Henrik Pontoppidan
Das gelobte Land
Henrik Pontoppidan

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierter Teil

Die Roggenernte hatte im Regen begonnen und es sah so aus, als ob sie auch im Regen enden solle. Jeden Morgen stieg die Sonne an einem klaren Himmel auf, verhieß aber fälschlich einen herrlichen Tag. Kaum hatten die Bauern die Erntewagen in die Felder hinausgefahren und das erste Fuder gebunden, als sich mächtige Gewitterwolken am Himmel auftürmten, und den ganzen Tag fielen heftige Regengüsse und erbsengroße Hagelkörner, während man fast ununterbrochen den Donner irgendwo in der Ferne rollen hörte.

Eines Nachmittags lag der Pfarrknecht Niels auf dem Rücken auf seinem Bett, die eine Hand bequem unter dem Kopf. Er hatte mehrere Stunden in dieser Stellung zugebracht und seiner Gewohnheit gemäß die Kammer mit einem undurchdringlichen Tabaksqualm angefüllt, und obwohl es schon lange über die Zeit der Mittagsruhe hinaus war, dachte er nicht daran, sich von seinem Lager zu erheben. Er war ganz versunken in seine Lieblingsbeschäftigung: über die Zukunft zu phantasieren. Er sah eine große Stube vor sich, deren hohe Wände von der Decke bis an den Fußboden mit Borten voll prächtiger Bücher bedeckt waren, so wie in dem Studierzimmer drüben bei dem gelehrten Pastor in Kyndlöse, wo er einmal gewesen war, um sein Taufattest zu holen. Mitten in das Zimmer stellte er einen großen viereckigen Tisch, mit grünem Tuch bedeckt und mit dicken Folianten überfüllt. Die Rouleaus waren vor den Fenstern herabgelassen, auf dem Tisch brannte eine Lampe und an dem einen Ende des Tisches saß er selbst, »Propst Damgaard«, in einem großen Lehnstuhl, angetan mit Schlafrock und schön gestickten Pantoffeln. Er hatte die Wange in die Hand gestützt und las in einem sehr alten, griechischen Buch. Auf einem der Borte standen seine eigenen Werke in Prachtbänden: Erbauungsbücher und Predigtensammlungen mit Goldschnitt, gelehrte Schriften, sowie gewaltige, die Gesellschaft geißelnde Schauspiele voll großer prophetischer Bilder und kühner Gedanken.

Aus diesen herrlichen Träumereien wurde er durch klappernde Holzschuhschritte draußen auf dem Hof geweckt, dann folgte ein langgezogener, abwechselnd pfeifender und schreiender Laut. Es war Abelone, die Wasser von der Pumpe holte.

Er lag regungslos da und lächelte vor sich hin. Er ruhte befriedigt in dem glücklichen Gefühl, daß er sich endlich aus der Versuchung errettet hatte, in die ihn Abelones reife Schönheit eine Zeitlang geführt. Es war ihm keineswegs leicht geworden, Verzicht auf sie zu leisten, obwohl sie ein völlig mittelloses Mädchen war. Aber, er hatte klar eingesehen, daß, wenn er dieser Schwäche nachgab, er wahrscheinlich nie über seine erniedrigende Stellung als »Knecht Niels« hinausgelangen würde. Er mußte frei und unabhängig sein, oder doch auf alle Fälle eine ganz andere Heirat machen, wenn er das große Ziel erreichen sollte, das er sich gesetzt hatte: den Namen N. Damgaard über das ganze Land berühmt zu machen. Und er hatte im voraus Hindernisse genug zu überwinden; hätte er zum Beispiel nicht Niels geheißen, sondern dahingegen etwas wie Fritjof oder Arne oder Björnstjerne, so würde sich der Name im Gedächtnis der Leute ganz anders eingeprägt haben. Niels dahingegen –

Er fuhr in die Höhe, er hatte draußen auf dem Hofe wieder Schritte gehört, aber diesmal starke Holzschuhschritte . . . Emanuels. Er guckte verstohlen durch die weißen Vorhänge des Fensters und sah seinen Herrn von der kleinen Pforte an der einen Seite des Wohnhauses herkommen. Ihm wurde ganz heiß um die Ohren; mitten auf dem Hofe lag das Sielengeschirr und verriet, daß er noch nicht auf das Feld hinausgekommen war. Emanuel war in letzter Zeit so sonderbar geworden, hatte so viele merkwürdige Einfälle bekommen, ja konnte geradezu auffahrend werden, wenn er böse wurde.

Niels lächelte erleichtert; – ohne weder nach rechts noch nach links zu sehen, war Emanuel über die Treppe, die nach dem Hause hinaufführte, verschwunden. A . . . ach! mit einem minutenlangen Gähnen reckte er noch einmal seinen faulen Körper, schob mit Anstrengung die Beine über den Rand des Bettes und blieb eine Weile sitzen, den Kopf in den Händen, höchst zufrieden mit sich selbst. Hi, hi, er meinte, den Grund zu Emanuels verändertem Wesen ihm gegenüber zu kennen. Emanuel war eifersüchtig auf ihn, das war die Sache! Es war Niels eine wahre Wonne gewesen, zu merken, wie erbittert er über seinen letzten Artikel im »Volksblatt« und über das Aufsehen, das er erregt hatte, gewesen war. Aber er sollte bald ganz etwas anderes zu hören bekommen.

* * *

Als Emanuel eine Weile später in die Stube kam, saß Hansine in ihrem Lehnstuhl am Ofen, eine irdene Schüssel im Schoß und palte Erbsen.

»Willst du aus?« fragte sie und warf einen etwas mißtrauischen Blick auf seine Kleidung; er hatte den Arbeitskittel mit seinem grauen Anzug vertauscht und war im Begriff, das schwarze Halstuch zu binden, das er außer Hause an Stelle des Kragens trug.

»Ja, ich muß gehen. Ich muß nach den Moorhäusern hinaus. Es ist wieder Unfrieden da draußen gestiftet; – die Leute wollen keine Arbeit übernehmen. Und gerade jetzt, in der Erntezeit, geht so etwas doch wirklich nicht an.«

Er wollte gerade zur Tür hinausgehen, als Hansine sagte: »Das ist wahr . . . der junge Rasmus Jörgensen war heute vormittag, als du auf dem Felde warst, hier. Ich sollt' dir sagen, er müßt' durchaus das Fuder Gerstenstroh wieder haben, das du letzten Winter mal von ihm geliehen hatt'st, – er könnt es wirklich nicht länger entbehren, sagt' er.«

Emanuel stand mit der Hand auf dem Türschloß da und wurde immer roter. »Ein Fuder Gerstenstroh, sagst du?«

»Ja, du hättst es ihm zum Frühling versprochen,« fuhr Hansine fort. »Aber nu müßt' er es wirklich haben, sonst müßt' er selbst kaufen.«

»Aber Gerstenstroh um diese Zeit des Jahres, wo soll ich das hernehmen? hast du ihm das nicht gesagt?«

»Ich sagte, ich wollt' es dir bestellen.«

»Weißt du was, Hansine –« sagte Emanuel nach kurzem Schweigen – »Rasmus Jörgen soll, ebenso wie unser eigener Niels, ein häufiger Gast bei den Gebetszusammenkünften von Schmiede-Maren geworden sein, und ich glaube zu verstehen, daß man da stillschweigend eine Art Verschwörung gegen mich geschlossen hat. Warum, weiß ich nicht. Aber der Geist der Zwietracht hat in letzter Zeit Zutritt bei uns erhalten. Der Weber gehört ja auch zu Marens Freunden; er hat sich in letzter Zeit ganz fern von uns gehalten – das gefällt mir nicht. Es will mir überhaupt scheinen, als ob wir hier in der Gemeinde ernsten Zeiten entgegengingen. Gott halte seine Hand über uns allen!« – – –

Lange Zeit, nachdem Emanuel gegangen, war es vollkommen still in der Stube. Neben Hansine schlief die kleine Dagny in ihrer blumenbemalten, hölzernen Wiege, und unter dem Fenster saß Sigrid auf einem Schemel, damit beschäftigt, farbige Stiche auf einen Lappen zu nähen. Eigentlich saß sie hier in der Ecke, um sich zu schämen, weil sie wieder mit beschmutzten Kleidern vom Spielen am Dorfteich nach Hause gekommen war, und als Hansine ihr Vorwürfe deswegen gemacht, hatte sie ein häßliches Wort gebraucht, das sie, wie sie behauptet, von den Knaben des Rademachers gelernt hatte. Emanuel selbst hatte angeordnet, daß sie zur Strafe am Nachmittag zu Hause bleiben sollte; und er hatte zu Hansine gesagt, daß es wohl am besten sei, wenn man in Zukunft ein wenig acht darauf gäbe, wer ihre Spielgefährten waren.

Die Kleine ließ plötzlich die Näharbeit in den Schoß sinken, legte den Kopf auf die Seite und begann in tiefem Nachdenken zu der Decke emporzustarren. Nach Verlauf einiger Zeit stand sie auf, ging hin und lehnte sich an die Mutter.

»Mutter,« sagte sie leise, »weißt du wohl noch, die feine Dame, die damals hier war . . . die draußen im Garten mit mir gespielt hat?«

»Ja, mein Kind, du hast ja so oft von ihr gesprochen.«

»Ja, aber weißt du wohl noch, Mutter, daß sie gesagt hat, ich sollt' nach Kopenhagen zu ihr kommen, dann könnt' ich die große Puppe haben, sagt' sie. Ich könnt' gern immer bei ihr bleiben . . . und die Puppenstube könnt' ich auch kriegen, sagt' sie.«

»Das hat sie gewiß nicht gesagt. Da sagst du wohl wieder was, was sich nicht so verhält, Sigrid,« entgegnete Hansine und sah sie tadelnd an.

Die Wangen des Kindes färbten sich dunkelrot, es senkte den Blick zu Boden.

»Übrigens . . . schaden könnt' es dir am Ende gar nicht, wenn du ein bißchen wegkommst,« fuhr Hansine nach einer Weile fort. »Dann lerntest du nich so viel Häßliches und könnt'st besser acht auf deine Kleider geben.«

Bei diesen Worten der Mutter, die ihr plötzlich den Stubenarrest in die Erinnerung zurückriefen, wurde Sigrid noch roter und schlich beschämt nach ihrem Schemel zurück.

Und wieder herrschte eine lange Zeit völliges Schweigen im Zimmer. Man hörte nur die summenden Fliegen, die hinter den Fensterscheiben auf und nieder flogen, und das Geräusch von Abelones Scheuerbürste aus der Küche.

»Mutter,« sagte Sigrid dann wieder mit ganz leiser Stimme, »wenn ich nu meine Kleider gar nich mehr einschmutz' und nie wieder ein häßliches Wort sag', kann ich dann nich nach Kopenhagen kommen?«

Hansine konnte ein kleines Lächeln nicht unterdrücken.

»Willst du so schrecklich gern zu der Dame nach Kopenhagen?«

»Ja, schrecklich gern; sie war so hübsch, find'st du das nich auch, Mutter?«

»Ja, das finde ich . . .«

»Mutter, . . . wenn ich nu nie mehr meine Kleider einschmutz', kann ich denn auch solche feine Dame werden, wenn ich groß bin? Sag' mal Mutter?«

Hansine antwortete nicht sogleich.

»Ach ja; das könntest du woll eigentlich,« sagte sie dann und verfiel in Sinnen.

* * *

In dem Bedürfnis nach Einsamkeit, das in der letzten Zeit immer stärker bei Emanuel geworden war, hatte er die Landstraße verlassen und war auf einem Fußweg an den Ackerscheiden entlang gegangen, um nach den Moorhäusern hinauszugelangen. Dies abseits gelegene Nest für die arme Bevölkerung der Umgegend war ein Quell steter Unruhe und mißmutiger Sorge für ihn. Trotz allem, was er teils persönlich, teils mit Hilfe der Gemeinde geopfert hatte, um der Not dort abzuhelfen, sowohl der geistigen wie der materiellen, war hier nicht das geringste ausgerichtet. Nach sieben Jahren der Anstrengungen und Aufopferungen hatte noch keiner von den unglücklichen Bewohnern dieser baufälligen Lehmhöhlen das leiseste Anzeichen eines erwachenden Gefühles ihrer Menschenwürde verraten. Vielmehr war mehr denn je über die nächtlichen Diebstähle von seiten der Moorhäuserbevölkerung auf Kartoffeläckern und Bleichplätzen geklagt, und oft konnten weder gute Worte noch hoher Lohn sie zur Arbeit treiben.

Emanuel ging langsam und so ganz in seine Gedanken versunken, daß er fast zusammenzuckte, als er plötzlich auf einem Steig in einiger Entfernung vor sich einen Menschen auftauchen sah. Und seine Unruhe veränderte sich nicht, als er in der ducknackigen und unnatürlich langbeinigen Gestalt sehr bald den Weber Hansen erkannte.

Emanuel hatte immer ein gewisses Mißtrauen gegen den Weber genährt, dessen sonderbares, mißtrauisches und verschlossenes Wesen so verschieden von seiner eigenen offenen und treuherzigen Natur war. Namentlich in der letzten Zeit hatte er sich ihm gegenüber unsicher gefühlt. Er hatte ein Gefühl, als wolle ihm dieser Mann zu Leibe, konnte aber nicht herausbringen, was er vor ihm verbarg.

Sie begrüßten einander schweigend mit einem Händedruck und blieben jeder auf seiner Seite des Weges stehen.

»Nun, gibt's was Neues?« fragte Emanuel, um doch etwas zu sagen.

»Ach, dies oder das passiert ja immer,« antwortete der Weber. Er stand da, die großen roten Hände zwischen die Rockärmel und die schwarzen Wachstuchmanschetten gezwängt, und sah über die Felder hinaus. »Aber es ist ja leider nicht immer vom Besten.«

Emanuel konnte es seinem Ton anhören, daß er eine Hiobspost zu melden hatte.

»Ich kann übrigens gern ein Stück mit dir gehen, wenn es dir recht ist,« fuhr der Weber fort. »Ich hab' es heute nicht so hild.«

Sie gingen eine Weile schweigend dahin.

»Übrigens hätt' ich nicht gedacht, daß ich dich so weit von Hause treffen würde, Emanuel. Ich sah vorhin den Wagen von dem Doktor aus Kyndlöse nach Vejlby zu fahren  . . . und ich wußte ja nich, daß da irgendwelche Krankheit wär' . . . hm!«

Emanuel antwortete nicht. Es war keineswegs das erstemal, daß er von seinen Freunden Spötteleien hatte hören müssen, auf Grund seines Besuches bei Doktor Hassing.

»Woll auf seine Weise ein ganz flinker Mann, dieser Hassing – so von Ansehn,« fuhr der Weber mit seiner allerunschuldigsten Stimme fort.

»Ach, ja,« antwortete Emanuel zerstreut.

»Darum kann man ja auch gar nich verstehen, daß er so schreckliche politische Ansichten hat. Das is doch eigentlich sonderbar!«

»Ich glaube nicht, daß sich Doktor Hassing mit Politik befaßt.«

»Ja, das meint' ich auch eigentlich. Die Leute sagen ja, er lebt bloß, um die Güter dieser Welt zu genießen. Ich hab' davon reden hören, wie es zu Haus bei ihm zugehen soll, mit Wohlleben und Vergnügungen . . . so recht mit diesen aufregenden Sachen. Und dann soll da im Haus ja woll so recht die Sprache der Leichtfertigkeit geführt werden.«

Emanuel hörte ihm nicht länger zu; während er hier so mit dem Weber ging, waren seine Gedanken zu den Betrachtungen über das rettungslose Elend der Moorhäuser, das er einen Augenblick vergessen hatte, zurückgekehrt. Er dachte daran, daß ja hier an seiner Seite doch ein Mensch ging, der sich wirklich aus dem Sumpf der Erniedrigung herausgearbeitet hatte. – Der Weber war in den Moorhäusern geboren; sein Vater war Schweinehirt auf dem Rittergut Tryggerlöse in der Vesterbyer Gemeinde gewesen, und er selbst hatte als Kind die Schafe des Gutsherrn gehütet. Freilich wurde der Weber immer sehr wortkarg, wenn die Rede auf seine Jugend kam; so viel glaubte man aber doch mit Bestimmtheit zu wissen, daß er einmal als Knabe Zeuge gewesen war, wie der Gutsherr den Vater mit seinem Stock durchgeprügelt, und daß dies Erlebnis aus der Kindheit tiefe Spuren in seinem Gemüt hinterlassen, ja seinem Leben den Stempel aufgedrückt hatte.

Emanuel empfand plötzlich einen saugenden Schmerz im Herzen, als er daran dachte, daß es eine gewalttätige Handlung und kein Werk der Liebe war, das diesem Kind der Armut die Kraft zu geistigem Aufschwung verliehen hatte!

Er ward aus diesen Gedanken geweckt, als der Weber stehen blieb und sagte: »Ja, du weißt es woll, Emanuel, daß er endlich gestanden hat?«

»Was? Wer hat gestanden?« fragte Emanuel verwirrt.

»Der Dorfschulze natürlich . . . Wen meintest du sonst, Emanuel?« fragte der Weber und spitzte die Ohren.

»Was hat der Dorfschulze gestanden? . . . Ich verstehe keine Silbe.«

»Er hat endlich gestanden, daß er in Unzucht gelebt hat. Da waren ja mehrere von uns, die lange den Verdacht gehabt hatten; aber man konnt' es ja beinah' nich für möglich halten, daß ein Mann, der als politischer Führer an der Spitze einer christlichen Gemeinde stand, so vollständig die Worte der Schrift über das Hurenleben und die Unreinen vergessen könnte. Ja, und dann gingen ein paar von uns heute morgen hin und hielten es ihm vor, daß er sich nu von den bösen Gerüchten reinigen müßt', die über ihn in Umlauf sind; und da gestand er ja schließlich, daß er seit dem Tode seiner Frau ein unzüchtiges Leben mit der großen Sidse geführt hat.«

»Es ist doch nicht möglich, was du da sagst!« rief Emanuel leichenblaß aus und stützte sich auf seinen Stock; – es war, als wenn die Erde anfange, unter ihm zu schwanken.

»Ja, das sagst du woll, das is 'ne Sache, die uns allen viel zu denken gibt: Ich bin nu der Ansicht, daß es am besten sein wird, wenn wir den Gemeinderat so bald wie möglich zusammenrufen, damit die Sache erwogen werden kann. Ich wollt' grad' heut abend bei dir einsehen, um mal mit dir darüber zu reden. Es handelt sich darum, daß wir nicht zögern, den Fleck abzuwaschen, womit unsere Gemeinde besudelt is.«

Emanuel, der in dem Ton des Webers eine unterdrückte Schadenfreude bei dem Gedanken an den bevorstehenden Fall des Dorfschulzen zu spüren vermeinte, konnte nicht umhin, zu sagen:

»Es ist sonderbar, daß gerade du so eifrig in dieser Sache bist, Jens Hansen, sintemal es doch eigentlich auf deine Veranlassung geschah, daß Hans Jensen seinerzeit den ersten Platz hier in der Gemeinde bekleidete. Du weißt, daß damals viele von uns unsere Bedenken hatten . . . seine Vergangenheit war ja keineswegs tadellos; aber du meintest immer, daran sollten wir uns nicht kehren; er wäre gerade der rechte Mann, sagtest du, und damit ließen wir uns beruhigen. Wenn hier ein Fehler begangen ist, so trägst du in erster Linie die Schuld daran.«

»Ja, das streite ich auch gar nich ab, daß ich für Hans Jensen gestimmt hab',« antwortete der Weber mit einem breiten Lächeln. »Und ich mein' auch heute noch, daß er für die Politik, die damals geführt werden sollt', gerade der rechte Mann war. Um in den Graben zu fahren, dazu sind alle Kutscher gut genug . . . Aber nu mein' ich, sollten wir doch sehen, daß wir wieder aus 'n Graben rauskommen.«

»Ja, ja, – handle du in dieser Sache, wie du es für richtig und verantwortlich hältst,« sagte Emanuel, indem er stehen blieb und ihm zur Verabschiedung die Hand reichte. Er wollte den Menschen los sein. Er hatte das Bedürfnis, allein zu sein, um sich mit dem überwältigenden Eindruck abzufinden, den diese Enthüllung auf ihn gemacht hatte. Seine Ahnung, daß ein Gewitter im Anzuge sei, hatte sich also bereits bestätigt. Die schlimmen Tage standen vor der Tür . . . Jetzt sollte es sich zeigen, ob das Werk, das er hier in der Gemeinde aufgebaut hatte, Gott zur Ehre und zum Preis, die Probe bestehen oder – in Schutt versinken würde!

Nein, nein! Er wollte nicht zweifeln! Wenn der Herr die Stürme rasen ließ, so geschah es nicht, um zu zerstören, sondern um zu reinigen.

»Wen Gott liebt, den züchtigt er!«

* * *

Die Mitteilung des Webers hatte Emanuel in eine so heftige Gemütsbewegung versetzt und ihm so viel Neues und Ernstes zu denken gegeben, daß er für diesen Tag den Besuch in den Moorhäusern aufgeben mußte. Erst am nächsten Tage kam er da hinaus.

Aber auch da ging er unruhigen Sinns und schweren Herzens den Weg über die Felder hin. Das Gerücht von dem Geständnis des Dorfschulzen war mit Windeseile über die Gemeinde hinausgeflogen und hatte eine außerordentliche Bewegung hervorgerufen. Alle, die schon früher Bescheid gewußt hatten, stellten sich fast am empörtesten an, namentlich die Skibberuper. Der Weber hatte die Stimmung gut bearbeitet, ehe er seine wohlangebrachte Mine springen ließ. Die alte Feindschaft zwischen den Skibberupern und den Vejlbyern, die der politische Kampf eine Weile zusammengeführt hatte, war nach dem unglücklichen Ergebnis von neuem aufgeflammt, sogar mit verdoppelter Stärke. Die streitbaren Skibberuper hatten den Zwist begonnen, indem sie behaupteten, daß die Vejlbyer sich einen zu großen Einfluß auf die Gemeinde angemaßt hätten; und daher waren sie es nun auch in erster Linie, die die Gelegenheit benutzen wollten, den Dorfschulzen aus seiner Machtstellung zu verdrängen. Der Gemeinderat wollte nun am nächsten Tage zu einer Versammlung zusammentreten, und der Weber hatte schon »neue Entschleierungen« verheißen.

Als Emanuel zu den sogenannten Fuchshügeln hinaufkam, einer Gruppe warzenähnlicher Erhöhungen, von denen aus sich das Land nach dem niedrigen Moorstrich hinabsenkte, blieb er stehen, die Hände mit dem Stock auf dem Rücken und verfiel in Gedanken. Er starrte hinaus über das Moor und die grüne Wiesenfläche der Kyndlöser Gemeinde mit dem breiten, spiegelblanken Bach und den vielen kleinen Wiesenmühlen und zerstreut liegenden kleinen Häusern. Sein Gemüt fand einen Augenblick Ruhe und Befreiung in dem Anblick der friedlichen Landschaft, die selbst unter dem dunkeln, regenschweren Wolkenhimmel des Nachmittags ihm als ein liebliches Bild des Friedens und des ruhigen Glückes erschien. Er konnte das Dorf Kyndlöse erkennen, und den in Schlangenwindungen dahinlaufenden Weg, auf dem er an jenem Abend zusammen mit Fräulein Ragnhild gegangen war – ja, mit einem kleinen Herzklopfen entdeckte er sogar das Dach von Doktor Hassings Villa, die vornehm, von ihrem großen Garten umschlossen, dalag.

Eigentlich wunderte es ihn, daß er Fräulein Tönnesen nicht ein einziges Mal begegnet war, da sie sich doch sicher noch hier in der Gegend aufhielt. Er wußte, daß man sie mit dem Doktor hatte herumfahren sehen, wenn er auf Krankenbesuche aus war, – und er hatte sich keineswegs Mühe gegeben, sie zu meiden. Obwohl er sich dessen nicht klar bewußt war, war es im Gegenteil heute, wie auch gestern ein mitbestimmender Grund für seine Wanderungen nach den Moorhäusern hinaus gewesen, daß sich der Fahrweg von Kyndlöse in einem Bogen um die Fuchshügel hinzog.

Weit draußen über dem fernen, dunklen Waldkranz war der Himmel klar und blau geworden. Weiße, sonnenbeleuchtete Wolkenberge erhoben sich hier und da am Horizont und versanken langsam wieder. Aus dem Bedürfnis heraus sich von alledem zu befreien, was ihn bedrückte, ließ er sich von diesem Anblick hinreißen und stand eine Weile in unbestimmte Träumereien verloren da. Es war ihm, als sähe er ein luftiges Schönheitsreich strahlend aus der Tiefe der Finsternis aufsteigen und wieder verschwinden. Es war, als sähe er lockende Gestalten winken und verblassen . . . oder als höre er im Traum ferne Stimmen rufen und leise ersterben. Weshalb trauern? schienen sie zu sagen. Weshalb sich an der Last der andern müde schleppen? Wirf deinen schweren Pilgerstab weg und komme hier heraus, wo die Freude hoch über den Wolken wohnt, und der Jammer sich in den finsteren Tälern verkriecht. Komm hierher, wo das Leben eine festliche Ruhe um sprudelnde Quellen und ein Tanz auf grünen Wiesen ist . . .

Er erwachte mit einem Ruck. Und so flüchtig waren seine Träume gewesen, daß sie im selben Augenblick, als er in die Wirklichkeit zurückkehrte, aus seiner Erinnerung schwanden. Sie hinterließen nur ein Gefühl vermehrten Druckes über der Brust – und mit langsamen Schritten stieg er nach den Moorhäusern hinab.

Sie lagen da unter ihm zu beiden Seiten eines kleinen, halb ausgetrockneten Bachbettes – eine Reihe jammervoller Lehmhütten, die sich in ihrer Baufälligkeit gegeneinander stützten, als stünden sie da und grübelten vereint über ihr Schicksal nach. Der Platz davor bildete einen Schutthaufen aus altem Stroh und Topfscherben, und da war kaum ein einziges Haus mit heilen Fensterscheiben oder ohne große Löcher in dem eingefallenen Strohdach.

Emanuel ging auf eins der äußersten Häuser zu, – eine ausgebuchtete backofenähnliche Hütte, mit zwei winzig kleinen Fenstern, die unter dem herabhängenden Dachfirst nach ihm ausschauten, wie ein Paar böse Augen. Vor der Haustür stand eine große, gekrümmte Greisengestalt mit einer Axt und machte Reisig klein.

Als er sich näherte, faßte ein kleiner, wurstfeister Köter ihn in die Beine und fuhr, von Wut besessen und unter heiserem Kläffen und Gebell fort, sich vor ihm herumzurollen und die Zähne zu zeigen. Emanuel, der es nie übers Herz bringen konnte, ein Tier zu schlagen, war lange nicht imstande, vorwärts zu kommen.

Obwohl der Alte am Haublock ihn sehr gut gesehen hatte und auch unmöglich das Gekläff des Köters überhören konnte, rief er ihn nicht zu sich heran und ließ sich überhaupt nicht in seiner Arbeit stören.

»Ist das dein Hund, Ole Sören?« rief schließlich Emanuel in ziemlich empörtem Ton.

»Ne!« brummte der andere, ohne sich anfechten zu lassen, ja sogar ohne aufzusehen.

»Ich bin selbst Hund!«

Eine hochschwangere Frau erschien im selben Augenblick in der Tür der Hütte, kaum aber hatte sie Emanuel erblickt, als sie wieder zurückeilte. Und plötzlich entstand eine große Geschäftigkeit drinnen in der Stube; man hörte ein eifriges Flüstern, vermischt mit dem Geräusch von klirrendem Hausrat. Gleichzeitig sah man auch in den Türen der anderen Hütten aufgescheuchte Gestalten, und ungekämmte Köpfe guckten hinter den Giebeln hervor.

Emanuel befreite sich endlich mit Hilfe seines Stocks von dem rasenden Tier und ging ins Haus hinein.

Schon draußen auf der kleinen Diele, wo er ganz krumm gebückt gehen mußte, um nicht den Kopf gegen die spinnenwebbezogene Decke zu stoßen, spürte man einen starken Spiritusgeruch, vermischt mit dem Gestank verfaulten Bettstrohs und menschlicher Ausdünstungen. Er klopfte an die Tür und kam in eine halbdunkle Stube mit einem Klapptisch, einer Bettbank und einem paar mennigroter Stühle.

Es war Svend Biers und Peter Branntweins Haus, das er betrat. Obwohl der erstere von ihnen verheiratet war und mehrere Kinder hatte, während der andere Junggeselle war, hatten die beiden unzertrennlichen Freunde hier viele Jahre in derselben Stube und am selben Tisch gelebt . . . ja, nach einer allgemein verbreiteten Ansicht ging die Gemeinschaft noch viel weiter und hatte bei ein paar von den Kindern des Ehepaares deutliche Spuren hinterlassen.

Svend Biers kleine, kahlköpfige Gestalt mit den fetten Gliedern und dem faustgroßen Knoten über dem einen Auge erhob sich beschwerlich von der Bettbank, als Emanuel eintrat. Den Kopf auf die Seite gelegt und den rechten Unterarm steif gegen die Brust gepreßt, kam er klagend auf Emanuel zu und hieß ihn willkommen. Gleichzeitig schlich die Frau hinter Emanuels Rücken mit einer Kaffeekanne unter der Schürze hinaus.

»Das ist ja eine herzerfreuliche Überraschung!« sagte er und reichte ihm die linke Hand. »Das hätten wir ja nie erwartet, daß Herr Pastor . . . daß Emanuel, wollt ich sagen . . . uns heut einen Besuch machen wollt'. Aber das kommt uns heut grad sehr zupaß; wir haben allzusammen ein gutes Trostwort nötig in dieser Zeit, wo uns der Herr mit Schwachheiten aller Art heimgesucht hat. – –«

Er wurde von Emanuel unterbrochen, der – überwältigt von dem Gestank in der Stube – sich sogleich auf einen der roten Stühle gesetzt hatte.

»Laßt uns ein ernstes Wort miteinander reden, Svend! . . . was muß ich wieder von dir und Peter hören? Ihr wollt keine Arbeit nehmen, sagt man!«

Svend Bier nahm wieder seinen Platz auf der Bettbank ein und setzte ein klägliches Gesicht auf.

»So wahr ich hier als Sünder vor dem lieben Gott sitz', . . . da is keiner, der lieber als ich arbeiten und sich abmarachen möcht',« klagte er, während er sich mit der linken Hand vorsichtig über den rechten Oberarm fuhr, den er noch immer steif gegen den Körper hielt, als trüge er ihn in einer unsichtbaren Binde. »Aber was soll so'n armer Krüppel tun, wenn die Gicht ihn faßt, so daß man die ganze Nacht da liegt und schreit und jammert, ärger wie 'ne Frau in Kindsnöten! Sie . . . du, mein' ich . . . du kannst mir glauben, das is 'n Jammer für 'n armen Mann, der Frau und Kinder zu versorgen hat – –«

»Na, so schlimm wird es wohl nicht mit dir stehen, Svend,« unterbrach ihn Emanuel wieder und sah ihn mit festem Blick an. »Neulich konntest du doch bei der Schlägerei im Vejlbyer Krug mit dabei sein . . . ja, das hat man mir alles erzählt. Peter war ja auch mit dabei. Wo ist der denn jetzt?«

Svends schmieriger Blick glitt nach dem Alkovenbett an der einen Wand der Stube hinüber; – da lag Peter Branntwein auf dem Rücken im Stroh und schlief. Man konnte nichts weiter von ihm sehen, als das zusammengekleisterte Haar und ein blasses Gesicht, in das eine dunkelblaue, blanke und aufgesprungene Nase, die einer überreifen Pflaume glich, hineingedrückt war.

»Was bedeutet das?« fragte Emanuel, dem in dem Schmutz und dem Halbdunkel der Stube immer unheimlicher zumute wurde. »Ist Peter etwa krank?«

»Ja, er hat so schreckliches Kopfreißen . . . und solche Kälte. Das kommt so über ihn, ohne daß er es sich versieht. Wenn er so ganz ruhig dasitzt, fangen seine Zähne ihm auf einmal in' Mund an zu klappern, und er zittert und bewert über den ganzen Leib . . . das is ganz scheußlich mit anzusehen.«

Aber Emanuel ließ sich nicht länger hinters Licht führen. Er war in letzter Zeit scharfsichtig bis zum Mißtrauen geworden, und er sah bald, daß es kein Fieberpatient, sondern ein total besoffener Mann war, der da unter dem Federbett lag und sich vergeblich bemühte, den Schlaf zu überwinden und die Augenlider zu heben.

Er stand auf. Sein Gemüt war in heller Empörung. Mit zornbebender Stimme sagte er:

»Hört einmal, jetzt will ich euch beiden etwas sagen! . . . Nehmt euch jetzt in acht! Auch unsere Langmut hat eine Grenze, und wenn ihr fortfahrt, unsere Nachsicht zu mißbrauchen, so wie ihr es in der letzten Zeit getan habt, so muß es zwischen uns aus sein. Dann muß das öffentliche Armenwesen sich eurer in Zukunft annehmen. Hast du mich verstanden, Svend?«

Der süßliche Ausdruck in Svends Gesicht war plötzlich verschwunden; der große Stirnknoten zog sich tiefer über das Auge herab und sein dicker Mund verbreiterte sich zu einem boshaften Lächeln.

»Ach, so schlimm wird es woll auch nich werden,« sagte er trotzig, während er doch noch aus alter Gewohnheit fortfuhr, sich den Arm zu reiben. »Ihr wißt auch recht gut, wozu ihr uns arme Leute gebrauchen könnt. – Hah!«

»Was meinst du damit? Was soll das heißen!« fragte Emanuel.

»Was ich meine? . . . Na, so dumm bin ich denn doch auch nich', daß ich nich' weiß, wie es mit den Leuten geht, wenn sie unter das Armenwesen kommen, die verlieren ihr Stimmrecht, hab' ich mir sagen lassen . . . und das wird sich woll so verhalten.«

»Ja, . . . aber was meinst du mit dem allen?«

»Ich mein' man bloß, daß ihr unsere Stimmen woll ganz gut gebrauchen könnt . . . sonst würd't ihr woll nich so viel um uns rumscharwenzeln, denk' ich mir. Ihr wißt auch, daß an 'n Wahltag ein armer Mann ebensoviel gilt, wie ein Lehnbaron! – . . . Ja, das habt ihr euch ganz gut ausgerechnet! –«

Emanuel stand sprachlos da.

Das also war die Ansicht dieser Menschen von dem großen Wohltätigkeitswerk der Gemeinde! An solche Leute hatte er seine Liebeswerke verschwendet, für diese Unmenschen hatte er seinen eigenen Wohlstand geopfert, so daß er nun selber nahe daran war, Not zu leiden!

Er war leichenblaß geworden. Fort, fort! schrie es in ihm . . . Es war, als sänken ihm seine Augen plötzlich in den Kopf. Außerstande, sich länger zu beherrschen, griff er nach seinem Hut und stürzte hinaus.

Er hatte sich jedoch noch nicht weit vom Hause entfernt, als er stehen blieb. Mit einem tiefen Seufzer legte er die Hand an die noch brennende und pochende Stirn.

»Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet!« murmelte er vor sich hin. Er hätte diese seines Herrn Worte nicht vergessen sollen, sagte er reuevoll zu sich selbst. Er hatte wieder einmal nicht so gehandelt, wie es sich für denjenigen geziemt, der demütig in Jesu Fußstapfen wandeln will. Ach, was ging nur mit ihm vor in dieser Zeit? . . .

Er zuckte zusammen. Dort auf dem Wege kam ein Wagen mit grauem Schimmelgespann und einem Livreekutscher auf ihn zugefahren – Doktor Hassings Equipage. Das Blut schoß ihm in die Wangen. Er meinte bestimmt, Fräulein Ragnhilds blonden Kopf hinter dem Rücken des Kutschers hervorlugen zu sehen.

Als der Wagen näher kam, zeigte es sich, daß er sich geirrt hatte. Auf dem breiten Kaleschensitz saß niemand anders, als der Doktor, der in einen Gummimantel gehüllt war und eine Zigarre rauchte.

»Guten Tag, Herr Pastor,« sagte Hassing, nachdem er den Wagen hatte halten lassen und streckte ihm seine behandschuhte Hand unter dem Regenmantel entgegen. »Wie geht es Ihnen? Sie stecken natürlich bis über die Ohren in der Roggenernte, das kann ich mir denken. Ich will hoffen, daß Sie schwimmen können, . . . denn es ist um diese Zeit wirklich ein bißchen naß um die Füße.«

»Ja, es ist . . . eine schwierige Ernte,« entgegnete Emanuel geistesabwesend. »Sie haben einen Krankenbesuch gemacht, Herr Doktor?«

»Ja. Sie haben da ein gebrochenes Bein in Ihrer Nähe; aber es ist keine gefährliche Geschichte. Doch ehe ich es vergesse, ich habe einen Gruß für Sie, Herr Pastor – von Fräulein Tönnesen. Sie ist vor acht Tagen abgereist.«

»So? Fräulein Tönnesen ist abgereist?« sagte Emanuel, unnatürlich lebhaft.

»Ja, sie hatte uns eigentlich versprochen, etwas länger zu bleiben. Aber ich glaube, sie sehnte sich nach der Stadtluft. Jedenfalls hatte sie plötzlich große Eile. Sie wissen, sie liebt es nicht, ›auf der Weide zu gehen‹! Wissen Sie übrigens, daß Sie zu Hause bei uns einen Proselyten gemacht haben . . . nämlich die kleine Nichte meiner Frau . . . Sie erinnern sich wohl noch des jungen Mädchens. Sie war sehr erfüllt von ihrem Besuch neulich bei Ihnen . . . ja, Sie haben sie vielleicht die letzten Sonntage in Ihren Kirchen gesehen.«

»Ja, – das ist gerade, – gerade das Eigentümliche,« sagte Emanuel, ohne nach seinen Worten hingehört zu haben und ohne sich bei dem, was er sagte, etwas zu denken.

»Nun, dann adieu, Herr Pastor! ich wünsche Ihnen, daß Sie Ihren Roggen gut unter Dach bekommen!«

Der Doktor gab dem Kutscher einen Wink und der Wagen rollte von dannen. – –

Als Hassing nach Hause kam, erzählte er seiner Frau, er habe Emanuel getroffen und die Mitteilung von Ragnhilds Abreise habe scheinbar einen gewissen Eindruck auf ihn gemacht.

»Ja, wenn wir nur nicht eine Unvorsichtigkeit begangen haben, indem wir die beiden Menschen wieder zusammenbrachten,« sagte Frau Hassing. – »Ich habe mir schon Gedanken darüber gemacht. Ragnhild war so ungewöhnlich nervös in der letzten Zeit hier . . . und diese plötzliche Abreise . . .«

Sie hatte mehr sagen wollen, aber im selben Augenblick kam Gerda durch das Zimmer, um in den Garten zu gehen. Das junge Mädchen war schwarz gekleidet, hatte ein großes Jettkreuz auf der Brust und ein schwarzgebundenes Buch in der Hand.

»Wenn wir uns der gegenüber nur keine Vorwürfe zu machen haben,« sagte Dr. Hassing mit bedenklicher Miene, als sie das Zimmer verlassen hatte. »Sie ist erblich belastet in bezug auf Exzentrizität . . . Weißt du, daß sie dem Frachtkutscher Sören den Auftrag gegeben hat, ihr eine Photographie von Pastor Hansted zu verschaffen?«

»Ach, das gibt sich schon wieder,« meinte Frau Hassing. »In dem Alter will man den einen Tag Nonne werden und den nächsten Kunstreiterin . . . Das kenne ich aus eigener Erfahrung.«

»Du bist ja auch ihre Tante, Ludovika.«

* * *

Emanuel war langsam nach Hause gegangen. Die Wolken über seinem Kopf hatten sich zusammengezogen. Ohne daß er es bemerkte, fing ein feiner Regen an zu fallen.

Als er von der Diele her Hansines und der Kinder Stimme drinnen im Schlafzimmer hörte, blieb er einen Augenblick unschlüssig vor der Tür stehen, und dann wandte er sich ab und ging in seine halbleere Kammer drüben auf der andern Seite der Diele.

Hier stand er lange am Fenster und starrte in den schon von Dämmerung erfüllten Garten hinaus.

Er konnte es sich nicht länger verhehlen, wie es um ihn stand. Das Gefühl der Leere, das die Mitteilung von Fräulein Ragnhilds Abreise in ihm hervorgerufen hatte, bewies deutlich, wie erfüllt von dem Gedanken an ihre Nähe er gewesen war. Daß sie persönlich irgendwelche Macht über ihn haben sollte, wollte er jedoch nicht anerkennen, in der Beziehung hegte er keine Besorgnis. Es war die Luft, die sie mit sich gebracht hatte, es war der verzauberte Dunstkreis, in den sie ihn hineingezogen und der ihn verwirrt gemacht hatte. Großer Gott, wie war er nur so schwach geworden?

Er wußte selber nicht, wie lange er dort gestanden und in die zunehmende Dunkelheit des Gartens hinausgestarrt hatte, als die Tür draußen von der Diele her von Hansine geöffnet wurde.

»Stehst du da?« sagte sie, nachdem sie ihn einen Augenblick schweigend betrachtet hatte.

Er zuckte nervös zusammen. Er hatte sie nicht kommen hören.

»Wer . . . was . . . bist du es?« sagte er verwirrt.

Sie stand eine kleine Weile da, ohne zu antworten.

»Sören erzählte, du wärst nach Hause gekommen. Wir haben dich überall gesucht. Warum kommst du nich zur Abendgrütze rein?«

Emanuel versuchte die Dämmerung des Zimmers mit seinem Blick zu durchdringen. Er hatte ihre sonst so feste Stimme sie einen Augenblick in Stich lassen hören.

»Ich komme gleich,« sagte er in den Bart hinein. »Ich hatte über etwas nachzudenken.«

Sie blieb noch eine Weile mit der Hand auf dem Türschloß stehen, als erwarte sie, daß er ihr mehr zu sagen habe. Dann ging sie langsam hinaus.

Aber als sie schon halb zur Tür hinaus war, sagte sie, ohne sich nach ihm umzuwenden:

»Hast du mit dem Doktor gesprochen? Er ist ja wohl heute nachmittag wieder hier im Dorf gewesen.«

»Mit dem Doktor? Ja, ich habe . . . Wer hat dir das übrigens erzählt?«

»Ach, das hab' ich mir man so gedacht,« sagte sie und schloß die Tür leise hinter sich.

Emanuel blieb am Fenster stehen und starrte auf die geschlossene Tür. Dann nickte er vor sich hin . . . und seine Lippen fingen an zu beben. Arme Hansine! Er hatte ja freilich gemeint, in letzter Zeit eine Veränderung in ihrem Wesen zu spüren; sie hatte zugleich sein Vertrauen gesucht und sich seinen Annäherungen entzogen. Jetzt verstand er alles!

Und sein Herz blutete, als er daran dachte, wieviel sie im stillen in diesen Tagen gelitten haben mußte. Die Liebe! Schweigend und geduldig hatte sie den Kampf verfolgt, den er in den letzten Wochen mit sich selbst ausgekämpft hatte –, den letzten, den entscheidenden Kampf gegen das unglückselige väterliche Erbe seines Blutes, die endgültige Probe für seine Befreiung!

Ach – aber er wolle schon siegen!



 << zurück weiter >>