, seinen alten Spionage- und Polizeidienst in der Gemeinde auszuüben. Noch immer tauchte er mit seinem schiefen Lächeln überall dort auf, wo man ihn am wenigsten erwartete und setzte sich vornübergebeugt auf die Stühle, seine roten Hände vor dem Munde, um im Laufe der Unterhaltung sich den Titel der Zeitung zu erschielen, die man in der Hand hielt, oder den Namen des Kaufmanns auf den Papiertüten, die die Hausfrau in den Gewürzschrank legte.

Obwohl die Versammlung, zu der er sich heute mit seiner gewohnten Pünktlichkeit eingefunden hatte, auf drei Uhr angesetzt war, und obwohl es wegen der augenblicklich stark gespannten politischen Situation zu erwarten war, daß bedeutungsvolle Verhandlungen bevorstanden, schlug die Uhr auf der Chiffonniere vier, ehe alle einberufenen Personen versammelt waren.

Als Vorsitzender des Komitees nahm der Wirt selbst Platz an dem oberen Ende des ovalen Tisches, um den der Rat sich setzte. Seine schwergliedrige Gestalt mit dem krausen Haar und dem großen, glattrasierten Kinn nahm sich ganz imponierend aus in einer apfelgrünen Plüschweste und weißen, frischgebügelten Hemdärmeln. Freilich schimmerte die Nase noch immer ebenso puterblau in dem rotglühenden Gesicht, als unvergängliche Erinnerung an seine weniger vorteilhafte Vergangenheit, dafür aber hatten seine Haltung und sein ganzes Auftreten jene breite Überlegenheit und liebenswürdige Ungezwungenheit gewonnen, die durch lebhafte Teilnahme am öffentlichen Leben erworben wird. Rechts von ihm saß Emanuel (der jetzt seinen Arbeitskittel mit einem Rock aus hellgrauem Molton vertauscht hatte) sowie ein kleiner, schmerbauchiger Vejlbyer Bauer mit buschigen Augenbrauen und kindlich roten Wangen. Links saßen zwei jüngere, blonde Skibberuper Hofbesitzer und der große Zimmermann Nielsen, dessen dunkler Vikingerbart im Lauf der Jahre noch ein paar Zoll länger geworden war und fast bis an die Taille reichte. Den Platz am untersten Tischende nahm Weber Hansen ein, der sich nicht in den Rat selbst hatte wählen lassen wollen, sich dafür aber angeboten hatte, bei der Versammlung als Sekretär behilflich zu sein.

»Dann sind wir also vollzählig versammelt,« begann der Dorfschulze mit seiner lärmenden Stimme, indem er den Blick um den Tisch herumgleiten ließ. »Wir haben euch heute eine sehr wichtige Mitteilung zu machen, Freunde! . . . Ja, bitte, fangen Sie nur an, Jens Hansen!«

Die letzten Worte waren an den Weber gerichtet, der jetzt ein großes Stück Papier aus seiner inneren Westentasche zog und es sorgfältig vor sich auf dem Tisch entfaltete. Langsam und mit monotoner Stimme verlas er dann folgendes Schreiben:

Vertraulich!

Von leitenden Männern unter unsern Gesinnungsgenossen im Reichstage sind der hiesigen Hauptdirektion der sämtlichen demokratischen Wählervereine des Amtes eine Reihe Aufklärungen zur Beurteilung der beunruhigenden politischen Gerüchte zugestellt, die in der letzten Zeit ihren Weg in verschiedene von den Zeitungen des Landes gefunden haben. In Anbetracht des augenblicklichen Ernstes und der Bedeutung der Sache hat man es für das Richtigste erachtet, ohne Zaudern die erhaltenen Aufklärungen den geehrten Gemeindeverwaltungen zur Kenntnis zu bringen.

Diese gehen darauf hinaus, daß es in Wirklichkeit nicht außerhalb der Grenze der Möglichkeit liegen soll, daß zwischen der Regierung und der reaktionären Partei in beiden Things Verabredungen vorliegen und Pläne erwogen werden, die wohl geeignet sind, den tiefen Zorn und die ernste Bekümmerung jedes freisinnigen Mannes wachzurufen. Doch läßt sich selbstverständlich noch nichts mit Sicherheit behaupten, da alle Verhandlungen zwischen den bestimmenden Parteien in größtmöglicher Heimlichkeit gepflogen werden; aber beachtet man unter anderm die plötzliche Abgeneigtheit sämtlicher Minister, selbst in unbedeutenden Sachen von dem einmal eingenommenen Standpunkt in der Reichstagsdebatte abzuweichen –, und zieht man endlich andere ebenso bezeichnende Züge in genügende Betrachtung, so erscheint es nicht ganz undenkbar, daß sich die Regierung wirklich mit Plänen trägt, noch eine Zeitlang dem gesamten Volkswillen Trotz zu bieten und noch mehr, als dies bisher geschehen ist, den Einfluß des gemeinen Mannes auf die Staatsleitung durch eine eigenmächtige Aufhebung des allgemeinen Wahlrechts zu bekämpfen. Jeder freiheitstreue Mann im Lande wird eine solche Handlungsweise zu beurteilen wissen. Wir fordern deshalb hierdurch die geehrten Gemeindeverwaltungen auf, eine jede in ihrem Kreise Gesinnungsgenossen zu sammeln, und – zur Unterstützung der von uns in die Things gewählten Männer – eine kräftige Kundgebung des unveränderten Willens der Bevölkerung, bis aufs äußerste dies Treiben unserer Machthaber zu bekämpfen, veranlassen zu wollen. In bezug auf die Bestimmungen der näheren Veranstaltungen, die hierzu notwendig erscheinen dürfen, überlassen wir alles dem besten Ermessen der geehrten Gemeindeverwaltungen. Nur möchten wir nach Erwägung mit unsern Freunden im Reichstag anheimgeben:

daß den Gesinnungsgenossen Gelegenheit zur Annahme einer, am liebsten gleichlautenden Resolution gegeben wird, die »unsern Vertrauensmännern in den Things andauernden kräftigen Beistand im Kampf für die unbeschränkte Freiheit und das Recht des Volkes zusichert«.

Eine ähnliche Aufforderung ergeht in diesen Tagen an sämtliche Kreisverwaltungen, und wir hegen die Hoffnung, daß ein solcher Vorderhandprotest, ein solch tausendstimmiger Warnungsruf, der unsern Gegnern aus jeder Gemeinde im ganzen Lande entgegenschallt, sie noch zur Vernunft wird bringen können, und sie veranlassen kann, von ihrem verbrecherischen Vorhaben abzustehen.

Es lebe die Freiheit und die Gerechtigkeit! Es lebe die Erinnerung an unseren unvergeßlichen Volkskönig, an des Grundgesetzes zu früh entschlafenen Geber, König Frederik Volkslieb!

J. A.: H. Johansen,
Rechtsanwalt.  

Noch bevor die Verlesung ganz beendet war, rief Emanuel, bleich und vor Gemütserregung bebend aus:

»Aber das ist ja offenbar Verletzung des Gesetzes . . . das ist ja Landesverrat!«

»Hört!« tönte es wie ein dunkelklingendes Echo aus der Bartwildnis des Zimmermanns heraus.

»Ja, da hast du ganz recht . . . anders kann kein ehrliebender Mann es nennen,« stimmte der Dorfschulze bei, der während der Verlesung eine Kiste mit Zigarren hatte herumgehen lassen. Und mit einer Handbewegung, die stark an die Rednertribüne erinnerte, fuhr er fort: »Aber, dies zeigt uns, Freunde, daß wir vollkommen richtig gehandelt haben, indem wir scharf Front gegen eine solche Partei machen, deren einziges Ziel es ist, sich an die Macht anzuklammern, selbst wenn dies nur geschehen kann, indem die Wohlfahrt und die Zukunft des Landes aufs Spiel gesetzt wird. Solche Männer sind ja nicht mehr unsere Landsleute . . . sie sind die Feinde Dänemarks!«

»Und Gottes Feinde! . . . freche Meuchelmörder des Geistes!« fuhr Emanuel fort, noch ganz außer sich. »Aber dahin mußte es kommen in der Gesellschaft der Eigenliebe! Dies ist ihre letzte verbrecherische Selbstverteidigung vor ihrem endgültigen Untergang! . . . Ich schlage vor, daß wir noch heute abend alle Gesinnungsgenossen zusammenrufen und ihnen offenbaren, was auf dem Spiel steht. Auch wir wollen uns rüsten! Den Kanonen der Gesetzlosigkeit stellen wir Gottes Donnergebot gegenüber!«

»Sachte, Emanuel . . . sachte!« sagte der Schulze und legte die Hand beruhigend auf seinen Arm, während der Weber am andern Ende des Tisches sich auf ausdrucksvolle Weise abwandte und die Nase mit den Fingern schneuzte. »Vor allem wollen wir uns nicht ereifern! In erster Linie dürfen wir ja nicht vergessen, daß wir vorläufig doch noch nichts mit Bestimmtheit wissen . . . und man soll die Flinte nicht an die Wange legen, ehe man nicht den Bären sieht, wie ein altes Sprichwort sagt. Und ich für mein Teil hege nun den Verdacht, daß es alles zusammen nur Gerüchte sein können, die von den Freunden der Regierung selbst in Umlauf gesetzt sind, um unsere Männer in den Things einzuschüchtern, vielleicht auch so ein kleiner Probeballon, den sie haben steigen lassen, um die Stimmung im Lande zu erforschen!«

»Aber falls es nun keine leeren Gerüchte sind . . . falls man wirklich Ernst aus den Drohungen machen sollte . . . falls die erwählten Männer des Volkes nach Hause gesandt werden und man die Macht an die Stelle des Rechts setzt . . . Was dann? . . . Was dann?«

Der Dorfschulze sah Emanuel einen Augenblick mißbilligend an. Dann sagte er langsam und mit übertriebener Würde, indem er seine Hand schwer auf die Tischplatte fallen ließ:

»Falls so etwas geschehen sollte – was Gott verhüte! – dann erheben sich im Lande mehr als dreihunderttausend Landbewohner und sagen: ›Jetzt ist's genug! . . . Jetzt ist's genug!‹ sagen sie. Habe ich nicht recht?«

Bei den letzten Worten wandte er sich an die drei Skibberuper, die alle mit einem kräftigen »Hört« antworteten, wahrend der kleine, dicke Vejlbyer Bauer drüben von der andern Seite des Tisches ihm eifrig seinen Beifall zunickte.

»Jetzt schlage ich vor« – fuhr er fort – »daß wir eine Versammlung am nächsten Sonntag abend im Versammlungshaus einberufen. Ich übernehme es gern, hier die Situation zu entwickeln, so wie sie zu jener Zeit vorliegt, worauf wir die vorgeschlagene Resolution annehmen. Außerdem bin ich der Ansicht, daß es am besten sein wird, bis auf weiteres die eingeholten Aufschlüsse als vertrauliche Mitteilungen zu betrachten, um die Gemüter nicht allzusehr – und vielleicht ganz unnötigerweise – zu erschrecken. So hat die geehrte Hauptdirektion sich die Sache offenbar auch gedacht. Im ganzen zweifle ich nicht daran, daß unsern lieben Gegnern schon die Lust vergehen wird, sich auf neue Abenteuer einzulassen, wenn sie erst durch unsere Versammlungen die Stimmung des Landes richtig haben kennen lernen! . . . Seid ihr nicht auch der Ansicht, Freunde?«

Vier von den Mitgliedern des Rates drückten abermals ihre volle Befriedigung aus: und diese unerschütterliche Freimütigkeit beeinflußte schließlich Emanuel, so daß er ruhiger wurde. Er war übrigens nicht daran gewöhnt, unter den politischen Verhandlungen das Wort zu ergreifen. Sein Blick für die Bedeutung der politischen Seite der Volkssache war spät und schwierig geweckt; und einzig und allein wegen seiner großen Verdienste auf ganz andern Gebieten hatte ihn die Gemeinde durch die Wahl in ihren politischen Rat geehrt. Es ward ihm noch immer schwer, Interesse für die täglichen Debatten im Reichstag und in den Zeitungen zu fassen oder für diese »Taktik«, der der Dorfschulze und die andern eine so große Bedeutung beilegten. Er konnte sich nie dazu entschließen, daran zu zweifeln, daß das Recht – wie es in dem geistlichen Liede heißt – »ja seinen Sieg gewann, wenn es Gott so gefiel«; und er hatte kein sonderliches Vertrauen dazu, daß selbst die schlausten Einfälle oder Auslegungen imstande seien, es entweder zu beschleunigen oder zu verzögern.

Auf Vorschlag eines der Skibberuper Hofbesitzer wurde dann beschlossen, daß man – um der Versammlung eine erhöhte Bedeutung zu geben – ein paar fremde Redner einladen wolle. Einen Augenblick dachte man daran, sich an den eigenen Folkethingsabgeordneten des Kreises, an den alten Bischof zu wenden. Aber obwohl dieser während der stürmischen Reichstagsdebatten in letzterer Zeit mehrfach verraten hatte, daß er unter dem Sammetornat und dem Diplomatenrock noch das rote Garibaldihemd seiner Jugend ziemlich unverschossen trug, war er bisher nicht zu bewegen gewesen, seinen, wie er es mit einem Lächeln nannte »archimedischen« Standpunkt außerhalb der Parteien zu verlassen; und man ward daher sehr schnell darüber einig, diesen Plan als fruchtlos aufzugeben. Dahingegen glaubte man Aussicht zu haben, ein paar andere hervorragende demokratische Reichstagsabgeordnete bewegen zu können, sich einzufinden, und man beschloß sogleich, an die Hauptdirektion eine diesbezügliche Frage zu stellen. Der Schulze erbot sich unaufgefordert, die Gäste sowohl mit seinem Wagen von der Station holen wie auch bewirten zu lassen, eine Bereitwilligkeit, die mit einem anerkennenden Gemurmel belohnt wurde.

Nachdem endlich die Versammlungszeit festgesetzt war, und nachdem Weber Hansen ein Protokoll über die stattgehabten Verhandlungen aufgenommen hatte, hob der Vorsitzende die Versammlung auf.

»Wenn es gefällig ist, meine Herren!« sagte er munter und erhob sich. »Jetzt haben wir wohl das Bedürfnis, uns ein wenig zu vernüchtern, wie?«

Mit diesen Worten deutete er auf die in diesem Hause unumgängliche »kleine Erfrischung« hin, die währenddes im Nebenzimmer angerichtet war, wozu die Tür jetzt von einem umfangreichen Frauenzimmer mit goldgestickter Mütze, Adlernase und dreidoppeltem Kinn – des Dorfschulzen Haushälterin – geöffnet wurde. Unter einer bereits angezündeten Hängelampe stand der fett besetzte Tisch, auf dessen soliden aus Schweinefleisch und Räucherwaren bestehenden Gerichten gerade ein hitziger Kampf zwischen dem brandgelben Licht der Lampe und dem noch glühend errötenden Abendlicht ausgefochten wurde. In der vielfarbigen Beleuchtung nahm sich die Anrichtung doppelt einladend aus, und die Gäste setzten sich mit einem von der stundenlangen Versammlung tüchtig geschärften Appetit vor die Teller.

Selbst Emanuel kam allmählich in eine lichtere Gemütsstimmung. Er sah sich um in dieser Schar breitschulteriger Männer, die trotz allem, was ihre Zukunft bedrohte, so ruhig und getrost dasaßen, so sicher in ihrem Zutrauen zu der Gerechtigkeit ihrer Sache und dem Schutz der Vorsehung; und von neuem war er erfüllt von Bewunderung für diese unantastbare Gemütsruhe, für die männliche Selbstbeherrschung, mit der diese Leute beständig jede Schickung trugen, und die sich anzueignen ihm selber so schwer wurde. Die Schüsseln wurden fleißig geleert und neue von der großen »Sidse« herbeigetragen, die des Schulzen Haus verwaltet hatte, seit er vor einigen Jahren Witwer geworden war. Dieses fleischige Frauenzimmer wurde im stillen von Weber Hansen belauert, der während der ganzen Mahlzeit kaum ein Wort sprach. Als ihm sein Nachbar aus der Branntweinflasche einschenken wollte, legte er mit einem katzenfreundlichen Lächeln seine große Hand auf das Glas – er war kürzlich Temperänzler geworden – und trotz der munteren Sticheleien des Dorfschulzen war er nicht zu bewegen, zur Feier des Tages eine Ausnahme von der Regel zu machen. Als die Mahlzeit beendet war und der Kaffee auf den Tisch kam, und als der Dorfschulze von neuem seine Zigarren herumgehen ließ, erhob er sich. Unter dem Vorwand, daß er noch vor Abend einen Besuch zu machen habe, nahm er Abschied, indem er gewissenhaft jedem einzelnen von der Gesellschaft die Hand drückte und entfernte sich dann durch die Küche, wo er einen Augenblick mitten auf dem Mauersteinfußboden stehen blieb und die Haushälterin mit einem Blick fixierte, der plötzlich diese Fettmasse erbleichen und zittern machte.

»Aber mein Gott, Jens Hansen . . . warum siehst du mich so an?« sagte sie und hielt vor Schrecken ein Handtuch abwehrend vor sich hin.

Ohne zu antworten, setzte er seinen Hut auf den Kopf und entfernte sich, die Hand auf dem Rücken.

Draußen herrschte tiefe Finsternis. Der Wind hatte sich gelegt; es war ganz still. Von einem unbeweglichen Wolkenhimmel schwebten große, weiße Schneeflocken herab, die in dem Schmutz des Erdbodens schmolzen. Unter einem immer dichter werdenden Tröpfeln, das allmählich in einen feinen Regen überging, wanderte der Weber heim auf dem einsamen Feldwege, der über die Hügel nach Skibberup führte. Sein Gesicht verzog sich zu einem plötzlichen Lächeln, und seine roten Augen sahen vor sich hin mit dem starren Blick, den sie immer bekamen, wenn er in der Einsamkeit seine Kriegspläne ausbrütete.

* * *

Es war finsterer Abend und strömender Regen, als Emanuel nach dem Pfarrhaus heimkehrte und in Gesellschaft eines anderen Mannes die hohe Fliesentreppe des Hauptgebäudes hinanstieg. Auf der herrschaftlichen Diele, deren langer Mahagonikleiderriegel seinerzeit durch Propst Tönnesens großen Bärenpelz und Fräulein Ragnhilds schleierumwundene Gartenhüte belebt war, und wo zierliche Kokosmatten die schwarzweißen Marmorfelder des Fußbodens vor den Türen bedeckt hatten, brannte jetzt eine einfache Stallaterne; der Riegel war mit einer Sammlung einfacher Männermützen überfüllt, und auf den Fliesen stand eine ganze Flotte schmutziger Holzschuhe, in allen Formen, von großen, klotzigen Häuslerbarkassen mit Eisenbändern darum und einem Strohwisch darin, bis zu kleinen, halblackierten Frauenholzpantoffeln mit verzierten Schnauzen und rotem Flanellfutter.

Die gewöhnlichen Abendgäste des Hauses, die sich ein paarmal in der Woche nach beendeter Arbeit hier versammelten, um sich in Gemeinschaft durch Unterhaltung, Vorlesen und Gesang zu erbauen, hatten sich bereits eingefunden und saßen längs der Wände des großen Garten- und Eßsaals, der von einer einzigen Petroleumlampe spärlich erleuchtet wurde. Nichts in diesem großen Raum, außer den Stuckarbeiten unter der rauchgeschwärzten Decke und den landschaftlichen Dekorationen über den Türen, erinnerte mehr an den Salon, in dem Fräulein Ragnhild ihre extravaganten Toiletten zwischen weichen Teppichen, Damastgardinen und eingelegten Möbeln entfaltet hatte. An den vier nackten Wänden der Stube entlang lief eine ganz einfache hölzerne Bank, über der die blaue Farbe der Mauer bis Mannesschulterhöhe abgeschlissen war. Die vier hohen Fenster – zwei Fach zu jeder Seite der im Winter zugesetzten Gartentür – waren oben mit einer schmalen Kappe von dunkelrotem Kattun bedeckt. Unter dem einen Fenster stand ein langer, weißgescheuerter Eichentisch. Außerdem befanden sich in dem Zimmer ein paar Strohstühle und – ebenso wie in Hansinens Elternhaus – ein altmodischer Armstuhl am Ofen, ferner ein grüngemalter Eckschrank neben der Tür zur Küche und ein sechsarmiger Leuchter aus Blech, der von der Mitte der Decke herabhing.

Diese Stube – die Großstube oder die »Halle«, wie die Leute in der Umgegend sie mit Vorliebe nannten, weil sie in ihrer strengen Einfachheit an die altnordischen Wohnungen erinnerte – bildete den eigentlichen Aufenthaltsraum für die Familie. Die übrigen Zimmer des Hauses, mit Ausnahme der früheren Wohnstube, die jetzt Schlafzimmer der Familie war, standen entweder ganz leer oder wurden zur Aufbewahrung von Sämereien, Wolle, Futterstoffen oder dergleichen benutzt. Emanuel hatte freilich zu eigenem Gebrauch das Zimmer als Erbe übernommen, das zu Propst Tönnesens Zeiten unter dem Namen »Studierkantor« bekannt und gefürchtet gewesen war; aber die ganze Einrichtung bestand hier aus ein paar staubigen Bücherborten und einem Wachstuchsofa, und es gehörte zu den großen Seltenheiten, daß er sich hier länger als gerade die halbe Stunde aufhielt, während der er ein kleines Schläfchen nach Tische machte. Seine Predigten und Vorträge arbeitete er immer draußen hinter dem Pfluge aus oder auf seinen Wanderungen zu den Armen und Kranken in der Gemeinde; denn – wie er zu sagen pflegte – er hatte seinen Bücherborten den Rücken gewendet, nachdem er eingesehen, daß man von den Vögeln unter dem Himmel, ja selbst von den Kühen in seinem Stall größere Lebensweisheit lernen könne, als aus den von Gelehrsamkeit strotzenden Büchern der ganzen Welt.

Es waren an diesem Abend ungefähr fünfzig Menschen beiderlei Geschlechts versammelt; und trotz der spärlichen Beleuchtung der »Halle« herrschte dort die gemütlichste und fröhlichste Stimmung. Die jungen Mädchen hatten ihren Platz an der einen kurzen Endwand, wo sie wie eine lange Blumenreihe saßen, die dunklen und blonden Köpfe über irgendeine feine Häkelarbeit gesenkt, die sie mit Mühe zwischen ihren steifen, roten Fingern festhielten. Die Frauen dahingegen hatten ihren festen Sitz auf der dem Ofen zunächstliegenden Bank, wo sie bedächtig an großen Strickzeugen »knütteten«, während sie in dem gewohnheitsgemäßen weinerlichen Ton, den Bauerfrauen gewöhnlich im Verkehr anschlagen, mit ihren Nachbarinnen von Haushalt und Milchwirtschaft schwatzten. Hier saß auch Hansine – auf ihrem gewohnten Platz im Lehnstuhl – und spann an ihrem Rocken. Sie war genau so gekleidet wie die anderen, sie trug ein einfaches, eigengemachtes Kleid und eine gewürfelte baumwollene Schürze und hatte auf dem Kopf eine kleine, schwarze Mütze, von der ihr dunkelbraunes Haar nach der Sitte der Gegend in zwei kleinen, genau geformten Jungen über jede Schläfe gekämmt war. Sie nahm nicht sonderlich teil an der Unterhaltung der anderen, und es lag oft etwas ganz Abwesendes in dem Blick, mit dem sie langsam von ihrem Faden aufsah, wenn die Tür sich auftat und ein alter Häusler in wollenen Hemdärmeln oder ein paar rundwangiger Mädchen mit einem Kopfnicken und einem breiten »Guten Abend« eintraten. Ringsum den langen Eichentisch am Fenster hatten die jungen Burschen sich versammelt. Sie saßen dort in der vollen Beleuchtung der Lampe, die mitten zwischen ihnen neben einem großen Wasserkrug mit hölzernem Deckel stand. Hier ging die Unterhaltung am lebhaftesten vonstatten, und der blaue Rauch aus den Tabakpfeifen sammelte sich wie eine beständig dichter werdende Wolke über ihren langhaarigen Köpfen.

Auf einem Platz für sich, in der allerdunkelsten Ecke der Stube, sah man zwei Personen, deren Aussehen und Benehmen deutlich verrieten, daß sie nicht gewohnt waren, hierher zu kommen. Bei seinem Eintreten begrüßte Emanuel sie auch mit besonderer Herzlichkeit, indem er ihnen beiden die Hand drückte und sie willkommen hieß. Es waren zwei kläglich aussehende Gestalten, in armselige Lumpen gekleidet und so vom Regen durchnäßt, daß sich um ihre Socken herum auf dem Fußboden kleine Seen gebildet hatten. Der eine war lang und dünn wie ein Brunnenschwengel, der andere war klein, dick und kahlköpfig und hatte eine faustgroße Geschwulst über dem einen Auge. Beide saßen sie, die Hände auf den Knien, da und sahen verlegen zu Boden; aber von Zeit zu Zeit, wenn sie sich unbemerkt glaubten, schielten sie vorsichtig und verstohlen zueinander hinüber und unterdrückten gleichzeitig ein Lächeln.

Es waren zwei in der Gegend wohlbekannte Personen, Svend Bier und Per Schnaps. Sie gehörten zu dem festen Ausschußbestand der Gemeinde, die sich jeden Morgen vor Kaufmann Billings Tür versammelte, um – die Fuselflasche unter den Kleidern verborgen – voll Ungeduld darauf zu warten, daß der Laden geöffnet wurde. Zusammen mit einer Schar anderer armer Leute der Umgegend, wohnten sie in einer Gruppe von Lehmhütten, den sogenannten Moorhäusern draußen an der entlegenen Westgrenze des Kirchspiels. Der eine von ihnen war Holzschuhmacher, der andere Dachdecker, doch herrschte allgemein die Ansicht, daß sie sich ihre wesentlichste Einnahme verschafften, indem sie in monddunklen Nächten aus den Kartoffelgruben der Bauern stahlen, den angepflöckten Schafen die Wolle abschoren und dergleichen mehr . . . Ja, einige hatten sie sogar stark in Verdacht, noch weit unheimlichere Taten auf ihrem Gewissen zu haben. Diese Verhältnisse waren Emanuel nicht ganz unbekannt. Er war überhaupt noch nicht lange in der Gegend gewesen, als ihm die Augen darüber aufgingen, daß die Armut auch draußen auf dem Lande viel Elend und geistigen Verfall im Gefolge hatte; und von früh an waren seine Bestrebungen im wesentlichen Maße daraufhin gerichtet gewesen, mit der Unterstützung der Gemeinde der Not abzuhelfen und durch Liebe diese Verirrten und Vernachlässigten in die menschliche Gesellschaft zurückzuziehen. Darum war er nun auch doppelt erfreut über den Anblick der beiden Männer aus den Moorhäusern. Er dachte nämlich in diesem Augenblick gar nicht daran, daß er vor ganz kurzem als Gemeindevorsitzender der »Freien Armenkasse« eine Geldhilfe für diese beiden Personen erneuert hatte und konnte daher noch weniger ahnen, daß ihr Erscheinen hier als eine Art Quittung für die genossene Unterstützung aufgefaßt werden sollte.

Noch ein anderer seltener Gast war an diesem Abend zugegen, nämlich der Tierarzt Aggerbölle. Er saß mitten auf der Bank unter den Fenstern, die Arme über der breiten Brust gekreuzt – ohne darauf zu achten, daß er gerade in dieser Stellung unbarmherzig einen tiefen Riß in dem Rock unter der Armhöhle offenbarte. Sein Haupt- und Barthaar war vollständig weiß geworden und stand unbeschnitten nach allen Seiten ab; die bleichen, starrenden Augen traten aus dem Kopf hervor wie ein Paar Glaskugeln, und der ganze Teil des Gesichts, den der Bart freiließ, war mit geschwürähnlichen Auswüchsen übersät. Es war im ganzen nicht leicht zu sagen, wer den bedauernswerteren Eindruck machte, dieser vom Schicksal so unsanft mitgenommene Mann oder die beiden Galgenstricke aus den Moorhäusern. Freilich trug der Tierarzt wichslederne Schuhe mit Gummizügen, Manschetten und einen weißen Halskragen, ja sogar einen Kneifer hatte er hinter den Aufschlag seines fest zugeknöpften Gesellschaftsrockes gesteckt. Aber die herzzerreißende Abgerissenheit dieser Ausstattung und seine ganze krampfhaft aufrecht erhaltene Standesmäßigkeit mußten selbst das Mitleid eines Armenhäuslers erregen.

Es war nun keineswegs aus eigenem Antrieb, daß er sich an diesem Ort befand. Wenn er hier zwischen den »Hängerüsseln« saß, in seines Herzens Haß und Verachtung nannte er die geistig erleuchteten Bauern seiner Zeit also, so war das eine Folge dieser »unglückseligen Verkettung der Umstände«, wie er sich auszudrücken pflegte, mit dem sein – wie es schien – unversöhnliches Schicksal ihn durch das ganze Leben zu verfolgen schien. Unter dem Vorwande, sich nach einem Patienten umsehen zu wollen, hatte er gegen Abend bewegt seine Kinder auf die Stirn geküßt und den herzzerreißenden Abschied von seiner Frau genommen, ohne den er sie auch nicht auf eine einzige Stunde verließ und sich auf den Weg zu seinem alten Freund und heimlichen Leidensgenossen, Kaufmann Villing, begeben, um bei ihm Trost in seinem Elend zu suchen und möglicherweise einen kleinen »Vergessenstrank«, wie er es nannte, zu bekommen. Da wollte es das Unglück, daß er gerade vor dem Torwege des Pfarrhofes Emanuel begegnete, der ihn voll freudiger Überraschung gleich unter den Arm nahm und ausrief:

»Das ist wirklich hübsch von dir, lieber Freund, daß du uns endlich einmal wieder besuchen willst. Herzlich willkommen, mein Lieber!«

Und nun saß er hier auf der Bank zwischen »Kuhhirten und stinkenden Stallknechten«, wie er im stillen mit einer Wut dachte, die die Geschwüre in seinem Gesicht ganz blau anschwellen ließ. Ringsumher an den Wänden des Zimmers war die Unterhaltung abgeflaut und schließlich fast ganz verstummt. Man saß da und wartete darauf, daß Emanuel oder einer von den andern irgendwelche Unterhaltung zum besten geben würde, eine Erzählung vorlesen, ein Märchen auslegen oder dergleichen. Emanuel bemerkte indessen dies Schweigen gar nicht. Nachdem er jeden einzelnen der Anwesenden begrüßt und allen die Hand gegeben, hatte er am oberen Tischende Platz genommen, wo er allmählich in eine tiefe Geistesabwesenheit versunken war. Die Versammlung beim Dorfschulzen setzte seinen Sinn noch in Bewegung und ließ seine Gedanken in zitternder Erwartung der Zukunft entgegenfliegen.

»Wollen wir denn heute abend gar nichts anfangen?« sagte endlich eine kecke Stimme von der Bank der Mädchen her.

Dieser ungeduldige Ausruf und das leise Lachen, das er ringsumher hervorrief, erweckten Emanuel endlich. Er sah auf und sagte:

»Du hast recht, Abelone! Laßt uns versuchen, etwas anzufangen! . . . Hast du uns heute abend nicht etwas zu erzählen, Anton?« wandte er sich an einen braunbärtigen, priesterlich aussehenden kleinen Mann mit weißem Schlips und Käppchen, der zurückgelehnt in einem alten Korbstuhl am andern Ende des Tisches saß, die Hände um einen großen, hölzernen Pfeifenkopf gefaltet. Dies Männlein war der neue Schullehrer der Gemeinde, der bekannte Anton Antonsen, ein ehemaliger »Wanderlehrer«, der auf das Ansuchen des Gemeinderats als des alten Mortensens Nachfolger angestellt war. Als Antwort auf Emanuels Frage legte er den Kopf schelmisch auf die Seite und sagte langsam und mit breitem Dialekt:

»Nein, heute abend, glaube ich, will ich sagen, wie es in dem guten, alten Sprichwort heißt: ›Reden ist Silber, Schweigen ist Gold!‹«

Die Munterkeit, die diesen Worten von allen Seiten folgte, fast noch, bevor er sie ausgesprochen hatte, war bezeichnend für die Volksgunst, der dieser Mann sich erfreute. Seine drollige, kleine Person im Verein mit einer sogenannten »volkstümlichen Laune« hatten ihn zu dem belebenden Element der Gemeinde gemacht, und seine scherzhaften Reden, sein Sprichwörterschatz und seine humoristischen Vorlesungen bildeten allmählich einen fast unentbehrlichen Abschluß aller Volksfeste und Vortragsversammlungen in der Gegend.

»Ja, aber hör' doch mal, Anton«, sagte ein Knecht, der noch nicht ganz fertig ausgelacht hatte. »Du könntest uns doch heut abend gern ein bißchen was vorlesen! Es ist wirklich schrecklich lange her, seit wir was von dir gehört haben! Du vergißt wohl ganz, daß du uns noch die Geschichte von Stine schuldig bist, die auf die Hochschule kommt!«

»Ach ja – laß uns sie hören! – Anton, sei mal ein bißchen nett heut abend!« baten gleichzeitig eine ganze Menge Stimmen.

Der Schullehrer schloß das eine Auge und sah sich mit einem Lächeln um, das immer breiter wurde und immer mehr zum Lachen anreizte, je lauter die Bestürmung ihn umwogte.

»Na ja, Kinder«, sagte er, als schließlich auch die Frauen am Ofen zu betteln begannen. »Wenn wirklich sonst niemand was auf dem Herzen hat, will ich mich nicht rar machen. Denn ich will nicht schuld daran sein, daß Stine nicht auf die Hochschule kommt.«

»Aber wollen wir nicht erst mal ein Lied singen!« ertönte abermals die kecke Stimme aus der Schar der Mädchen.

Sie gehörte der schönen Abelone, der Dienstmagd des Pfarrhofes, einer kräftigen Gestalt von zwanzig Jahren mit schwarzen Bändern in dem weißblonden Haar, einer großen Rose am Busen und dem Kennzeichen der Hochschulzöglinge, dem fest um die Taille geschnallten blanken Ledergürtel.

»Ja, laßt uns singen!« stimmte Emanuel ein. »Laßt uns ein Vaterlandslied singen! Das haben wir nötig in diesen Zeiten!«

Sobald der Gesang beendet war, ward es still in der Stube. Die Burschen setzten sich zurecht, die Ellbogen auf den Tisch und die Mädchen ließen die Handarbeit sinken oder steckten sie ganz in die Kleidertasche unter die Schürze, um Anton ordentlich beobachten und seinem Mienenspiel folgen zu können, während er las. Als Vorleser und Erzähler war der Schullehrer in den Augen dieser Leute einzig dastehend, konnte jedenfalls nur mit dem alten Hochschulvorsteher drüben in Sandinge verglichen werden. Aber während dieser Mann, wenn er seine Märchen und altnordischen Sagen erzählte, durch seine eigene atemlose Hingerissenheit gleichsam das Dach über den Häuptern der Zuhörer in die Höhe hob und mit seiner merkwürdigen Hahnenkrähstimme alle Riesen, Kobolde und Walküren der Sagen so leibhaftig vor alle Augen zauberte, daß es war, als sähe man sie als blitzknatternder Zug der Aasen vorüberfahren, lag Schullehrer Antons stärkste Seite in der einfachen, moralisierenden, alltäglichen Erzählung, die in der letzten Zeit in der Literatur Mode geworden war. Namentlich verstand er es, der komischen Personen verschiedene Art und Weise zu reden und sich zu bewegen, wiederzugeben, und er konnte seine drollige, kleine Gestalt zum Lebendigmachen der Darstellung verwenden, wie man das hier bisher nicht gekannt hatte.

Hierdurch trug er mächtig dazu bei, daß diese alltägliche Poesie mehr und mehr die alte romantische Dichtung verdrängte, für deren Größe namentlich Emanuel den Sinn zu erschließen bemüht gewesen war, die aber nie so recht den Beifall der Zuhörer hatte erringen können; sie hatte sie im Grunde verlegen gemacht, infolge der Freiheit, mit der die alten Dichter beständig die Reize des Frauenkörpers und die sinnlichen Freuden priesen. In den Dichterwerken der neueren Zeit hingegen, in diesen bald gefühlvollen, bald humoristischen, stets nüchternen Wirklichkeitsbildern, oft von Schullehrern und andern aus der Mitte des Volks hervorgehenden Leuten verfaßt, erlebten sie ihre eigenen täglichen Kämpfe und Gemütsstimmungen wieder. Hier fanden sie außerdem den sittlichen Ernst, die volkstümliche Grundanschauung, die Forderung nach Wahrheit und das Gerechtigkeitsbedürfnis, die die tiefsten Saiten in ihrer Brust erklingen machten.

* * *

Am selben Abend saßen Kaufmann Villing und seine Frau in ihrer kleinen, drückend erwärmten Wohnstube neben dem Laden. Eine Lampe auf hohem Fuß brannte mitten auf dem Tisch unter einem roten Papierschirm und warf einen traulichen Schein auf Frau Villing, die mitten auf dem Sofa saß und strickte, während Villing den Platz im Lehnstuhl an der andern Seite des Tisches einnahm und aus einer Zeitung vorlas.

Draußen im Laden war es leer und still. Eine heruntergeschobene Lampe hing von der Decke herab und schwelte zwischen Pferdestriegeln und Bindfadenknäuel, und in dem tiefen Schatten hinter einem großen Branntweinanker saß der geisterhafte Lehrling, der regelmäßig jedes zweite oder dritte Jahr aus der Hauptstadt erneuert wurde, der aber dessenungeachtet immer dasselbe magere, scheue, skrofulöse Wesen blieb, das die Leute nun fast zwanzig Jahre verwirrt um Villings Ladentisch hatten herumfahren sehen. Er war in diesem Augenblick eingeschlafen, den Kopf an die Wand gelehnt, mit weitgeöffnetem Munde und hatte beide Hände so tief in seine Taschen gesteckt, als sei es mit dem innigsten Wunsche geschehen, sie nie wieder herausziehen zu brauchen. Während der letzten zwei Stunden hatte ihn nun auch niemand gestört. Villings Laden, der in alten Zeiten stets voll von Kunden gewesen war, stand jetzt den größten Teil des Tages ganz leer. Seine volkstümliche Bekehrung war zu spät gekommen; von dem Umsatz der Gegend hatte der große Skibberuper »Konsumverein« ihm allmählich nur noch den Schillingshandel mit den armen Leuten des Dorfes, ein wenig Kohlengeschäft, sowie den Verkauf von Branntwein und Bier überlassen.

So schwer nun auch diese Jahre der Prüfung auf Villing und auf seiner Frau gelastet, hatten sie ihnen doch eigentlich nichts von ihrem Aussehen genommen. Seine eigene kleine Person mit dem breiten Kopf und den kleinen blonden Backenbärten hatte eher noch an rosenrotem Fett zugenommen; und wenn auch Frau Villing bei der Handarbeit eine Brille benutzen mußte, so hatte ihr Gesicht doch seinen jugendlichen, nonnensanften Ausdruck bewahrt, und zeugte davon, daß auch sie Ruhe in dem Glauben an das gefunden hatte, was ihr Mann gottergeben die Überlegenheit der fachgültigen Ausbildung und ihren endgültigen Sieg nannte. Nun hatten sie freilich auch versucht, den Zurückgang des Ladengeschäfts zu ersetzen, indem sie heimlich und gegen genügende Sicherheit und solide Zinsen Geld ausliehen. Verschiedene Leute in der Umgegend hatten, wenn sie in Verlegenheit waren, von Villing eine »Handreichung«, wie er es nannte, angenommen. Und infolge der mageren Jahre und des stets wachsenden Interesses der Bauern für geistige Fragen, das der Fürsorge für und der Ehrfurcht vor Acker und Stall ein wenig Abbruch tat, hatte er in den letzten Jahren gute Geschäfte mit seinem kleinen Kapital gemacht.

Die Zeitung, aus der Villing vorlas, war ein reaktionäres Blatt aus der Hauptstadt, das namentlich wegen seiner ausführlichen »Personalien« aus den höheren und höchsten Gesellschaftskreisen der Residenz bekannt war. Von frühester Zeit an war dies Blatt die liebste, ja eigentlich die einzige Lektüre des Ehepaars gewesen, und obwohl es in diesen bewegten Zeiten nicht ungefährlich für sie war, ein so übel angesehenes Regierungsblatt in ihrem Hause zu haben und trotz des ausgebreiteten Spionagesystems, das Weber Hansen hier beständig unterhielt, konnten sie sich die Möglichkeit nicht denken, es aufzugeben. Doch abonnierten sie nicht selbst auf das Blatt, sondern ließen es sich heimlich durch einen Geschäftsfreund in Form von Packpapier mit Warensendungen zustellen.

Heute abend war ihnen nun ein besonders großer Genuß vorbehalten. Die Zeitung enthielt nämlich die spaltenlange Beschreibung eines glänzenden Hoffestes, und Villing, der während des Vorlesens niemals an dem priesterlichen Beben der Stimme sparte, mit dem unstudierte Leute so oft ihre Rede ausstatten, sobald sie mit dem gedruckten Wort in Berührung kommen, hatte diese Gelegenheit zur Entfaltung seines ganzen deklamatorischen Talents benutzt. Mit dem festen Griff in seinen einen Backenbart, der bei ihm unzertrennlich von jeder erhabenen Gemütsbewegung war, las er folgendes:

»Mit der Präzision, die ein geistreicher Schriftsteller die Höflichkeit der Fürsten genannt hat, kamen die allerhöchsten und höchsten Herrschaften präzise neun Uhr an, gefolgt von einem, in der wahren Bedeutung des Wortes, stattlichen Gefolge. Der feenhaft erleuchtete Rittersaal gewährte in diesem Augenblick den glänzendsten Anblick. Die bunten Uniformen der Herren und ihre sternenbedeckten Aufschläge, vor allem aber die prachtvollen, von Diamanten, Rubinen und Saphiren funkelnden Toiletten der Damen waren von geradezu überwältigender Wirkung. – – Ja, es muß großartig gewesen sein, nicht wahr?« unterbrach er sich und warf einen verzückten Blick zu seiner Frau hinüber.

»Das glaube ich! . . . Aber lies nur weiter, lieber Mann!«

»Se. Majestät der König, dessen trotz des Alters unverändert jugendliches Aussehen allgemeine Freude und Bewunderung hervorrief, trug die Generalsuniform der Garde, geschmückt mit dem blauen Band des Elefantenordens. Ihre Majestät die Königin, die ungewöhnlich angeregt und jugendlicher denn je aussah, war in ein weißes Spitzenkleid über einer hellila Brokatrobe mit einer fünf Ellen langen Schleppe gekleidet; dazu Opalschmuck um Hals und Arme und einen hellila Federpompon im Haar. – Stell' dir vor, Sine! Hellila Brokat mit einer fünf Ellen langen Schleppe! Rechnen wir 12 Ellen gewöhnliche Breite à – sagen wir 50 oder auch nur 45 Kronen, das macht 540 Kronen allein für den Stoff!«

Frau Villing, die die Wange an die eine Stricknadel gelegt und in dieser gedankenvollen Stellung den Blick über den Rand der Brille zur Decke erhoben hatte, fügte hinzu:

»Und fünfzehn Ellen Spitzen à 25 Kronen macht 375 Kronen.«

»Zusammen also 915 Kronen!«

»Niedrig gerechnet!«

»Allein für den Stoff! Das kann man ein Prachtstück nennen, wie? Aber gehen wir weiter! – Ihre Königliche Hoheit, die Frau Kronprinzessin –«

»Na, nun wollen wir einmal hören!« rief Frau Villing aus und setzte sich mit ihrem Strickzeug zurecht.

»Ihre Königl. Hoheit die Frau Kronprinzessin« – wiederholte Villing mit erhöhter Stimme – »trug ein ausgeschnittenes Kleid aus hellblauem Atlas, die Robe mit silbernen Lilien durchwebt . . . hellblauer Atlas und silberne Lilien, du! . . . Im Haar ein Diadem von blitzenden Diamanten, außerdem einen wahrhaft fürstlichen Überfluß an funkelnden Steinen auf Hals, Busen und Armen, sowie in den Raffungen der Robe! Namentlich erregte ein Ohrenschmuck aus Brillanten, so groß wie Spatzeneier bewunderndes Aufsehen. – Hast du je so was gehört, Sine? Brillanten, so groß wie Spatzeneier. Mit andern Worten ein ganzes Rittergut in jedem Ohr. Das muß ein großartiges Gefühl sein!«

Hier unterbrach er sich abermals, indem er den Kopf mit einem lauschenden Ausdruck erhob. Drüben von der andern Seite des Dorfteichs schallten muntere Stimmen herüber und man hörte eine Schar Mädchen sich singend aus dem Dorf entfernen.

»Na, denn is' die Klatschversammlung heut abend woll vorbei«, sagte er und sah nach der Uhr über dem Piedestal. Die Uhr ist ja auch schon neun. Nun – wie weit sind wir denn gekommen? Also! – unter den Toiletten der aristokratischen Gäste bemerkten wir namentlich folgende: Sr. Exzellenz des Konseilpräsidenten Gemahlin – –«

In diesem Augenblick begann die klappernde Glocke über der Ladentür zu läuten. Villing legte hastig die Zeitung zusammen, bereit, sie in der Tischschublade zu verwahren. Aus dem Laden hörte man murmelnde Stimmen und Flaschengeklirr. Dann ertönte die Glocke von neuem, und die Tür da draußen wurde geschlossen.

»Elias!« rief Villing mit Donnerstimme.

Das verschlafene Gesicht des Lehrlings zeigte sich in der halbgeöffneten Tür.

»Wer war da?«

»Da waren Svend Bier und Per Schnaps . . . sie wollten einen Pott haben.«

»Gut. Jetzt kannst du abschließen und zu Bette gehen. Aber laß dein Licht nicht zu lange brennen, Junge! – Gute Nacht!«

Als die Tür wieder geschlossen war und sie sich vergewissert hatten, daß der Junge wirklich gegangen war, griff Villing wieder zur Zeitung, um die Vorlesung fortzusetzen. Abermals wurde er jedoch durch das Klappern der Ladenglocke unterbrochen. Diesmal wurde die Tür da draußen schnell und lärmend geöffnet; man hörte, wie die Klappe des Ladentisches in die Höhe geschlagen und ein Mann hereingelassen wurde. Villing hatte kaum die Zeitung in die Tischschublade geworfen, als die Wohnstubentür sich auftat.

»Ach! Sie sind es!« sagte er mit einem Ausruf der Erleichterung, als er Tierarzt Aggerbölles breite Gestalt, von Regen tropfend, eintreten sah.

»Wo, in aller Welt, kommen Sie denn um diese Zeit des Abends her?«

»Ich? . . . hm! Ich komme von einem Patienten,« murmelte Aggerbölle finster und sah sich nach einer Stelle um, wo er Hut und Stock anbringen konnte.

»Ein Hundewetter! ein Schmutz! man kann fast nicht wagen, in die Stube ordentlicher Leute hineinzukommen, so wie man aussieht.«

»Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, bei uns einzusehen,« sagte Frau Villing freundlich und warf ihrem Gatten, der sich keine sonderliche Mühe gab, seine Verstimmtheit über den Besuch zu verbergen, einen mahnenden Blick zu.

»Wir sitzen jetzt ja so viel allein und freuen uns immer, wenn wir unsere Freunde sehen . . . Nun, wie steht es denn da draußen bei Ihnen in all dem Regen und der Nässe, die wir in der letzten Zeit gehabt haben?«

Aggerbölle tat, als überhöre er ihre Frage. Er nahm Platz auf einem Stuhl am Tische, wo er mit düsterer Miene anfing, halblaute Flüche über die Menschen und die Weltordnung auszustoßen. So pflegte er sich zu gebärden, wenn er kam, Geld zu leihen, oder zu versuchen, seinen abgelaufenen Kredit zu verlängern, und Villing verhielt sich deswegen schweigend. Sie hatten kürzlich den letzten Rest von des Tierarztes Mobiliar mit Pfand belegt und wußten, daß da jetzt nichts mehr bei ihm zu machen sei.

Plötzlich warf er sich in einem Anfall von Galgenhumor in den Stuhl zurück und sagte:

»Geben Sie heute abend bißchen was Warmes, Villing? Ich sollt' meinen, man hätt' eine kleine Stärkung nötig bei dem Hundewetter!«

Der Kaufmann und seine Frau wechselten fragende Blicke und es entstand ein kurzes Schweigen. Dann erhob sich Frau Villing und ging in die Küche.

»Nun, wie geht es denn?« fragte Villing mit dem Mitleid, das man bereitwillig seinem ausgeplünderten Opfer schenkt, und klopfte ihm freundschaftlich aufs Bein.

»Miserabel, natürlich! . . . Wie sollte es sonst auch wohl gehen?«

»Ja, wir Geschäftsleute müssen ja leider auch klagen. Überall Flauheit im Absatz und Fallen der Preise! Wo will das noch hin? . . . Ich sagte das eben auch gerade zu meiner Frau. Wie schade, sagte ich, daß man seinen Kunden nicht leichtere Abwicklungsbedingungen anbieten kann. Ich will gar nicht einmal von der Freude reden, die es einem machen würde, alten Freunden und guten Kunden aus einer augenblicklichen Verlegenheit zu helfen, überhaupt mit Rat und Tat zu helfen, wo es not tut. Aber in diesen Zeiten wird es einem selbst schwer, seinen Verpflichtungen nachzukommen. Ich weiß in diesem Augenblick wahrhaftig selbst nicht, wo ich die Mittel hernehmen soll, um über den nächsten Termin hinwegzukommen. Sie können mir glauben, das ist wirklich hart, wenn man in meinem Alter ist und an die 20 Jahre – ich kann wohl sagen redliche – Anstrengung hinter sich hat. Ich bin in diesem Augenblick ganz blank – ganz blank!«

Der Tierarzt, der diese Rede schon früher gehört hatte, und ihren Sinn vollkommen verstand, brummte einige unverständliche Worte in den Bart hinein und warf ungeduldige Blicke nach der Küchentür hinüber. Er war wirklich in der Hoffnung gekommen, hier ein paar Kronen leihen zu können, hatte aber in diesem Augenblick für nichts weiter Gedanken als für die bevorstehende Selbstbetäubung.

Endlich erschien Frau Villing mit einem Teebrett. Aggerbölle nahm sofort ein Glas, bedeckte den Boden eben mit Wasser und schenkte es voll Kognak; und ohne weder ein Anstoßen noch ein Zutrinken abzuwarten, führte er es mit zitternder Hand an seine Lippen und leerte es halb.

»Nun,« rief er nach einer Weile aus, von dem Spiritus schnell geschwätzig gemacht, und nahm in seiner Lieblingsstellung Platz, die Arme über der Brust gekreuzt . . . »Lassen Sie uns hören, gibts denn nichts Neues zu erzählen?«

»Neues? Lassen Sie mich mal sehen!« sagte Villing, der da saß und gewissenhaft in seinem Glas herumrührte. »Ja, das ist das Neue, daß heute nachmittag Sitzung beim Schulzen gewesen ist.«

»Nennen Sie das was Neues? Zum Teufel auch! Ich sollt' meinen, die haben jeden Tag, den Gott werden läßt, Sitzung! Diese Bauernbiester haben ja heutzutage nichts weiter zu tun! Die Milch schicken sie in die Meiereigenossenschaften und die Schweine in die Schlachtereigenossenschaften . . . dann können sie ja so schön nach Hause gehen und sich wichtig machen! Nein, das war anders in früheren Zeiten, Bruder!«

»Die Vertrauensmänner sollen heute zusammengekommen sein!«

»Die Vertrauensmänner!« fuhr Aggerbölle auf. »Sollen wir am Ende wieder in den politischen Skandal 'reingezogen werden! Es sind ja kaum acht Tage her, seit wir hier eine Versammlung gehabt haben! . . . Ja, sag' ich es nicht! Man kann sich die Leber aus dem Leib herausärgern, wenn man daran denkt, was diese Hängerüssel hierzulande zusammengeschweinigelt haben! Wie haben sie nicht gemordet! . . . Ja, ich sage gemordet!« wiederholte er mit erhobener und geballter Faust, »gemordet und begraben den letzten Rest guter alter dänischer Gemütlichkeit mit all ihrem verdammten Lämmergeblök! Das hätt' der alte Didrik Jacobsen man wissen sollen! Haben Sie den alten Didrik Jacobsen noch gekannt, Willing? Das war ein Staatskerl! Seine großen Weihnachtsschmäuse, wie . . . mit Schweinebraten von zwei, drei Liespfund und Rotkohl und Schnaps und altem selbstgebrauten Bier und einem steifen Kaffeepunsch, der einen ein bißchen über die Sorgen und Enttäuschungen des Lebens trösten konnte! . . . Und die Fastnachtswoche, Villing, wo wir fünf Nächte lang keinen Schlaf in die Augen kriegten! Das war eine Zeit, wo es sich noch verlohnte, zu leben!«

Villing und seine Frau wechselten wehmütige Blicke. Auch bei ihnen riefen Aggerbölles Worte liebe Erinnerungen wach. In ihrem Laden waren nämlich viele von den erwähnten guten Sachen gekauft worden, und es hatte zu den glücklichsten Augenblicken ihres Zusammenlebens gehört, wenn sie am Abend nach so einem Festschmaus, wo zuweilen über hundert Personen feste getrunken und gegessen hatten, sich über das große Hauptbuch gebeugt, nebeneinander auf das Sofa setzten und mit einer neuen Stahlfeder die umfangreiche Rechnung ausschrieben und die ellenlangen Zahlenreihen zusammenzählten.

»Und Sören Himmelhund!« fuhr Aggerbölle fort, sich immer mehr in seinen Erinnerungen vertiefend. »Wissen Sie wohl noch, Villing – damals, als er einen ganzen Maststier zu seinem Branntweinfest schlachtete? . . . Was kriegt man jetzt wohl? Kaum einmal ein ordentliches belegtes Butterbrot auf 'ner Hochzeit! Bloß einen Schluck lauwarmen Kaffee mit einem Zuckerkringel dazu! . . . Und übrigens Plärrgesänge und Jubellieder und Freundesworte und schweißige Händedrücke! Und das will das neue Volk des Fortschritts sein? Das will die Jugend des Landes sein? Nieder mit dem Pack! Nieder mit den Hallunken, sag' ich!«

Die Erinnerung an die zweistündige demütigende Qual, die er eben im Pfarrhause hatte ausstehen müssen, hatte ihn ganz außer sich gebracht. Villing beschwichtigte ihn ganz bestürzt, und schließlich schien er auch selbst ein wenig bedenklich zu werden über die Kühnheit seiner Worte. Er hielt plötzlich inne – und es wurde einen Augenblick so unheimlich in der Stube, als habe sich Weber Hansens Schatten unsichtbar durch den Raum geschlichen.

»Wie geht es denn zu Hause bei Ihnen, lieber Aggerbölle?« fragte Frau Villing jetzt, um der Unterhaltung eine andere Richtung zu geben.

Der Tierarzt machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand und wandte den Kopf mit der schmerzlichen Grimasse ab, zu der sich sein Gesicht immer verzog, wenn jemand mit ihm von seiner Frau sprach.

»Sprechen wir nicht davon, Frau Villing! das regt mich so schrecklich auf! . . .

. . . Es ist mein Trost, daß das, was ich infolge der Ungunst der Zeit und – lassen Sie mich nur hinzufügen – infolge eigener Schwäche jetzt leiden muß, das leide ich für meine arme Frau und für meine unschuldigen kleinen Kinder. Wäre es nicht ihretwegen gewesen, wahrlich, ich hätte mich längst wie ein Mann erhoben und den Hallunken meine Verachtung gerade in die Augen gespien! Aber ich habe es mir ein für allemal gelobt, daß ich meiner lieben Frau und meinen armen kleinen Kindern dies Opfer bringen will . . . Für sie will ich den bitteren Kelch bis auf die Neige leeren! – Nein, wahrlich, beste Frau Villing – darin irren Sie! Ein so hartherziger Henkersknecht bin ich denn doch nicht, daß ich aus Rücksicht auf meinen Stolz meine Sophie mehr leiden lassen sollte, als sie schon tut!«

»Aber, lieber Herr Aggerbölle, ich habe ja gar nicht gesagt –!« wandte Frau Villing zaghaft ein.

»Nein, nein, meine beste Frau Villing! Sie kennen meine Sophie nicht . . . das ist die Sache! Sie haben sie nicht wie ich unter bald 20 Jahre langen bitteren Sorgen und Nöten geliebt. Dann lernt man es, Gott für ein gutes und getreues Eheweib zu danken . . . und das ist meine Sophie mir gewesen! Das Muster einer Frau und Mutter, kann ich wohl sagen . . . edel, aufopfernd, ein Engel an Geduld und so schön und so lieblich noch jetzt auf ihrem Schmerzenslager! . . .«

Der Kognak hatte angefangen, seine gewohnte Wirkung auf ihn auszuüben. Er setzte seinen Kneifer vor seine steif starrenden Augen, um seine Tränen zu verbergen, die im Begriff waren, hervorzuquellen. Seine Stimme war verschleiert vor Bewegung, und Worte wie Gesichtsausdruck verrieten die ungeschwächte Leidenschaft, mit der er seine Frau noch immer anbetete, und deren Feurigkeit einen ganz unheimlichen Eindruck auf diejenigen machen konnte, die den letzten hinschwindenden Rest eines Menschenlebens kannten, das sich Frau Aggerbölle nannte.

»Meine arme Frau ist in dieser Zeit schrecklich angegriffen!« fuhr er fort, indem er es aufgab, noch länger gegen seine Gemütsbewegung anzukämpfen. »Sie wissen ja, sie leidet an diesen schrecklichen Gesichten, an diesen Halluzinationen, sobald sie allein ist. Glauben Sie mir, es ist entsetzlich für mich, daran zu denken! Neulich abends als ich von einem Krankenbesuch nach Hause kam . . . es war etwas spät geworden, glaube ich . . . da sah ich schon von weitem, daß im Schlafzimmer Licht brannte; ich begriff, daß da etwas passiert sein müsse, und als ich hineinkam – ach, ich werde niemals den Anblick vergessen! – finde ich meine kleine Frau aufrecht im Bett sitzen, weiß wie das Bettuch und an allen Gliedern zitternd, wie im Todeskampf. Ich stürzte zu ihr hin, nahm sie in meine Arme; aber sie konnte anfänglich gar nicht sprechen. Meine geliebte Sophie, rief ich, was ist denn nur geschehen? Was ist denn nur geschehen!? Endlich hatte sie so viel Kräfte, daß sie mir erzählen konnte, sie habe etwas draußen um das Haus schleichen hören und habe schreckliche Gesichter an den Fensterscheiben gesehen, und man habe ihr zugerufen, man wolle zu ihr eindringen und ihre Kinder töten . . . Lauter Fieberphantasien natürlich, aber doch so entsetzlich, so entsetzlich, Zeuge von so etwas zu sein.«

Er vermochte sich nicht länger zu beherrschen. Tränenströme quollen ihm aus den Augen und er beugte sich vor und barg den Kopf in seine Hand.

»Aber, bester Herr Aggerbölle!« riefen gleichzeitig Herr und Frau Villing mit aufrichtigem Mitgefühl aus. Und indem ihn Villing ermunternd auf das Knie schlug, fuhr er fort: »Seien Sie doch nicht so untröstlich, mein Freund! Sie sollen sehen, die Sommerwärme wird Ihrer lieben Frau schon helfen. Wenn der Frühling kommt, vergessen wir alle die Plagen des langen Winters.«

Aber er hörte nichts mehr. Er war in die finstere, grübelnde Verzweiflung versunken, die eins der Stadien seiner Trunkenheit bildete. Endlich erhob er den schweren Kopf.

»Wissen Sie, was ich glaube?« sagte er mit einer heiseren, gleichsam fremden Stimme, indem er seine Hand erhob. »Es liegt Hexenkram hier draußen auf dem Lande in der Luft . . . Teufelei irgendwo . . .«

»Aber, Herr Aggerbölle!« jammerte Frau Villing. »Das haben Sie neulich auch schon gesagt. Sie machen uns ganz unheimlich zumute!«

»Verzeihen Sie, beste Frau Villing . . . aber Sie verstehen mich nicht! Ich glaube weder an Gespenster, noch an Geister- oder Spukerscheinungen mit dem Kopf unterm Arm . . . dergleichen Ammengeschichten zum besten zu geben, überlasse ich den Hängerüsseln. Aber ich sage, es gibt hier draußen eine andere Art Hexenwesen . . . etwas, was uns die Lebenskraft stiehlt, Frau Villing . . . und was denen, deren Wiege nicht hier draußen unter dem freien Himmel gestanden hat, Seele und Blut und Mark aus dem Körper melkt . . .«

»Hören Sie jetzt einmal, Aggerbölle,« unterbrach Villing ihn, »lassen Sie sich um Gottes willen nicht so gehen, lieber Freund! . . . Machen Sie sich noch ein kleines Glas Grog zurecht und sehen Sie zu, daß Sie auf etwas weniger trübe Gedanken kommen. Wir machen wohl auch noch ein kleines Spiel heut abend. Wir haben alle drei eine kleine Aufmunterung nötig in diesen schweren Zeiten.«

Als erwache er aus einem Traum, richtete sich Aggerbölle auf und fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar, unter einem heftigen und anhaltenden Schaudern, das ihm eigen war. Mit einem unsichern Blick schielte er zu der Uhr auf dem Piedestal hinauf und murmelte:

»Ich muß wohl sehen, daß ich nach Hause komme . . . ich glaube, ich hab' meiner Frau versprochen –«

»Nein, wissen Sie was, lieber Freund . . . in der Gemütsverfassung, in der Sie sich diesen Augenblick befinden, kriegen Sie wirklich keine Erlaubnis nach Hause zu gehen. Sie stecken Ihre Frau ja nur an mit Ihrer Schwermut. Bedenken Sie auch, daß ich neulich dreizehntausend Kronen von Ihnen gewonnen hab'. Sie müssen doch Revanche haben! . . . Liebe Sine, hol' die Karten her und mach' Herr Aggerbölle noch ein halbes Glas zurecht!«

Bei dem bloßen Anblick der Karten war Aggerbölles Widerstand gebrochen. Aber auch für das Ehepaar Villing waren diese Spielpartien kein so großes Opfer, wie sie sich gern den Anschein geben wollten. Freilich hatten sie infolge von Aggerbölles totalem Bankerott aufgeben müssen, um Geld zu spielen; aber ihr Interesse für das Spiel war wieder aufgelebt, nachdem sie auf den glücklichen Gedanken gekommen waren, doch eine Art Abrechnung zu machen und hierbei die Beten mit Summen von einer schwindelnden Höhe anzuschreiben, die ihre Phantasie in Bewegung setzte und ihre Leidenschaft für Zahlen und Addition stillte.

Bald saß man um den abgeräumten Tisch und verteilte die Karten zu einem sogenannten fliegenden L'hombre.

»Ich sage an,« meldete Aggerbölle, der die Vorhand hatte, sofort.

»Ich auch,« murmelte Frau Villing.

»Na . . . ich kann wohl mal überbieten,« meinte Villing und streckte die Hand aus, um die beiden Kaufkarten zu nehmen, die auf dem Tisch lagen. Aber Aggerbölle kam ihm zuvor. Er strich mit seiner schwammigen Faust die Karten beiseite und erklärte, er spiele mit denen, die er hätte.

»Halt' das Schiff fest, Schiffer, wir rollen ja,« lachte Villing, »Sie scheinen ja heut abend auf den Glücksplatz gekommen zu sein, Tierarzt?«

Aggerbölle setzte sich den Kneifer auf, den er sich vor ein paar Jahren angeschafft hatte, um damit seine Geistes- und Bildungsüberlegenheit den »Hängerüsseln« gegenüber zu konstatieren. Sein Gesicht, das bei seinem Eintreten blauweiß gewesen, war allmählich feuerrot geworden und dampfte von Spiritus. Als er sein Spiel gewonnen und seine Gegner außerdem noch »Jan« gemacht hatte, pflanzte er beide Hände in die Seiten und sah lächelnd bald den Kaufmann, bald seine Frau an und sagte:

»Weiß Gott, lieben Freunde! . . . hier sitzen wir ja recht vergnüglich beisammen!«



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