Henrik Pontoppidan
Das gelobte Land
Henrik Pontoppidan

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Fünfter Teil

Am folgenden Morgen kam ein Skibberuper von einem Besuch in Sandinge mit der beunruhigenden Nachricht nach Hause, daß der alte Hochschulvorsteher, der seit längerer Zeit schwächlich gewesen war, jetzt sehr krank geworden sei und nicht mehr leben könne. Wenige Stunden später kam ein Eilbote von da drüben mit der Mitteilung, daß er tot sei.

Mit diesem Manne verschwand wieder einer der ältesten Vorkämpfer der geistigen Befreiung des dänischen Bauernstandes, – der eigentliche Grundleger der volkstümlichen Bewegung in diesem ganzen Teil des Landes.

In einem Zeitraum von über dreißig Jahren hatte die »erleuchtete« Bevölkerung der Gegend zu ihm aufgesehen, wie zu einem Vater; und obwohl es ihm in letzter Zeit manch liebes Mal schwer geworden war, sich damit auszusöhnen, daß die junge Generation sich soviel mit Politik abgab, statt einzig und allein an das zu denken, das für ihn als das einzige dastand, was im Leben not tat, »die Erleuchtung und Verherrlichung des Geistes«, so war dies nie imstande gewesen, dem guten Verhältnis zwischen ihm und den Freunden auch nur den geringsten Abbruch zu tun. Je älter er wurde, je mehr sein großer Bart und die langen Nackenlocken die Farbe des Silbers annahmen, um so unverletzlicher war er geworden, um so größer die Ehrfurcht, die alle für ihn hegten. Für die Jungen war es, als hörten sie eine alte Sage, wenn er von den ersten, harten Zeiten der Volkssache redete, wo ihre Fürsprecher als Jugendverführer betrachtet wurden, die den Scheiterhaufen und das höllische Feuer verdienten. Es klang in ihren Ohren wie die Erzählung von einem heiligen Martyrium, wenn er auf seine halbscherzende Weise von der Zeit erzählte, wo er nach Apostelart zu Fuß von Dorf zu Dorf wanderte und seine Vorträge ringsumher in Torfschuppen und Knechtekammern abhalten mußte, von den Geistlichen und Schullehrern verfolgt wie ein Einbrecher, verhöhnt und verunglimpft von den Bauern selbst, die gar manches Mal ihre Hunde auf ihn gehetzt hatten, um ihn aus dem Dorfe zu jagen.

Es war daher nicht der gewöhnliche Schmerz über den Verlust eines Freundes, den die Nachricht von seinem Tode hervorrief; es war der tiefe und hoheitsvolle Kummer, der ein Volk bei gemeinsamem Unglück erfaßt. Selbst die Erregung der Skibberuper in Anlaß des Dorfschulzen legte sich für einige Tage, und die anberaumte Versammlung des Gemeinderats wurde bis nach dem Begräbnis hinausgeschoben. Sie fühlten alle, daß sie ihren Häuptling verloren hatten; überall sprach man nur von dem alten Hochschulvorsteher; man holte seine Photographie von der Wand über der Kommode herunter und betrachtet die lieben Züge des vollen Gesichts und die beiden schwarzen Punkte über den Wangen, die seine jugendlich lebhaften, hellbraunen Augen darstellen sollten. Man wiederholte Märchen, die er erzählt hatte, las seine alten Briefe wieder durch – kleine, hastig niedergeschriebene Zettel, voller Ausbrüche des Entzückens und warmer Freundschaftsversicherungen – und am Abend saß man draußen auf den Fliesen vor der Haustür und sang seine Lieblingslieder.

Auch im Vejlbyer Pfarrhause machte die Todesnachricht einen tiefen Eindruck; und Emanuel fand infolgedessen vorläufig keine passende Gelegenheit zu dem erklärenden und beruhigenden Wort, das er Hansine sagen wollte, um so mehr, als während derselben Tage auch noch auf andere Weise Unruhe ins Haus gebracht wurde. Eines Morgens, als Emanuel eine Stunde später als sonst in den Stall hinüberkam und dessenungeachtet Niels noch im Bett antraf, machte er seiner lange zurückgehaltenen Ungeduld in einer ernsten Ermahnungsrede Luft. Es kam zu einem Wortstreit zwischen ihnen, in dem Emanuel in einem Augenblick der Erregung ihm befahl, seine Sachen zu packen und den Pfarrhof zu verlassen. Niels nahm ihn augenblicklich beim Wort, und Emanuel merkte schon am nächsten Tage, als er einen neuen Knecht mieten wollte, daß das Geschehene eine starke Mißstimmung gegen ihn in der Bevölkerung hervorgerufen hatte. Einige boshafte Erzählungen, die Niels über seine Entlassung verbreitet hatte, hatten gleich guten Glauben gefunden. Wie die Skibberuper zueinander sagten: sie hätten es sich ja schon immer gedacht, daß Emanuel nicht so »vollkommen« sein könne, wie er sich gern den Anschein geben wolle. Vergeblich wandte er sich an verschiedene ledige Arbeiter, um doch wenigstens während der Ernte Hilfe zu haben; einzelne sagten geradeheraus nein, andere kamen mit sehr unverblümten Anspielungen auf seine allgemein bekannte Unzuverlässigkeit als Zahler und stellten ganz ungeniert die Forderung, erst »den Lohn zu sehen«. Seine Nachbarn und einige andere Leute aus der Gegend erboten sich wohl, ihm hin und wieder eine Handreichung zu tun; aber in der allgemeinen Erntegeschäftigkeit sandten sie freilich in der Regel eine Entschuldigung statt der erwarteten Hilfe.

Aus Ärger über das alles beging Emanuel schließlich die Unbesonnenheit, sich eines Tages an den gebrandmarkten Dorfschulzen zu wenden, der mit seiner gewohnten Freigebigkeit ihm sofort seine ganze Mannschaft zur Verfügung stellte und noch am selben Tage seinen halbkeimenden Roggen unter Dach brachte.

Aber damit war auch der Krieg erklärt.

* * *

Unter einer einzig dastehenden Beteiligung, mit einem Gefolge von über zweitausend Menschen, darunter ein halbes Hundert Geistlicher im Ornat, wurde der alte Hochschulvorsteher auf dem schönen Sandinger Kirchhof zur Ruhe bestattet. Über allen Dörfern im meilenweiten Umkreis wehten die Flaggen auf Halbmast, und vom frühen Morgen an wurde der Fjord von Segel- und Ruderböten, gedrängt voll schwarzgekleideter Menschen mit Blumenkränzen, durchkreuzt.

Es war ein trüber Tag, mit schweren Wolken, der unwillkürlich zum Trübsinn stimmte. Trotz der vielen Reden, die gehalten wurden, erst in dem geschmückten Vortragssaal der Schule, wo die Leiche aufgebahrt stand, später in der Kirche und schließlich am Grabe (im ganzen elf an der Zahl) blieb die Stimmung dennoch gedrückt. Noch sang man ja aus voller Brust die alten, frischen Lieder, aber es war nicht schwer, an dem Ton die Wirkung der Widerwärtigkeiten zu spüren, dem die ganze Freundesgemeinde in letzter Zeit ausgesetzt gewesen war.

Nach der Beerdigung hielt man eine Mahlzeit um die mitgebrachten Proviantkörbe ab, und da das Schulgebäude nicht annähernd die vielen Menschen beherbergen konnte, hatte man – trotz eines feinen, anhaltenden Regens – sich über den Garten und die anstoßenden Koppeln ausgebreitet, wo man unter Bäumen und aufgespannten Regenschirmen Schutz suchte. Man sah in dieser Versammlung alle Arten Volksfreunde, von zwei Würdenträgern des Kopenhagener Liberalismus – einem Advokaten mit goldener Brille und einem Zuckergroßhändler mit Kneifer – bis herab zu armen Häuslern, die viele Meilen gewandert waren und den Erntelohn des Tages geopfert hatten, um ihren treuen Fürsprecher und Freund zu seiner letzten Ruhestätte zu begleiten. Man sah Schullehrer, Zöglinge von Seminaren und Hochschulvorsteher von dem alten Typus mit langem Bart und großen Pilgerhüten wie von der neu auftauchenden Art mit dem Wesen des Weltmannes und modischer Kleidung. Hier wanderten ein junger Geistlicher und seine Braut Arm in Arm unter demselben Regenschirm und sahen sich liebevoll ins Auge –, er mit weichem Plüschhut und hochaufgestreiften Beinkleidern, sie mit aufgeschürztem Kleid und langen, flachen Galoschen. Hier standen einige Reichstagsbauern unter einem Baum und flüsterten miteinander wie in den Fensternischen des Folkethingssaals. Aus allen Teilen des Landes waren Abgesandte erschienen, die Kränze und Grüße von entferntwohnenden Freunden überbracht hatten; ja, sogar ein berühmter norwegischer Volksdichter und Kraftagitator, der sich gerade auf einer Vortragstournee in Dänemark befand, war zur allgemeinen Freude erschienen und erregte das größte Aufsehen mit seiner imponierenden Persönlichkeit und seiner lautschallenden Rede. Überall, wo er sich zeigte, scharte sich ein andächtig lauschender Zuhörerkreis um ihn, und namentlich wurde er auf eine zudringliche Art und Weise von Niels und einigen anderen jungen Burschen verfolgt, die wetteiferten, der Auserwählte zu sein, auf dessen Schulter er seine Hand legte, wenn er sprach.

Emanuel war erst spät gekommen. Gerade als er und Hansine am Morgen im Begriff standen, über den Fjord zu fahren, war ein Eilbote von Aggerbölle mit der Bitte erschienen, er möge kommen und seiner Frau, die im Sterben läge und kaum den Tag überleben würde, das Abendmahl reichen. So hatte denn Hansine allein fahren müssen; und die eigentliche Begräbnisfeier war zu Ende, als Emanuel sich schließlich einfand.

Er hatte sich nicht lange in der Menschenmenge aufgehalten, die Schutz vor dem Regen unter der breiten, hölzernen Galerie des Schulgebäudes gesucht hatte, als er von einem jungen Studenten angeredet wurde, der sich als Studiosus Sören Sörensen vorstellte und mit jütländischem Schnarren des »R« sagte:

»Ich irre doch nicht . . . Sie sind doch Emanuel Hansted . . . nicht wahr? Wie herrlich das ist! Wir haben Sie überall gesucht. Wir konnten uns ja denken, daß Sie hier sein würden . . . Sie müssen durchaus mit zu Lene Gylling hereinkommen. Sie hat die ganze Zeit nach Ihnen gefragt; sie will so herzensgern Ihre Bekanntschaft machen.«

Halb gegen seinen Willen wurde Emanuel die Treppe hinaufgeführt. Er war gar nicht in der Gemütsverfassung, mit Fremden, am allerwenigsten mit Leuten aus Kopenhagen zu reden; aber der eifrige Student hörte nicht auf seine Einwendungen und zog ihn triumphierend in den überfüllten Vortragssaal hinein, wo es nach Tannenzweigen roch und von Menschenstimmen summte.

Frau Gylling war eine vermögende Witwe, die eine Art von volkstümlichem Hof in Kopenhagen abhielt. Emanuel hatte oft von ihr reden hören als eine der besten Stützen der Freundesgemeinschaft, und nun sah er eine schöne, ältere Frau vor sich, die in einem Korblehnstuhl saß und sich mit einem kleinen, kugelrunden Geistlichen im Ornat und Samtkäppchen unterhielt, während einige andere umherstanden und andächtig zuhörten.

Bei Emanuels Anblick richtete sie sich lächelnd auf und begrüßte ihn mit einer Mischung von Verschämtheit und mütterlicher Wärme. Indem sie andauernd seine Hand in der ihren hielt, sagte sie fast zärtlich:

»So bekomme ich Sie denn endlich einmal zu sehen! Wie ungeduldig bin ich gewesen, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich habe ja soviel von Ihnen gehört, was Sie wohl verstehen können. Wir haben Sie alle mit der größten Freude in Ihrer reichen Erweckungstätigkeit verfolgt . . . aber warum gönnen Sie uns andern doch nicht ein wenig Freude von Ihnen? Ist es ganz unmöglich, Sie einmal in der Hauptstadt zu sehen; wir haben wahrhaftig auch da drinnen Bedürfnis nach jungen Erweckern, das können Sie mir glauben! Ich hatte vorhin die Freude, Ihre Frau zu begrüßen, und ich nahm ihr halbwegs das Versprechen ab, daß sie Sie bewegen sollte, gelegentlich zur Stadt zu kommen, und in unserer Gemeinde zu reden. Nun hoffe ich, daß sie so viel Macht über Sie besitzt, daß Sie kommen werden; . . . sie war so lieblich anzusehen, und es war so erfreulich, mit ihr zu sprechen!«

Das Gerücht von Emanuels Ankunft hatte sich schnell durch den ganzen Saal verbreitet. Von überallher strömten die Leute herbei, um den merkwürdigen Mann zu sehen, über dessen ideales Leben sich ringsumher in den Freundesgemeinden eine ganze Mythe gebildet hatte. Der kleine, kugelrunde Pastor hatte kaum seinen Namen gehört, als er die Arme um ihn schlang, sich auf die Zehenspitzen hob und ihm mit feuchtem Munde einen Schmatzkuß auf beide Wangen drückte.

»Nein, das also ist Emanuel Hansted!« hieß es überall. Mehrere Minuten lang war die Luft ringsum ihn erfüllt mit dem Laut seines Namens.

Er selber wünschte nur wegzukommen. Schmeicheleien waren ihm etwas zu Ungewohntes, als daß er an Frau Gyllings honigsüßer Rede hätte Gefallen finden können; und dies allgemeine Entzücken über ihn, diese Lobesworte von Leuten, die den wahren Zustand in seiner Gemeinde noch nicht kannten, drückten ihn nieder, demütigten ihn. Als der norwegische Dichter im selben Augenblick von einem Rundgang durch den Garten zurückkehrte, und durch einen seiner schallenden Ausrufe sofort die Aufmerksamkeit auf sich lenkte, benützte er deswegen die Gelegenheit, um sich zu entfernen und ging hinaus, um Hansine zu suchen.

* * *

Er fand sie endlich draußen – hinter dem Garten, wo sie unter einem Holunderbusch auf einem Zaun saß, in Gesellschaft einer großen, fremden Bauersfrau, die ihn schon von weitem dadurch in Erstaunen setzte, daß sie Hansinens eine Hand in ihrem Schoß hielt. Als er sich näherte, sah er, daß sie beide eine starke Gemütsbewegung zu verbergen suchten, und daß die Unbekannte sogar rote Augen hatte, als habe sie geweint. Im selben Augenblick erkannte er Hansinens Jugendfreundin, die rothaarige Ane, die vor sechs Jahren das Unglück gehabt hatte, sich mit einem »Skalling« zu verheiraten.

Die Skallinge waren ein Fischervolk, das auf einer Landzunge ganz draußen an dem offenen Meere wohnte. So wie ihrer Zeit die alten Skibberuper, plätscherten sie in nahen und fernen Fjorden herum und gingen ringsumher an den Küsten an Land, um ihren Fang abzusetzen. Von alters her bekannt für ihr wildes und trotziges Leben, hatten sie sich auch später völlig unempfänglich für die geistige Erweckungstätigkeit im Volke gezeigt, weswegen sie von allen Küstenbewohnern gemieden und verachtet wurden. Ane hatte bald nach Hansinens Hochzeit einen jungen schönen, schwarzhaarigen Skalling in der Provinzstadt getroffen und sich zu ihrem eigenen Entsetzen in ihn verliebt. Lange hatte sie gegen ihre Neigung angekämpft, die sie aus Scham nicht einmal Hansine anvertraut hatte; schließlich aber konnte sie dem kühnen Stürmen des jungen Fischers nicht mehr widerstehen, und eines schönen Tages war er in einem fürchterlichen Oststurm mit seinem Boot angesegelt gekommen und hatte sie selbst noch selbigen Abends und ihre alten Pflegeeltern bald daraus in seine Tangdachhütte hinübergeholt. Das Ereignis hatte seinerzeit peinliches Aufsehen unter der Bevölkerung der Gegend hervorgerufen; man hatte nicht geglaubt, daß sich Ane so vollständig von ihrer Leidenschaft könnte hinreißen lassen, und man bedauerte sie von Herzen wegen des Lebens, das sie da draußen zwischen den rohen Menschen führen würde. Zwischen ihr und Hansine waren einige Zeit nach der Trennung Briefe gewechselt worden, die jedoch von seiten Anes immer kürzer wurden, bis sie ganz verstummten. Hansine hatte sehr wohl verstanden, daß dies geschah, weil sie sich schämte, stets eingestehen zu müssen, daß sie glücklich war; und oft in den letzten Jahren, wenn ihr eigener Sinn niedergedrückt war und die Zukunft ihr am schwärzesten erschien, hatte sie an die alte Freundin ihrer Kindheit gedacht, als an diejenige, bei der sie in der Stunde der Not Zuflucht und Verständnis finden könne.

Emanuel war ein wenig sonderbar zumute, als er nach Verlauf so vieler Jahre die rote Ane wieder an Hansinens Seite auftauchen sah, namentlich da er aus ihrer Gemütsbewegung sofort ersah, daß sie gleich das alte Vertrauensverhältnis wieder angeknüpft und sich gegenseitig die Herzen erschlossen hatten. In einem Ton, der das Gepräge eines gewissen mitleidsvollen Wohlwollens trug, fragte er Ane, wie es ihr gehe und wie sie da draußen im Skallinglande lebe; und mit einer Offenheit, die ihn ein wenig verletzte, antwortete sie, daß es ihr gut gehe und erzählte, daß sie fünf gesunde Kinder und drei Schafe habe, daß sie und ihr Matthias sich im letzten Sommer ein neues Haus gebaut hätten, und daß Matthias sie aus eigenem Antriebe gefragt habe, ob er sie nicht zu dem Begräbnis des alten Hochschulvorstehers hinüberrudern solle, er habe doch einige Heringsnetze hier in der Nähe ausgeworfen, nach denen er sich gleichzeitig umsehen könne.

Sie hatte sich, während sie sprach, wieder neben Hansine hingesetzt und mit einem Anflug ihrer alten Beschützermiene ihre Hand ergriffen. Obwohl sie es nicht gerade heraussagte, war es ihr doch deutlich anzumerken, daß sie sich enttäuscht fühlte, durch das Wiedersehen mit ihrem alten Hochschulfreundeskreis, und daß sie sich nur danach sehnte, wieder nach Hause zu kommen, zu ihrem Strand, ihren Schafen, ihren Kindern und ihrem Matthias.

Emanuel fühlte sich immer unangenehmer berührt von ihrem Ton und ihrem Auftreten Hansine gegenüber. Er war so davon entwöhnt, sie anderen die geringste Vertraulichkeit erzeigen zu sehen, daß der Anblick ihrer Hand dort in dem Schoß der Freundin auf ihn fast wie eine Anklage wirkte. Sie saß still da und sah immerfort zu Boden; es war fast, als wenn sie seinen Blick mied. Er fühlte in diesem Augenblick so recht, wie sie in der letzten Zeit auseinandergekommen waren, und er gab sich selbst das Versprechen, daß von heute an nichts zwischen ihnen unausgesprochen bleiben sollte. Jetzt, wo scheinbar alle anderen Bande für ihn zerreißen sollten, jetzt, wo sie sicher viel allein sein würden, wollten sie einander wieder in vollem Verständnis finden und in der Innigkeit des Zusammenlebens Ersatz für das suchen, was sie nach außen hin verloren hatten.

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Hansine war während der ganzen Begräbnisfeierlichkeit sehr bewegt gewesen. Obwohl sie schon lange eine Vorahnung gehabt hatte, daß ihre Bekanntschaft mit der Sandinger Hochschule ihr teuer zu stehen kommen würde, hatte sie nie bittere Gefühle gegen den alten Vorsteher genährt. Jetzt, wo er fort war, erinnerte sie sich seiner mit Dankbarkeit für das viele Gute, was sie von ihm gelernt hatte; und namentlich hatten sich ihre Gedanken in diesen Tagen mit der Ermahnung beschäftigt, in Wahrheit und Selbstaufopferung zu leben, zu der er in seinen Reden an die Jugend beständig zurückkehrte. Unter dem Eindrucke seines Todes und da Emanuels Schweigen ihr mit jedem Tage ein schlagender Beweis dafür geworden, wohin sein Sehnen ihn unwiderstehlich zog, keimte in ihr ein Vorsatz, der nun an dem Grabe des alten Lehrers und durch die Wiedervereinigung mit der Freundin ihrer Kindheit zu einem Beschluß bei ihr gereift war. Sie sagte sich selbst, daß es fruchtlos sei, länger gegen das Unvermeidliche anzukämpfen, und daß es deswegen das beste sei, sowohl Emanuels, wie ihretwegen, namentlich aber um der Zukunft der Kinder willen, wenn eine entscheidende Veränderung in ihrem Verhältnis zueinander und in ihrem ganzen Leben eintrete. Sie hatte beschlossen, eines Tages ruhig mit Emanuel darüber zu reden; und ruhig und schonend wollte sie ihm dann sagen, was ihr mehr und mehr als der einzige Ausweg zu einem neuen und glücklicheren Leben für sie alle erscheine.

* * *

Der Regen hatte indessen nachgelassen, die Wolken hatten sich zerteilt und Emanuel sah nun, wie kleine Scharen von Männern und Frauen aus dem Garten hinaus auf ein Hünengrab zogen, das eine Strecke von der Schule entfernt auf einem Felde lag, und von wo aus der alte Vorsteher an den großen Gedenktagen der Nation zu reden pflegte. Emanuel schlug vor, daß auch sie dahingehen sollten . . . und etwas später erhoben sie sich denn auch und folgten ihm.

Die Menschenmasse, die sich allmählich um den auf der Höhe errichteten Stein geschart hatte, bestand zum wesentlichen Teil aus Vejlbyern und Skibberupern. Die Kopenhagener Gäste und der norwegische Dichter hatten sich bereits nach der Station begeben, um den Zug zu erreichen, und auch die entfernter wohnenden Teilnehmer der Zusammenkunft waren weggefahren.

Als Emanuel zusammen mit Hansine und Ane den Hügel erreichte, stand schon ein Mann da oben am Stein und redete zu der Versammlung. Es war eine weißbärtige Greisengestalt, und nach Sitte der ältesten Volksredner hatte der Alte den kahlen Kopf entblößt und drückte sich höchst feierlich aus. Er selber schien auch sehr ergriffen, aber seine Stimme war so schwach, daß selbst die Zunächststehenden es aufgegeben hatten, dem zu lauschen, was er sagte. Es war deswegen eine große Erleichterung für die Versammlung, als er endlich nach mehr als halbstündiger Rede schloß und in der heftigsten Gemütsbewegung hinunterstieg. Einen Augenblick später erschien er jedoch wieder, stand eine Weile mit verdutzter Miene da und befühlte sich von hinten und von vorne, bis er endlich mit einer Stimme, die plötzlich alle hören konnten, ausrief:

»Von euch hat wohl niemand ein rotes Taschentuch gefunden? Falls jemand es finden sollte, bitte ich euch, es in der Schule abzugeben.«

Unter einem kleinen Gelächter der Versammlung stieg er wieder hinab.

Der nächste Redner war der kleine pastorähnliche Anton Antonsen, der neue Schullehrer von Vejlby. Er trat mit Plüschhut auf dem Kopf und Tabakpfeife im Munde auf, aber auch er hatte keinen weiteren Erfolg. Seine drollige Männleingestalt paßte trotz des weißen Schlipses und der ganzen übrigen geistlichen Ausstattung nicht recht zu der Stimmung des Tages. Die letzten unruhigen Zeiten waren seiner Popularität überhaupt nicht günstig gewesen. Namentlich hatten die Skibberuper kein Ohr mehr für seine nüchterne, moralisierende, alltägliche Rede. Sie waren in Kriegslaune und wollten Posaunentöne hören, verlangten Kampfrufe und Siegesprophezeiungen.

Indessen war Emanuels Ankunft von verschiedenen der Anwesenden bemerkt worden, und als Anton schloß, verriet der gespannte Ausdruck auf den vielen Gesichtern, die sich ihm im selben Augenblick zuwandten, daß man von ihm erwartete, er werde das Wort ergreifen. Er empfand plötzlich selbst ein Bedürfnis zu reden, öffentlich Rechenschaft abzulegen über die sorgenvollen Gedanken, die ihn in der letzten Zeit erfüllt hatten. Er dachte bei sich, daß die Gemüter gerade an einem Tag wie dem heutigen, empfänglich sein müßten für das bittere Bekenntnis, das er doch früher oder später notgezwungen seinen Freunden ablegen mußte, was auch die Folge davon sein mochte.

Unter einem schwachen Gemurmel der Versammlung stieg er auf den Rednerplatz hinauf.

Er begann damit, dankbar des Freundes zu gedenken, dessen Bahre sie hier versammelt hatte und auf den sich mit Wahrheit das Wort anwenden lasse: Der Herr hat ihn gesegnet, und er ist zu einem Segen geworden. Aber, fragte er darauf, ob sich der liebe Verstorbene nicht trotzdem – und namentlich in der letzten Zeit – in seinen großen Erwartungen getäuscht gefühlt habe. Obwohl er selber nie davon gesprochen, sei doch Grund vorhanden, es zu glauben. Denn es hülfe ja nicht, es leugnen zu wollen, – den Freunden des Reiches Gottes sei augenblicklich eine ihrer Drangsalszeiten beschieden. Sie hätten eine große Schlacht verloren, – eine große Hoffnung sei ihnen fehl geschlagen. – Und wie alle Niederlagen, habe auch diese Mißtrauen und Zwietracht unter die Überwundenen gesät. Aber lieber, als den Versuch zu machen, die Wahrheit zu verhüllen und lieber als Anklagen der Mitschuld an dem Unglück gegeneinander hinauszuschleudern, solle man prüfend in sich hineinblicken und versuchen zu finden, was man verbrochen und wo man gefehlt habe. »Statt gegen Gott zu murren« – rief er mit wachsender Gewalt aus – »weil er diesmal unsere Hoffnung nicht erfüllte, sollten wir demütig unser Inneres erforschen und uns selbst fragen, ob wir nun auch wirklich reif waren, das Reich aus seiner Hand in Empfang zu nehmen?«

Es war schnell einige Unruhe unter den Zuhörern entstanden. Nach diesen letzten Worten wurde er von der einen Seite durch ziemlich unverschämte Zurufe unterbrochen.

Er ließ sich jedoch nicht stören, sondern fuhr fort:

»Glaubt nun nicht, daß ich hier als Selbstgerechter stehe, der nur anklagen will. Nein, ich erkenne es tief – und ich empfinde das Bedürfnis, es euch allen hier heute zu sagen – ich selbst bin schwach und habe Gottes Vertrauen nicht verdient. Ihr habt Anspruch darauf, es zu wissen: ich kenne die Augenblicke des Zweifels und der Versuchungen und muß täglich mit mir selbst kämpfen, damit nicht die Welt und ihre Eitelkeit Macht über meinen Sinn gewinnen –«

»Doktor Hassings« ertönte eine gellende Stimme von der nämlichen Seite wie vorhin, dort wo sich Niels' dicker Kopf im selben Augenblick hinter ein paar Burschen aus Skibberup verkroch, die laut zu lachen begannen.

Emanuel warf einen hastigen Blick dahin. Er war blaß geworden, bezwang sich aber und fuhr nach einer kurzen Pause mit seiner Rede fort:

»Die Wahrheit soll jetzt gesagt werden, wie übel sie sich auch anhört! Wir, die wir uns vermessen die Freunde der Wahrheit und Gerechtigkeit genannt haben, wir haben das schwere Schicksal verdient, das uns jetzt betroffen hat. Laut soll es bekannt werden: wir sind nicht reif gewesen! Stets sahen wir den Splitter in unseres Bruders Auge, wurden aber des Balkens in unserem eigenen nicht gewahr! Sagt mir, ist es das schlechte Gewissen, das jetzt aus euch spricht?« rief er durch den Lärm hindurch, mit dem man ihn jetzt von vielen Seiten zu übertäuben und zum Schweigen zu zwingen suchte. »Habt ihr das wirklich bisher nicht gewußt? Wohlan! Dann will ich es euch sagen: Hochmut und Unverträglichkeit, Unzucht und Verleumdung, Lüge und Verstellung treiben ihr Wesen hier, unter uns ganz wie in der Gesellschaft, zu deren Umsturz wir des Himmels Hilfe anrufen! . . . Das ist die Wahrheit! Aber Gott läßt sich nicht spotten! Er hat uns in den Staub hinabgedrückt, damit wir lernen sollen, uns selbst zu erkennen und zu sagen: Seht, so tief sind wir gesunken!«

Er konnte schließlich kaum mehr zu Worte kommen vor herausfordernden Zurufen. Es stieg wie ein Brüllen der Beschwörung zu ihm auf aus dem Meer der aufwärtsgewandten Gesichter, das ihn umwogte. Manche von ihnen drückten freilich Verlegenheit über den Auftritt aus; aber nicht eine Stimme erhob sich, um dem Spektakel Einhalt zu tun.

Als es ihm nicht länger möglich war, sich Gehör zu verschaffen, schloß er jäh mit der Äußerung des Wunsches, daß die Freunde der Wahrheit und der Gerechtigkeit aus der erlittenen Niederlage lernen möchten, daß nicht durch Selbstgerechtigkeit, sondern durch Selbstprüfung, nicht durch Hochmut, sondern durch demütige Selbsterkenntnis der Weg der Zukunft zu Aufrichtung und Sieg führe.

Kaum war er unter tiefem Schweigen herabgestiegen, als die Versammlung in laute Beifallsrufe ausbrach. Weber Hansen hatte bedächtig den Rednerplatz bestiegen.

Der Anblick des alten Kampfführers, der nun seit vielen Jahren in keiner Versammlung geredet hatte, wirkte wie eine Fanfare auf sie alle. Die eine seiner roten Hände um das Kinn, die andere auf den Rücken gelegt, ließ er die Blicke über die Menge hin und her gleiten, die ihn in erwartungsvoller Spannung umdrängte. Als endlich Ruhe entstanden war, sagte er lächelnd mit seiner sanften Stimme:

»Seht, das war nun doch eine recht merkwürdige Rede, die wir hier von Emanuel zu hören kriegten. Ich stand da unten und kniff mich in die Ohren und meinte, ich müßt' mich verhört haben. Schließlich sagt' ich zu mir selbst: du schläfst, Jens! Und du träumst, daß du unsern alten Propst Tönnesen hörst.«

»Hört! – Ein wahres Wort!« jubelten die Skibberuper.

»Denn es is ja nu mal so, daß ich immerzu an eine andere Rede denken muß, die uns Emanuel mal vor vielen Jahren gehalten hat . . . das war das allererstemal, als er in unserm alten Versammlungshaus da drüben in unserem Dorf zu uns geredet hat, damals waren da andere Triller in der Flöte als heut . . . Damals waren wir Bauernmenschen das Beste, was Emanuel kannte . . . ach, wir waren so herrlich, daß es beinah zuviel des Guten war. Ja, da sind woll noch 'ne ganze Menge von euch hier, die die Rede noch erinnern können; denn die hat ja damals solch schrecklich großes Aufsehen gemacht, und viele fanden ja, daß es 'ne ganz wunderschöne Rede war. Ich muß nu sagen, daß ich für mein Teil nich so himmelsbegeistert daüber war, und darum kommen mir Emanuels Worte heute auch nicht so überraschend. Denn es is ja nu mal so, daß wer den Mund zu voll nimmt, der muß in der Regel hinterher ausspucken! – Seht, das wo über Emanuel sprach, war ja nu, daß wir Landbewohner zu vergafft in uns selbst gewesen wären, und daß es uns darum in der letzten Zeit so schlimm ergangen is. Er meinte woll, nehm ich an, daß wir von den feinen Menschen in den Städten lernen sollen, denn würd' uns der liebe Gott woll geben, um was wir ihn bitten. – Ach nein! Da an glaub' ich nu gar nich so recht. Ich mein' ganz im Gegenteil, daß wir allzu willig gewesen sind, uns von all diesen vielen Kopenhagenern an der Nase herumführen zu lassen, die in den letzten Jahren hier und da aufgetaucht sind und sich Freunde der Volkssache genannt und sich ohne weiteres zu unseren Führern gemacht haben . . . und ich bin nu der Ansicht, daß das gerade der Grund is, warum es uns so schlecht gegangen is, wie es is! Es is so 'ne Art Mode unter den Leuten in den Städten gewesen, daß sie nu recht volkstümlich sein wollten, und wir Landbewohner, wir haben uns woll 'n bißchen reichlich dadurch geschmeichelt gefühlt, daß so viele feine und gelehrte Leute mit uns zu schaffen haben wollten; wir waren kurz davor, ganz von Sinn und Verstand zu kommen, bloß um es ihnen recht zu machen. Wir fanden ja, daß es ein so herrlich stolzes Gefühl war, wenn so ein Advokat mit 'ner goldenen Brille auf der Nas und so eine feine Frau kamen und uns auf die Schulter klopften und uns »lieber Freund« nannten. Und wenn sie denn noch obendrein hier herauskamen und sich hier häuslich niederließen, ganz als wenn sie zu uns gehörten, und sich noch dazu mit unsere Bauernmädchen verheirateten . . . ja, denn waren wir ja so beehrt, daß wir nich wußten, auf welchen Fuß wir stehen sollten. – Aber das war nu so 'ne Art Krankheit, glaub' ich, und ich hab' mir immer gedacht, wenn man sich bloß Zeit ließ, denn würd' sie schon wieder aus 'n Körper rausgehen. Und seht, da is nu was, was ich in letzter Zeit geglaubt hab' merken zu können, daß wir endlich damit fertig sind, die Narrenkomödie zu spielen, wozu wir Landleute uns aus lauter Dummheit haben verlocken lassen . . . am Ende auch in unserer eigenen Gemeinde. Wie denkt Ihr darüber, Freunde?«

»Ja, ja! – Hört, hört!« hallte es von den Skibberupern wieder.

Am äußeren Rande der Versammlung stand Emanuel. Wie ehrlich er auch mit sich selbst kämpfte, wie demütig er sich auch das strenge Gebot seines Herrn: »Schlägt dich einer auf die rechte Wange, –« vorhielt, sein Blut kochte, sein Stolz wand sich. Er verlor schließlich die Herrschaft über sich und wollte auf den Rednerplatz hinaufstürzen, aber im selben Augenblick packte ihn Hansine beim Arm und sagte:

»Laßt uns hier wegkommen!«

»Ja – fort . . . fort von hier!«

Gesenkten Hauptes entfernte er sich hastig, während die fortgesetzten Verhöhnungen des Webers und die Beifallsrufe der Freunde ihm wie Peitschengeknall um die Ohren sausten.

Auf dem Wege zum Strand hinab befiel ihn ein heftiger Weinkrampf, so daß er sich auf einen Grabenrand setzen mußte, während ihm Hansine den kalten Schweiß von der Stirn trocknete. Ane war ihnen gefolgt und bestürzt eine Strecke von ihnen entfernt stehen geblieben. Als der Anfall vorüber war, ging Hansine zu ihr hin und sagte, indem sie ihr die Hand gab:

»Dann ist es also eine Verabredung – wenn du von mir hörst?« –

»Aber ist es denn wirklich dein Ernst, Sine? Ich konnt' es vorhin nich' recht glauben.«

»Ja, jetzt ist es abgemacht, – wenn du mich haben willst.«

»Ob ich will, mein Lamm! das kannst du dir doch denken . . . aber was meinst du, wird Emanuel dazu sagen?«

»Das weiß ich nich. Aber ich werde dir schreiben. Auf Wiedersehen!«

Am Grabenrande hatte Emanuel den Kopf aufgerichtet. Durch Tränen sah er die dunkle Menschenmasse da oben auf dem Hügel und Weber Hansens sich hin und her wiegende Gestalt, sich von dem hellen Horizont abheben. Er gedachte der Zeit, als er hier hinausgekommen war, unter Gottes freien Himmel, in dem Glauben, hier das Menschenherz in seiner ursprünglichen Reinheit und Einfalt bewahrt zu finden – und da oben stand nun ein kluger Meister der Ränke und Verleumdungen und triumphierte über ihn! Er dachte daran, wie er hinausgezogen war, um das Evangelium des Friedens und der Liebe diesen Kindern des Erdbodens zu verkünden – und dort oben stand jetzt der Apostel des Hasses, der Henker der Barmherzigkeit und streckte seine blutroten Hände zum Himmel empor!

* * *

Erst am nächsten Morgen beruhigte sich Emanuels Gemüt so weit, daß Hansine mit ihm reden konnte.

»Was denkst du zu tun,« fragte sie, als sie nach dem Morgengebet allein in der Wohnstube saßen.

»Ich weiß es nicht, aber wir müssen ja fort von hier . . . Es bleibt uns kein anderer Ausweg . . . Ein kleines Pfarramt irgendwo in der jütischen Heide oder in den Dünen wird man mir wohl nicht verweigern. Und ich bedarf der Einsamkeit, um wieder zur Klarheit über mich selbst zu gelangen.«

»Daran sollst du nicht denken, Emanuel.«

»Was meinst du?«

»Du sagst, du mußt zu Klarheit mit dir selbst kommen. Aber wie kannst du denn daran denken, anderen ein Führer zu werden. Selbst wenn du wirklich eine andere Pfarre bekämst, würde es doch bald genau dasselbe für dich werden wie hier. Du würdest unzufrieden mit dir sein, und darum auch mit anderen und dich nur fortsehnen.«

»Aber was willst du denn, das ich tun soll?«

»Ja, siehst du, Emanuel . . . es nützt doch nich, daß wir länger Versteck miteinander spielen; wir können ja ebensogut offen darüber sprechen . . . Dir würd' es gut tun, wenn du eine Zeitlang zu deiner Familie zurückkämst und in die anderen Verhältnisse, wo du hingehörst; allein da kannst du doch erwarten, nach jeder Richtung hin wieder zu Frieden und Verständnis zu kommen. Darum meine ich nu, Emanuel, du solltst nich länger mit dir selbst kämpfen; es nützt doch woll nich'. Ich hab' mir so gedacht, du könntst gewiß eine Anstellung an einer Schule in Kopenhagen oder anderswo kriegen, wo du wieder mit deinem alten Verkehr zusammenkommen kannst; denn das hast du gewiß nötig, das kann ich mir so gut denken.«

Emanuel sah sie überrascht an.

»Aber, Hansine, willst denn du es?«

»Ich?« sagte sie und beugte sich noch tiefer über den Schoß ihres Kleides, den sie während der ganzen Unterhaltung mit den Händen geglättet hatte. »Ich will am liebsten das, wovon ich glaub', daß es das beste für uns allzusammen is.« –

Schon am nächsten Tag fuhr Emanuel nach der Bezirksstadt, um sich mit dem Bischof auszusprechen und um seinen Abschied einzukommen. Der Bischof sprach anfänglich streng mit ihm, aber Emanuels tiefe Niedergeschlagenheit milderte allmählig seinen Ton. Er sagte ihm, er befinde sich offenbar in einer »Gärungsperiode«, und daß es vielleicht allein schon aus diesem Grunde gut für ihn sein würde, wenn er sich eine Zeitlang von der öffentlichen Tätigkeit zurückzöge. Indem er ihn mit schonenden aber eindringlichen Worten bat, die Schwermut, die Neigung zu krankhafter Selbstbetrachtung zu bekämpfen, die ein Erbteil seiner Mutter sei, versprach er schließlich, sich seiner Sache anzunehmen und wünschte ihm beim Abschied Gottes Beistand, auf daß er gestärkt und geläutert aus seiner geistigen Krisis hervorgehen möge.

Den ganzen Nachmittag ging Hansine rastlos in einer der langen Alleen des Gartens auf und nieder und wartete auf seine Heimkehr. Ihr Gesicht, dessen ernste Züge die Begebenheiten der letzten Wochen noch vertieft hatten, trug das Gepräge einer finstern Entschlossenheit. Sie hatte die Arme in einen kleinen wollenen Schal eingehüllt, als friere sie, und jeden Augenblick stieg sie auf die kleine Anhöhe, von wo aus man die Gegend nach Westen zu übersehen konnte.

Kurz vor Sonnenuntergang kam er endlich; und wenige Minuten später befanden sie sich beide draußen in der langen Kastanienallee am Ende des Gartens, wohin sie sich begeben hatten, um ungestört zu sein. Hansine setzte sich auf die »Naturbank«, die hier aus alten Zeiten neben einem Baumstamm stand, während sich Emanuel unruhig vor ihr hin und her bewegte und erzählte.

»So, nun haben wir also unsere Freiheit,« schloß er seinen Bericht und blieb vor ihr stehen. »Jetzt können wir reisen. Hansine, sobald wir die Bewilligung haben.«

Sie saß vornübergebeugt, die Arme auf die Knie gestützt und sah auf ihre eine Schuhschnauze nieder, mit der sie in der nassen Erde scharrte.

»Ja, siehst du, Emanuel . . . was ich dir noch sagen wollte,« begann sie und es klang, als werde es ihr schwer, die Worte hervorzubringen »ich kann nicht mit dir nach Kopenhagen kommen.«

»Was soll das heißen? . . . was meinst du damit?«

»Ich meine . . . nicht gleich,« verbesserte sie sich selbst, als sie merkte, daß Emanuel nicht die leiseste Ahnung von ihrer Absicht hatte. »Ich bin zu fremd für all das in der Stadt; ich würde dir bloß zur Last werden, bis du deine Verhältnisse geordnet und dir eine Stellung geschaffen und dein Haus eingerichtet hast . . . ich kann dir ja mit nichts behilflich sein. Und übrigens habe ich auch das Bedürfnis, mit mir selbst zur Ruhe zu kommen. In der letzten Zeit is alles so verstört gewesen.«

»Ja, darin magst du recht haben,« sagte Emanuel und fing von neuem an, vor der Bank auf und nieder zu gehen. »Aber ich will dir doch sagen, daß es hier wohl nicht gerade angenehm für dich werden wird. Ich habe es schon gemerkt, als ich heute nur durch Skibberup fuhr; wir wohnen nicht mehr zwischen Freunden, sondern zwischen gehässigen Feinden.«

»Ach ja, das hab' ich mir auch gedacht. Darum hab' ich mir auch gedacht, ich könnt' zu Ane hinausfahren und da einige Zeit bleiben. Wir haben neulich schon ein wenig davon gesprochen; sie sagte, da wären ein paar Stuben in ihrem neuen Haus, die sie nicht brauchten; die könnten sie mir gern überlassen, sagt sie.«

»Bei Ane? draußen im Skallinger Lande! Was denkst du dir nur, Hansine! Zwischen den zügellosen Menschen?«

»Ach, das hat woll nich soviel auf sich mit dem Unwesen, wo immer so viel von die Rede is . . . das sagte Ane auch; un sie selbst scheint ja doch auch keine Not gelitten zu haben!«

»Aber das geht wirklich nicht. Hansine; . . . es geht der Kinder wegen nicht! Es ist ja doch nun einmal dein wie mein Wunsch, daß sie ein wenig von dem Einfluß fortkommen, unter dem sie bisher gelebt haben . . . und namentlich für Sigrid ist es gewiß die höchste Zeit. Sie ist ja ein liebes und gutes kleines Mädchen, aber sie nimmt so leicht von anderen an, wie ich bemerkt habe.«

»Ja, Emanuel, das hab' ich dir ja schon lange gesagt. Aber darum hab' ich mir auch gedacht, daß die Kinder . . . daß . . . du die mit nach Kopenhagen nehmen sollst. Du mußt dir da ja doch so 'ne Art Häuslichkeit einrichten . . . und dann glaub' ich auch, daß es grade den Kindern gut wär', wenn ich eine Zeitlang von ihnen fortblieb. Ich kann ihnen ja doch mit nichts zu Gange helfen, ich wär' ihnen am Ende bloß ein Hindernis, wenn sie sich an ihre neuen Freunde anschließen und überhaupt die Erziehung haben sollen, die wir doch beide für die richtigste für sie halten. Ich hab' mir eigentlich gedacht, daß deine Schwester . . . daß die dir am Ende bei der Erziehung helfen könnt'; sie hat ja kürzlich ihr einziges Kind verloren, die würd' gewiß eine gute Pflegemutter für sie werden, hab' ich mir so gedacht.«

Sie sprach beständig mit derselben Ruhe und Beherrschung, war aber allmählich sehr blaß geworden und sah unverwandt zu Boden nieder.

»Wie kommst du nur einmal auf all die Gedanken . . . schlag dir das doch aus dem Kopf, mein Herz!« rief Emanuel fast entsetzt aus. Und als er ihre Gemütsbewegung bemerkte, trat er an sie heran und legte ihr liebevoll die Hände um den Kopf. »Laßt uns nicht in dergleichen Trübseligkeiten verfallen. Wir wollen uns jetzt ja gerade eng aneinander anschließen und den Kampf um unser Heim und unser Glück tapfer aufnehmen. Vielleicht wird uns in Zukunft nicht alles so leicht werden; aber wenn wir nur zusammenhalten, so wird es mit Gottes Hilfe schon gehen!«

Sie hatte keine Kraft mehr, ihm zu widersprechen; sie vermochte es nicht einmal abzuwehren, daß er sich nach den letzten Worten herabbeugte und sie küßte.

Während sie nun beide in den folgenden Tagen ganz im stillen anfingen, sich auf den Aufbruch vorzubereiten, wurde die Sache nicht weiter zwischen ihnen berührt. Und doch beschäftigte sie sie unausgesetzt. Emanuel sah sehr wohl ein, daß es schwer für Hansine werden würde, einen Hausstand unter Verhältnissen zu leiten, die ihr so völlig fremd waren, und daß sie namentlich für die Kinder nicht die Stütze sein konnte, deren sie besonders zu Anfang bitter benötigt sein würden. Er fühlte auch, daß sie mit ihrem eigenartigen, für Fremde unverständlichen und oft abstoßenden Wesen sich selbst viele Schwierigkeiten bereiten würde; und endlich ward er immer besorgter, wie er überhaupt die Mittel zum Lebensunterhalt beschaffen sollte; selbst, wenn sie alles verkauften, was sie besaßen, würden sie kaum mehr gewinnen, wie erforderlich war, um ihre Schulden zu decken. Als Hansine die Unterhaltung eines Tages wieder auf dies Thema brachte, unterbrach er sie deswegen nicht, sondern hörte sie – wohl zum erstenmal während ihres Zusammenlebens – ganz bis zu Ende an. Sie sagte, daß es wohl das vernünftigste sein würde, überhaupt keinen neuen Hausstand zu begründen, solange ihre Zukunft noch so unsicher, namentlich aber solange er ganz ohne Stellung und ohne Einnahmen sei. Sie habe deswegen gedacht, sagte sie, ob nicht er und die Kinder vorläufig, bis er eine neue Tätigkeit gefunden habe, bei seinem alten Vater wohnen könnten, der ja ganz allein in seiner großen Wohnung lebe. Sie tröstete ihn damit, daß ihre Trennung deswegen ja nicht von langer Dauer zu sein brauche, und sie fuhr überhaupt fort, so lange auf ihn einzudringen, bis er ihr versprach, noch selbigen Tages an den Vater und an seine Geschwister zu schreiben.

»Aber schreib' nun auch so, daß sie deutlich verstehen, daß ich nich mitkomm',« schloß sie.

Voller Ungeduld warteten sie einige Tage auf die Ankunft der Antwort.

Es war nun auch allmählich recht ungemütlich für sie im Vejlbyer Pfarrhause geworden. Die seinerzeit anberaumte Versammlung des Gemeinderats war abgehalten, ohne daß man Emanuel dazu aufgefordert hatte, und überhaupt ließ man ihn auf jede Weise fühlen, daß man ihn los zu werden wünschte. Beim Gottesdienst am Sonntag war die Kirche auf der Landzunge leer – ganz wie zu Propst Tönnesens Zeiten – während die Leute am Nachmittag in das Versammlungshaus strömten, wo die Schmiede-Maren und der dickköpfige Niels zum ersten Male Erlaubnis erhalten hatten, eine große Betstunde zu veranstalten. Niels hatte jetzt die erste Stufe zu dem hohen Ziel seiner Träume erklommen; er war wandernder Missionsprädikant geworden, in welcher Eigenschaft er sich einen Vollbart zugelegt hatte und außerhalb der Heimatsgemeinde mit einer Brille und mit auf die Seite gelegtem Kopf auftrat.

Allmählich empfing Emanuel jedoch auch Beweise von dankbarer Zuneigung und von Empörung über die Behandlung, die ihm zuteil geworden war, ja, als es bekannt wurde, daß er sein Abschiedsgesuch eingereicht hatte, begannen einige beherzte Leute in Vejlby – ebenso wie beim Wegzug von Propst Tönnesen – eine Geldsammlung zum Einkauf einer silbernen Kaffeekanne und eines Lehnstuhls zu veranstalten, was ihm beides bei der Abreise überreicht werden sollte.

Im Pfarrhause war man jetzt in vollem Aufbruch. Emanuel, der allmählich alles Interesse für seine Wirtschaft verloren hatte und nur den einen Wunsch hegte, die Beschwerde mit Feld und Stall sobald wie möglich loszuwerden, hatte den Rest seiner Ernte an einen Nachbarn verkauft, der für einen Teil der Kaufsumme die Äcker bestellen sollte, bis sein Nachfolger im Amt ernannt war; Kühe und Pferde und Ackergerätschaften hatte er ebenfalls zu Geld gemacht und damit die nicht geringen Klapperschulden bezahlt, die er im Laufe der letzten Jahre unvorsichtigerweise bei vielen seiner früheren Freunde gemacht hatte, und die weit mehr, als er es ahnte, dazu beigetragen hatten, seinen Einfluß in der Gemeinde zu untergraben.

Außer sich vor Wonne darüber, daß sie nach Kopenhagen sollte, fuhr Sigrid zu den Türen aus und ein, schüttelte die gelbbraunen Locken und steckte mit ihrem Jubel die kleine Dagny an, die sich im Laufe des Sommers sehr herausgemacht hatte und nun allein in der Stube umhertrippelte. Währenddes saß Hansine still in ihrem Lehnstuhl und nähte an den Sonntagskleidern der Kinder und strickte ihnen neue Strümpfe. Emanuel begriff nicht, daß sie noch immer so blaß war, obwohl doch jetzt Hoffnung auf eine lichtere Zukunft für sie alle in Aussicht war. Er hatte sie sogar mehrmals in Tränen überrascht; und als er sie nach dem Grunde gefragt hatte, wollte sie nicht antworten. Ebenso wunderte er sich über die fast unwillige Scheu, die sie allen seinen Annäherungen gegenüber erwies; sobald er neben ihr Platz nahm und ihre Hand ergreifen wollte, stand sie auf und machte sich in der Küche zu schaffen. Er glaubte, daß es die Erregung über den Aufbruch und die lange Trennung sei, die sie ihm verbergen wolle, und er war bemüht, sie auf alle Weise zu trösten und zu ermuntern. Aber es war, als ob schon allein sein Mitgefühl sie verletzte, und er hielt es schließlich für das richtigste, sie in Ruhe zu lassen.

Endlich traf die so sehnlichst erwartete Antwort aus Kopenhagen ein.

Es war eines der gewöhnlichen, umständlichen Schreiben des Vaters, auf einem großen Bogen Papier, mit einem kleinen, eingelegten Billett von der Schwester Betty. Der Vater schrieb, er sei jetzt ein alter Mann, der wohl nicht mehr viele Schritte bis zum Grabe zu machen hätte, und daß es keine größere Freude für ihn geben könne, als seinen ältesten Sohn wiederzusehen, den er solange und so schmerzlich entbehrt habe. Ohne den geringsten Versuch, ihn zu demütigen, geschweige denn ihm Vorwürfe über sein eigenes Besserwissen zu machen, bot er ihm ein herzliches Willkommen daheim im Vaterhause.

»Die beiden Zimmer, die Du seinerzeit hier bewohntest, sollen in kürzester Frist zu Deinem Empfang bereit stehen,« – schrieb er – »ich brauche wohl nicht hinzuzufügen, daß auch Deine beiden Kinder mir liebe Gäste sein werden; es sollen Räume für sie in Deiner unmittelbaren Nähe eingerichtet werden, und wir wollen alles tun, was in unseren Kräften steht, damit sie sich wohl bei uns fühlen können. Wie Du vielleicht weißt, habe ich das nicht unbedeutende Gartengrundstück, das zum Hause gehört, gemietet, und das der nun verstorbene Konferenzrat Tagemann (Du erinnerst Dich seiner wohl noch, er wohnte unter uns im ersten Stockwerk) bisher inne gehabt hat; es ist also freier Tummelplatz für Deine Kinder vorhanden, und ich will dafür sorgen, daß Tischler Jörgensen einen Tag bestellt wird, um eine Schaukel und was sonst zur Unterhaltung der Kinder dienen kann, anzubringen. Auch an Spielkameraden wird es ihnen nicht fehlen, sowohl die jungen Löbners (von der dritten Etage) wie auch Ministerialrat Winthers (die neuen Mieter im Erdgeschoß) haben muntere und sehr wohlerzogene Kinder, so daß ich hoffe, die Deinen werden das freie Landleben nicht allzusehr entbehren. Den Entschluß Deiner Frau, bis auf weiteres auf dem Lande wohnen zu bleiben, verstehe ich vollkommen; sie würde sich kaum zufrieden fühlen können in den für sie so völlig fremden Verhältnissen einer großen und unruhigen Stadt. Ich bitte Dich, ihr meinen wärmsten Gruß zu überbringen.

Heute nur diese Worte. Dein Bruder Carl bittet mich. Dich aufs herzlichste zu grüßen; er bittet zu beachten, daß nicht alle ›Kammerjunker‹ so ›schlimm‹ sind – er verlangt ausdrücklich, daß ich dies Wort gebrauchen soll – wie Du wohl glaubst, und er freut sich darauf, Dich einmal in die Wachtstube des Amalienborger Schlosses einladen zu können, um Dich davon zu überzeugen.

Jetzt nur noch meinen eigenen Gruß an Dich, mein lieber Sohn.

Dein treuer Vater.«

»Was sagst du, Hansine?« fragte Emanuel tiefbewegt, nachdem er zu Ende gelesen hatte.

Hansine, die über ihre Näharbeit gebeugt saß, nickte nur. Ihre Brust wogte, und sie hatte die Augen geschlossen wie ein Mensch, der den härtesten Kampf mit sich selbst kämpft.

Emanuel saß einige Augenblicke in Gedanken versunken da, den Brief auf dem Schoß und starrte in die Luft hinein. Er sah seine beiden gemütlichen, teppichbelegten Zimmer daheim mit der Aussicht auf den Kanal und die Börse und das Kristiansborger Schloß vor sich. Er fühlte sich gleichsam wieder umgeben von dem tiefen Frieden, in dem er während seiner Studenten- und Kandidatenzeit die halbe Nacht unter der Lampe gesessen oder stundenlang im Zimmer auf und nieder gewandert war, erfüllt von dem, was er gelesen hatte. Da würde er also wieder bei den alten Büchern sitzen, über dieselben Fußböden wandern, wieder die selben Fragen aufnehmen, um eine andere und wahrere Lösung für das große Rätsel des Lebens zu finden. – –

Der Anfang von Bettys Brief trug das Gepräge der tiefen Niedergeschlagenheit des Gemüts, die der Verlust ihres einzigen Kindes bei ihr hervorgerufen hatte. Sie schrieb:

»Du ahnst nicht, wie leer und trübselig es hier in unseren Zimmern geworden ist, seit mir der liebe Gott meinen kleinen Kai nahm. Wie sehne ich mich nicht danach, daß Deine Kinder hierherkommen, damit ich wieder Kinderstimmen und Kinderlachen um mich hören kann. Sage Deiner Frau, sie soll sich ihretwegen nicht ängstigen – ich kenne selbst die Ängste einer Mutter! – Wir wollen sie behüten, so gut wir können, solange sie fern von ihnen ist! Am allermeisten aber sehne ich mich nach Dir, Du lieber Bruder, den ich seit so vielen Jahren nicht gesehen habe. Wie ich mich darauf freue, mit Dir zu sprechen! Und Du wirst gut gegen mich sein, Emanuel! Ich bedarf Deines Trostes so sehr. Ich sehne mich danach, meinen Kopf an Deine Schulter zu lehnen und mit Dir vertraulich zu reden. Ja, Emanuel – Gott sucht uns heim. Möchten wir Kraft haben, unsere Bürde zu tragen.

Deiner Zukunft wegen brauchst Du, glaube ich, nicht besorgt zu sein; der Ansicht sind auch Vater und mein Mann. Gerade gestern, als Vater Deinen Brief am Vormittag erhalten und ihn hierher geschickt hatte, damit wir ihn lesen könnten, waren wir auf einem Diner bei Justitiarius Munck. Bei Tische saß der Stiftspropst, der ja bei uns verkehrt, neben mir, und da ich mich so über Deinen Brief gefreut hatte, konnte ich nicht unterlassen, ihm zu erzählen, daß Du jetzt hierher in die Stadt ziehen wolltest. Er schien merkwürdigerweise schon davon zu wissen (aus dem Ministerium, meint mein Mann) und war allem Anschein nach auch sehr einverstanden damit. Ich fragte ihn schließlich geradezu, ob er glaube, daß Du eine der kleineren Stellungen an einer der Kirchen hier in der Stadt bekommen könntest, und das schien er gar nicht für unmöglich zu halten. Ihr Herr Bruder hat ja ein ganz besonders gutes »Laudabilist« (ist das richtig geschrieben?) sagte er, und wir haben auch hier in der Stadt junge und erprobte Kräfte nötig. Er legte einen besonderen Nachdruck auf das ›erprobte‹, überhaupt sprach er so hübsch von Dir (er kennt Dich ja aus alten Zeiten von zu Hause bei Vater), also glaube ich nicht, daß es Dir schaden wird, daß Du die Anschauungen gehabt hast, mit denen Du ja nun fertig bist.«

Dieser Satz sagte Emanuel nicht zu; er erfüllte seinen Sinn mit einer ihm selbst unerklärlichen Unruhe.

»Wie kommt sie nur auf solche Gedanken?« rief er aus. »Dann hat sie mich ja also gar nicht verstanden!«

»Bist du wohl so ganz überzeugt davon?« fragte Hansine.

Emanuel antwortete nicht. Er war wieder in Gedanken versunken.

* * *

An einem Tage, zu Anfang September, schlug endlich die Abschiedsstunde.

Es war ein geschäftiger und bewegter Tag. Früh am Morgen war Emanuel auf dem Skibberuper Kirchhof, um Abschied von dem Grab des Buben zu nehmen und ging von da zu seinen Schwiegereltern und zu Hansinens Bruder Ole, der jetzt den Hof der Alten bewirtschaftete. Der Abschied von Else war ziemlich kühl. Sie war stark beeinflußt von der allgemeinen Skibberuper Stimmung. Und obwohl man auf Hansinens Wunsch weder ihr noch sonst jemand gesagt hatte, daß der Besuch im Skallinger Lande sich über ein paar Tage erstrecken würde, zuckte es mißtrauisch in Elses Augen auf, sobald der Besuch bei Ane berührt wurde.

Am Vormittag stellte sich die vorhin erwähnte Deputation im Pfarrhause mit einer Alfenidekaffeekanne und einem Schreibtischstuhl ein, und am Nachmittag kam endlich ein Wagen, den Emanuel, – um seine Nachbarn nicht um noch mehr Freundschaftsdienste ersuchen zu müssen – bei einem Fuhrmann in der Stadt bestellt hatte. Es war ein Landauer mit neusilbernem Beschlag und einem Kutscher in Livree.

Emanuel stürzte im Reisefieber zwischen Koffern und Schachteln umher, in einem neuen schwarzen Tuchrock und mit frisch geschnittenem Haar und Bart. Sigrid folgt ihm auf den Fersen; sie wollte ihn nicht einen Moment aus den Augen lassen; es war, als fürchte sie, daß er abreisen könne, ohne sie mitzunehmen. Das Kind hatte vor lauter Aufgeregtheit die ganze Nacht kein Auge geschlossen, sondern die Mutter alle halben Stunden gefragt, wieviel Uhr es sei. Vom frühen Morgen an hatte sie mit ihren Privathabseligkeiten – einem kleinen Blecheimer, einem zerbrochenen Puppenkopf und zwei Streichholzschachteln mit bunten Steinen – getreulich herumgeschleppt und war nicht zu bewegen gewesen, sie einen Augenblick hinzulegen.

Abelone, die Hansine überredet hatte, mit den Kindern zu gehen und einige Zeit bei ihnen zu bleiben, weinte vor Beklommenheit, und draußen in dem leeren Stall saß Kuhhirt Sören auf dem Rande eines Futtertroges und grübelte über die sonderbaren Schicksale des Lebens nach.

Hansine war den ganzen Tag ruhig und machte sich überall nützlich. Niemand sollte in ihrem Gesicht lesen, wie fest sie überzeugt war, daß sie ihren Mann und ihre Kinder heute zum letztenmal sah. Sie wußte nur zu gut, daß die Kinder sie bald vergessen würden da drinnen zwischen den vielen fremden Menschen und allen den neuen Sachen, die ihre Sinne und Gedanken in Anspruch nehmen würden, und wenn sie älter geworden und ganz mit ihren neuen Umgebungen zusammengewachsen waren, würden sie es als ein Hindernis und eine Schande empfinden, eine Mutter zu haben, die mit einer Bauernmütze ging und bäurisch sprach. Aber sie hatte sich selbst gelobt, daß sie nicht unter dem leiden sollten, was andere verbrochen hatten. Unumschränkt sollten sie teilhaben an dem leichteren Glück des Lebens, von dem sie einmal geträumt hatte, daß auch sie es für sich würde erringen können.

Und Emanuel? Auch für ihn würde sie bald eine schwere Fessel werden, die abstreifen zu können, er sich den Mut ersehnte. Sie hatte in dieser Zeit an hunderterlei Dingen gemerkt, wie er in Gedanken schon in einem Leben lebte, das ihr fremd war und das sie nie mit ihm würde teilen können. Sie wußte, daß er sich nicht lange in seinem alten Freundeskreis bewegen würde, ehe er nicht selber die tiefe Kluft empfand, die jetzt sie und ihn voneinander trennte; und er würde es dann als Befreiung empfinden, wenn sie ihm eines Tages schrieb, daß sie nicht mehr zurückkehren würde, daß er frei sei, und daß es fruchtlos sein würde, wenn er sie bewegen wollte, ihren Beschluß zu ändern.

Sie warf ihm nichts vor. Sie klagte nur sich selbst an, weil sie hatte glauben können, daß für sie ein Platz an der Festtafel des Lebens bestimmt sei. Ja, eigentlich war sie nicht einmal überrascht von dem, was in der letzten Zeit geschehen war. Es wunderte sie vielmehr, daß es nicht schon längst geschehen war. Alle die Erlebnisse dieser letzten sieben Jahre waren ihr oft so sonderbar unwirklich erschienen. Es hatte sie zuweilen ein Gefühl befallen können, daß sie noch das junge Mädchen im Hause ihrer Eltern sei; . . . daß ihre ganze Ehe, ihr ganzes Leben hier im Vejlbyer Pfarrhause nur ein langer, unruhiger Traum war, aus dem sie durch irgendeinen Hahnenschrei erweckt werden würde.

. . . Als die Stunde der Abreise kam, küßte sie die Kinder und sagte Emanuel auf so ruhige Weise Lebewohl, als ob auch sie glaube, daß die Trennung nur von kurzer Dauer sein würde. Sie begleitete sie an den Wagen, packte die Kinder selbst gut ein und beauftragte Abelone, ihnen die reinen Schürzen vorzubinden, ehe sie nach Kopenhagen kämen.

Als Emanuel im Augenblick des Abschieds von heftiger Gemütsbewegung ergriffen wurde und fortfuhr, ihren Kopf festzuhalten und sie zu küssen, sagte sie, um ihn zu ermuntern, er solle sich jetzt nur keine Gedanken ihretwillen machen, das würde sich schon alles finden.

»Gib nur gut acht auf die Kinder, Emanuel,« sagte sie zu allerletzt; – aber, als habe sie mit diesen Worten ihre Seelenkraft erschöpft, wandte sie sich schnell um und ging die Treppe hinauf, noch ehe der Wagen sich in Bewegung gesetzt hatte.

»Gehe auf die Anhöhe im Garten – dann können wir dir zuwinken!« rief Emanuel ihr nach.

Ohne sich umzuwenden, ging sie ins Haus.

Der Kutscher knallte mit der Peitsche und die Pferde zogen an.

Als der Wagen durch den gewölbten Torweg rollte, schrie Sigrid Hurra.

Auf dem Wege durch Vejlby riefen einige Freunde ihnen ein aufrichtiges »glückliche Reise!« zu, ja, von unwillkürlicher Ehrfurcht ergriffen beim Anblick des Landauers und des Kutschers in Livree, entblößten sogar ein paar von seinen Feinden den Kopf, als er vorüber fuhr.

Als der Wagen auf die Landstraße hinauskam, sagte Emanuel: »Holt jetzt die Taschentücher heraus, Kinder!« Und als sie Hansinens Gestalt da oben auf der kleinen Anhöhe des Gartens stehen sahen, fingen sie alle an, zu winken.

Warum sie wohl nicht wieder winkt, dachte Emanuel.

»Winkt, Kinder . . . winkt!« sagte er und seine Augen standen voller Tränen.

Aber die Gestalt da oben auf der Anhöhe rührte sich nicht . . . sie erhielten keine Antwort auf ihr: »Auf Wiedersehen!«

Wie eine steinerne Säule stand Hansine da und sah ihnen nach, bis der letzte Schimmer des Wagens in der Ferne verschwunden war. Dann ging sie still hinab. Aber plötzlich war es, als wenn ein Schwindel sie befalle; schwer setzte sie sich auf eine der kleinen hölzernen Stufen nieder, die von der Anhöhe hinabführten.

Eine ganze Stunde blieb sie hier sitzen –, unbeweglich, den Kopf in den Händen, während das Brausen des Herbstwindes schwer und klagend durch die Baumkronen über ihr fuhr.

Um Sonnenuntergang erhob sie sich und ging ins Haus hinein. Sie sollte bei ihren Eltern in ihrem alten Zimmer übernachten, wo sie als junges Mädchen geschlafen hatte. Erst am nächsten Tage wollte Anes Mann mit seinem Boot kommen und sie nach ihrem künftigen Heim hinüberfahren.

Sie holte ein kleines Bündel Kleider aus der leeren Schlafstube, ging dann in den Stall hinaus, sagte Sören Lebewohl, der jetzt Alleinherrscher des Hofes geworden und verließ das Pfarrhaus.



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