Henrik Pontoppidan
Das gelobte Land
Henrik Pontoppidan

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Zweiter Teil

Nach einigen Tagen mit abwechselnd mildem und regnerischem Wetter erhob sich am Sonntag um Sonnenaufgang ein heftiger Sturm von Norden. Hansine saß am Abend allein zu Hause bei den Kindern, die früh zur Ruhe gebracht waren. Emanuel und die Dienstboten sowie die gewöhnlichen Abendgäste des Hauses hatten sich nach der großen Protestversammlung ins Skibberuper Versammlungshaus begeben, wohin im Laufe des Tages Leute aus der ganzen Harde zusammengeströmt waren. Schon seit dem Vormittag waren die Wagen mit außerhalb der Gemeinde wohnenden Gesinnungsgenossen durch das Dorf gerollt, und viele von ihnen hatten vor dem Pfarrhause haltgemacht und Leute hinterlassen, die die Gelegenheit benutzten, um mit Emanuel zu reden und an dem Gottesdienst in der Vejlbyer Kirche teilzunehmen. Außerdem waren die beiden Reichstagsredner, die man sich verschrieben hatte – ein paar westjütische Bauern – zu einem langen Besuch dagewesen, und am Nachmittag war eine Schar Schüler drüben aus der Sandinger Hochschule mit Gruß und Botschaft von dem alten, jetzt meistens im Bett liegenden Vorsteher gekommen. Und alle diese Menschen mußten entweder Kaffee oder etwas zu essen haben, so daß an diesem Tage im Pfarrhause ein Leben und eine Geschäftigkeit geherrscht hatten, wie in einem Gasthof am Markttage.

Hansine hatte sich auf diese stillen Abendstunden nach dem langen und unruhigen Tage gefreut. Es war ihr nicht oft beschieden, so ungestört zu sein – und sie teilte keineswegs Emanuels Entzücken darüber, das Haus stets voll von Gästen zu sehen. Sie wünschte im Gegenteil oft, daß er die Türen etwas weniger weit für die vielen Freunde öffnen möge, die sich allmählich daran gewöhnt hatten im Pfarrhause ein und auszugehen, fast wie in ihrem eigenen Heim. Als sie nun endlich allein geblieben war und die Kinder in ihren Betten lagen, und als sie die Lampe angezündet und mit einer Stopfarbeit an dem langen Tisch im Wohnzimmer Platz genommen hatte, war es ihr doch ein wenig unheimlich zumute, so verlassen dazusitzen in dem stillen und leeren Hause, mit dessen großen Räumen und ganzer Einrichtung sie sich immer noch nicht recht vertraut machen konnte. Obwohl sie nun bald 7 Jahre ihr Heim hier gehabt hatte, wurde es ihr doch immer noch schwer, sich ganz von dem Gefühl zu befreien, daß sie selbst nur ein fremder und ungebetener Gast in diesen hohen Räumen sei. Oft grübelte sie darüber nach, wie Emanuel sich hier so wohl fühlen und überhaupt so zufrieden sein könne, obwohl ihr Zusammenleben im Laufe der Jahre ganz anders geworden war, als sie beide es sich seinerzeit gedacht hatten. Sie selber sandte manch liebes Mal – namentlich nach einem langen Tage wie dem heutigen – einen wehmütigen Gedanken zu dem kleinen, mit wilden Rosen berankten Häuschen draußen am Bach zwischen den grünen Hügeln von Egede, das sie in ihrer Verlobungszeit zu kaufen geplant hatten; und während ihre Phantasie sich ausmalte, wie gut und traulich und friedlich sie dort in den kleinen, gemütlichen Stuben hätten leben können, fern von den vielen Menschen und mit dem weißen Strand als Nachbar, empfand sie die Öde des Pfarrhauses doppelt kalt und bedrückend.

Dazu kam jetzt der wachsende Lärm von dem Sturm, der über dem Hause dahinsauste und allerlei kleine Geräusche aus den Wirtschaftsgebäuden zu ihr hereinführte. Drüben in der Scheune stand eine Bodenluke offen und klappte, und an dem starken und anhaltenden Rütteln der Dielentür konnte sie merken, daß Niels wieder vergessen hatte, den Torweg zu schließen. Aus dem Stall ertönte hin und wieder ein tiefes Brummen von einer der Kühe – und alle diese Laute erregten ihre hausfrauliche Besorgnis. Sie mußte daran denken, ob Abelone nicht etwa vergessen hatte, die Mutterkuh zu melken, ehe sie ging, und ob sie wohl die Küchenasche gut nachgesehen hatte, die am Nachmittag auf den Dunghaufen geworfen war. Abelone war in der letzten Zeit so zerstreut gewesen und hatte eine so sonderbare Neigung, aus dem Braustubenfenster zu sehen, sobald Niels über den Hof ging . . . wenn nur Niels nicht all das Wesen zu Kopf stieg, das aus ihm gemacht wurde, seit er angefangen hatte, in den Zeitungen zu schreiben. Er war schon sehr nachlässig in seiner Arbeit geworden, fand sie.

Sie wurde in ihrem Gedankengang unterbrochen durch einen klagenden Laut aus dem Schlafzimmer, zu dem die Tür angelehnt war. Es war der Bub, der im Schlaf jammerte. Sein Vater hatte ihn am Vormittag mit nach Skibberup genommen, damit er während des Gottesdienstes mit den Kindern des Aalfischers an den frischen Strand laufen und spielen könne; aber nach der Rückkehr war er plötzlich verschwunden und den ganzen Nachmittag nicht aufzufinden gewesen. Erst in der Dämmerstunde, nachdem Emanuel gegangen war, hatte sie ihn oben auf der obersten Stufe der Bodentreppe gefunden, wo er gesessen hatte, die Hände gegen das kranke Ohr gepreßt, ganz angeschwollen im Gesicht vom Weinen. Sie hatte ihn gleich zu Bett gebracht und ihm einige Tropfen von der alten Stryne-Grete »Höröl« in das Ohr geträufelt, worauf er dann auch schnell eingeschlafen war. Aber noch während des Schlafes fuhr er fort zu jammern, und dieser erneute Ausbruch des alten Leidens ihres Jungen trug sein Teil bei zu der etwas gedrückten Stimmung, in der sie sich heute abend befand.

Sie hatte sich nie recht aussöhnen können mit Emanuels Vorliebe, die Kinder in allem Wetter überall mitzunehmen, wohin er sich auch begab; und noch weniger konnte sie es verstehen, daß er ihnen ruhig Erlaubnis gab, sich so frei zwischen allen Straßenkindern herumzutummeln, wo sie doch so vielem ausgesetzt waren, was nicht gut sein konnte. Sie erinnerte sich aus ihrer eigenen Kindheit der vielen häßlichen Dinge, die gerade zwischen den armen Kindern gang und gäbe waren, und jedesmal, wenn sie den Buben und Sigrid zwischen ihnen herumlaufen sah, ganz so, wie sie selber es einstmals getan hatte, mit Holzschuhen und geflickten Kleidern, dann ward es ihr schwer, ein wenig Bitterkeit und Mißmut zu unterdrücken, unter dem verstärkten Gefühl, wie verschieden von dem Bilde eines Lebens in der Welt des Geistes, wie sie es ihrer Zeit auf den Bänken der Hochschule erträumt, sich ihr und Emanuels Zusammenleben gestaltet hatte. Einmal über das andere hatte sie sich vorgenommen, eindringlich mit Emanuel über die Verhältnisse der Kinder zu reden; aber noch immer hatte sie nicht den rechten Mut dazu finden können. Sobald sie ihn in die Stube eintreten sah, immer fröhlich und zuversichtlich und so erfüllt von seinem großen Werk, verlor sie das Zutrauen zu sich selbst. Gegenüber seiner unerschütterlichen Zuversichtlichkeit und der freudigen Selbstaufopferung, mit der er sich seinem Beruf hingab, konnte sie nie Worte für das finden, was sie sagen wollte, und fühlte sich beschämt über ihre alltäglichen kleinen Sorgen.

. . . Drinnen aus dem Schlafzimmer ertönten plötzlich eine Reihe kurzer Schreie. Hastig legte sie ihre Arbeit hin und stand auf. Als sie aber an das Bett des Buben kam, fand sie ihn scheinbar in vollkommen ruhigem Schlaf. In dem Glauben, daß sie sich verhört hatte, wollte sie eben in die Wohnstube zurückkehren, als er sich im selben Augenblick auf den Rücken warf, die Zähne gegeneinander knirschte und von neuem drei angsterfüllte Schreie ausstieß.

»Aber, mein Kind! . . . was hast du nur einmal?« rief sie und richtete ihn im Bett auf, um ihn zu wecken.

Der Kleine rieb sich mit beiden Händen die Augen, sah sich dann in tiefer Verwunderung um und sagte endlich:

»Mir fehlt nichts!«

»Aber warum schreist du denn so? . . . Hast du einen bösen Traum gehabt oder tut es dir irgendwo weh?«

Er schien sie nicht zu hören. Seine Augen wurden so unheimlich groß und starrten gerade vor sich hin mit einem Ausdruck lebhaften Interesses, in das sich Bestürzung mischte.

»Mutter!« sagte er.

»Ja, was hast du denn, mein Junge? Du hast mich so erschreckt.«

»Da ist eine Fliege in meinen Kopf 'reingekommen.«

»Was du redest, Kind! Das hast du geträumt, nicht wahr? Leg' dich nur ruhig wieder hin und schlafe, dann geht es schon vorüber.«

»Nein . . . es ist wirklich wahr . . . ich kann es immerzu fühlen. Sie kann woll nich' wieder 'rauskommen, Mutter?«

Bei den letzten Worten verzerrte sich sein Gesicht und nach einem kurzen Kampf mit seinem Stolz warf er sich in seiner Angst an die Brust der Mutter und fing an zu weinen. Sie streichelte ihm beruhigend das Haar; und mit seiner gewohnten Gutmütigkeit trocknete er denn auch bald seine Augen und kroch unter das Deckbett. Mit einem kleinen Seufzer legte er beide Hände unter die Wange und war schon im nächsten Augenblick eingeschlafen.

Aber Hansine blieb am Bett stehen. Die Worte des Jungen und sein sonderbares Benehmen hatten sie allen Ernstes besorgt gemacht; sie wußte nicht, was sie glauben sollte. Und wie sie nun dastand und ihn beim Schein der Nachtlampe betrachtete, gab sie sich selbst ein Versprechen. Sie wollte jetzt nicht länger zögern, sich Klarheit über den Zustand des Jungen zu verschaffen. Noch heute abend wollte sie ernsthaft mit Emanuel darüber reden und sie wollte diesmal nicht nachgeben, bis der Doktor geholt und seine Ansicht gehört war.

* * *

Die Uhr war fast zehn und Hansine saß wieder in der großen Stube und stopfte die Strümpfe der Kinder, als Emanuel nach Hause kam. »Gottes Friede hier drinnen!« sagte er mit dem Eintrittsgruß, den er nach alter Bauernweise angenommen hatte, und blieb einen Augenblick im Halbdunkel an der Tür stehen. Er hielt eine ausgelöschte Laterne in der einen Hand, einen Eichenknittel in der andern; der blonde Bart wallte zerzaust auf seinen dunklen, kuttenartigen Friesmantel herunter, dessen Kapuze er über den Kopf gezogen hatte. »Ist Niels noch nicht da?«

»Nein, ich habe niemand gehört.«

»Abelone auch nicht?«

»Nein.«

»Das arme Kind! Sie wird Mühe haben, gegen den Wind anzukämpfen. Es ist ja ein förmlicher Orkan geworden . . . und eine Finsternis, daß man nicht die Hand vor Augen sehen kann. Unten am Abhang wehte meine Laterne aus; ich hätte beinahe meinen Weg nicht gefunden. – Gottlob, daß ich daheim bin!«

Er stellte die Lampe auf die Bank neben der Tür und legte Stock und Mantel ab.

»Und nun hab' ich dir aber was zu erzählen!« fuhr er munter fort, indem er sich näherte und in seine blaugefrorenen Hände blies. Erst als er ganz bis zu ihr herangelangt war und die Hände um ihren Kopf legen wollte, um einen Heimkehrkuß auf ihre Stirn zu drücken, bemerkte er ihren unruhigen und abwesenden Gesichtsausdruck.

»Aber was hast du nur, mein Schatz? Es ist doch nichts geschehen?«

Sie suchte sich einen andern Strumpf aus dem Haufen heraus, der vor ihr auf dem Tische lag und sagte in einem Tonfall, aus dem man eine verhaltene Anklage heraushören konnte:

»Ach, es ist wieder der Bube, Emanuel!«

»Der Bube? Was ist es denn mit ihm? Er ist doch wieder da? Ich habe ihn den ganzen Nachmittag nicht gesehen.«

»Nein, die Sache hat sich aufgeklärt . . . ich fand ihn, als du gegangen warst, oben auf der Bodentreppe. Es war wieder schlimm mit dem Ohr, so daß ich ihn zu Bett bringen mußte. Ich weiß nicht, was es mit ihm ist; ich habe ihn noch nie so sonderbar gesehen, wie heute abend.«

»Aber was sagst du da! Laß mich ihn sehen!«

Er wollte die Lampe vom Tisch nehmen, aber sie hielt seine Hand zurück.

»Das tut nicht nötig. Er könnte aufwachen . . . ich habe die Nachtlampe in der Schlafstube angesteckt.«

Sie stand auf und folgte ihm in das Zimmer nebenan, wo der Knabe noch lag und schlief, schwach beleuchtet von dem rötlichen Schein einer kleinen Flamme, die auf einer braunen Ölschicht in einem Wasserglas hinter seinem Kopfende schwamm. Beide Hände unter der Wange und die Knie in die Höhe gezogen lag er ganz still da. Keine Linie seines Gesichts verriet in diesem Augenblick etwas anderes als die gesundeste, tiefste Ruhe.

»Aber er schläft ja wie ein Scheundrescher!« sagte Emanuel. »Ihm kann unmöglich etwas fehlen! Du hast dich einschüchtern lassen. Hansine!«

»Ich verstehe es nicht . . . vorhin sprach er ganz wirr und schrie so scheußlich. Es kommt so stoßweise über ihn.«

»Ach, das ist die Frühlingsluft, du kannst es mir glauben, die pflegt den Schlaf der Kinder unruhig zu machen. Du sollst sehen, morgen ist er mit Gottes Hilfe wieder gesund.«

»Aber ich finde doch, Emanuel, daß wir jetzt endlich –«

»So schön wie er aussieht!« fuhr er still lächelnd fort. Wie die meisten Leute, die sich selbst gern reden hören, überhörte er im allgemeinen die Bemerkungen anderer. Er hatte seinen Arm um Hansinens Taille geschlungen und betrachtete mit einem Blick voll väterlichen Glückes den kleinen rotgelockten Kopf, der da so tief in die weißen Kissen versunken lag. »Ganz wie ein kleiner Engel in Gottes Schoß. Ist das nicht ein lieblicher Anblick . . . Kannst du überhaupt verstehen, Hansine, daß Leute, die Kinder haben, Gottesleugner sein können? Für mich liegt da ein so deutlicher Widerschein des jenseitigen Lichts, eine so liebliche Verheißung des himmlischen Glückes und Friedens über den Augen solch eines schlafenden Kindes. – – Nun,« unterbrach er sich und gab Hansine frei. »Wie steht es denn mit den andern beiden kleinen Kobolden? Mit denen ist ja wohl nichts los gewesen? Den Dicksack kann man ja schnarchen hören, so daß es eine Lust ist.«

Während er sprach, bewegte er sich um die Betten herum und beugte sich über seine »drei Tonnen Gold« herab, wie er seine Kinder oft scherzend nannte. Bei jedem Bett nahm er einen Kümmelkringel aus der Rocktasche und schob ihn halb unter das Kopfkissen, so daß die Kinder ihn gleich am Morgen sehen mußten, wenn sie erwachten.

»Ich guckte einen Augenblick beim Bäcker ein. Ich fand, ich dürfe an einem Tag, wie der heutige, nicht mit leeren Händen zu ihnen heimkommen. So! Jetzt wird es wohl das beste sein, wenn wir sie ruhig schlafen lassen. Und ich habe dir ja heute abend so viel Neues zu erzählen. Laßt uns hineingehen!«

Sie kehrten in die Wohnstube zurück, wo er sofort anfing, durch den großen Raum auf und nieder zu gehen und ausführlich über alles zu berichten, was sich im Skibberuper Versammlungssaal zugetragen hatte. Hansine hörte aber nur mit einem Ohr zu. Sie hatte ihren Vorsatz nicht aufgegeben und war noch immer fest entschlossen, die erste Gelegenheit zu benutzen, um die Unterhaltung wieder auf den Buben zu bringen.

»Aber weißt du, was der Glanzpunkt der ganzen Versammlung wurde?« rief Emanuel aus und blieb mitten im Zimmer stehen, die Hände in der Seite, den Oberkörper vorgebeugt. »Rate einmal, Hansine!«

»Das nützt mir wohl nichts . . . sag' du es lieber,« entgegnete sie.

»Dein Vater!«

Hansine sah von ihrer Stopfarbeit auf.

»Vater?«

»Ja – kein anderer als dein lieber alter, blinder Vater!«

»Hat Vater geredet?«

»Freilich! . . . Ach, ich wollte, ich könnte dir so recht eine Vorstellung von der Begeisterung, ja geradezu von dem Jubel geben, den sein Erscheinen erregte. Es war wahrhaftig herzergreifend!«

»Aber kann Vater denn reden?« fragte Hansine in wachsendem Erstaunen.

»Ja, es waren nicht so sehr die Worte, du! Es war sein ganzes Auftreten und seine gewaltige Gemütserregung . . . Siehst du – der Dorfschulze hatte eben geredet – ein wenig lang und ein wenig weitschweifend, so wie es ja leider seine Gewohnheit ist – und die Resolution sollte verlesen werden, als dein Vater, der unter der Rednertribüne saß, aufstand, um besser hören zu können, was gesagt wurde. Aber ringsumher im Saal wurde seine Bewegung mißverstanden; man glaubte, er wolle etwas sagen, und von allen Seiten fing man an zu rufen: »Auf die Rednertribüne rauf! Auf die Rednertribüne rauf!« Kurz und gut – ehe dein Vater sich erklären konnte, wurde er von zwei Männern von seinem Platz auf die Tribüne hinaufgeführt. Er leistete auch eigentlich keinen weiteren Widerstand . . . und du kennst ja seine Verschämtheit, so daß du dir eine Vorstellung von seiner und der ganzen Versammlung Stimmung machen kannst. In meinem ganzen Leben werde ich den Augenblick nicht wieder vergessen!«

»Aber – aber . . . was sagte er denn?«

»Ja, wie gesagt, die Worte waren es eigentlich nicht . . . es war vielmehr der Anblick des alten blinden Mannes mit dem dichten weißen Haar, der da auftauchte als ein noch lebender Zeuge aus den Tagen der Knechtschaft, die er ja wirklich selbst fast noch erlebt hat. Es war, als höre man eine Stimme aus dem Grabe, als er die Hand erhob und mit zitternder Greisenstimme rief: ›Soll'n wir denn das hölzerne Pferd wieder haben? Woll'n sie das? Soll'n wir Bauern wieder wie das liebe Vieh für den Gutsherrn sein?‹ – Ja, weiter sagte er eigentlich nichts, aber du hättest das donnernde: ›Nein, nein! Das soll nie geschehen!‹ hören sollen, das nach seinen Worten durch den Saal schallte. Ich wünschte nur, daß die Feinde der Volksfreiheit zugegen gewesen wären und den ehernen Klang gehärteten Willens, der in dem Ruf lag, vernommen hätten. Dann würden sie schon eingesehen haben, wie hoffnungslos ihr Widerstand ist. Ich glaube es jetzt ganz bestimmt . . . die Zeiten der Unmenschlichkeit sind unwiderruflich vorüber. Das tausendjährige Reich mit seiner Herrlichkeit und Wonne wird anbrechen. Friede auf Erden und unter den Menschen! So erschalle es nach allen vier Himmelsrichtungen hin . . . Ach ja, was für ein glücklicher Mensch bin ich doch!« rief er aus und ging hin und legte seine Hände um Hansinens Kopf. »Nie kann ich Gott genug dafür danken, daß mir dies beschieden ist. Wie hohe Zeit war es nicht, als er mir den Weg zeigte aus dem Sodom, wo das Leben jetzt ein armseliger Kampf mit Tod und Fäulnis ist. Wie herrlich ist es, hier zu atmen, wo alles Ursprung, wo alles Frühling ist und Morgengrauen und Lerchengesang! Denk doch, daß du und ich und wir alle nach schwachen Kräften mitbauen dürfen an dem ewigen Reiche des Friedens und der Wahrheit und der Gerechtigkeit! . . . Wenn ich an mich selbst denke, so wie ich in früheren Zeiten war, so ist es mir, als sei ich jetzt ein ganz neuer Mensch geworden, als habe ich ein altes häßliches, eingeschrumpftes Koboldgewand abgeworfen. Und für all das Glück schulde ich nächst Gott dir den größten Dank, mein Weib! . . . Ja, ja! Nun schlägst du die Augen nieder und errötest! Aber es ist doch so! Du bist die Prinzessin, ohne die ich nie mein halbes Königreich errungen haben würde!«

* * *

Erst den nächsten Morgen fand Hansine den Mut, mit hinreichendem Nachdruck ihr Verlangen vorzubringen, daß der Doktor geholt werden solle. Emanuel wurde im ersten Augenblick fast zornig. Er warf ihr – wie schon so oft – ihre Kleinmütigkeit vor, ihre Schwäche im Glauben an die Barmherzigkeit der Vorsehung und ihre Neigung, Trost in allerhand Menschenklugheit zu suchen, statt vertrauensvoll alles in Gottes gnadenreiche Hände zu legen. Er sprach so eindringlich, so warm und in einem so betrübten Tonfall zu ihr von dem Eifer des Glaubens, daß sie sich schließlich ganz schuldbeladen fühlte und zu weinen begann.

Aber beim Anblick ihrer Tränen ward er sofort milder gestimmt. Er ging hin, um sie auf die Stirn zu küssen, machte aber dadurch das Übel nur noch schlimmer, so daß sie sich unter erregtem Schluchzen abwandte. Er blieb ganz überrascht stehen. Er war es nicht gewohnt zu sehen, daß sie sich so von ihren Gefühlen überwältigen ließ. Er hatte sie nicht weinen sehen seit jenem Augenblick an ihrem Verlobungsabend, als sie ihm unfreiwillig ihre Liebe offenbart hatte –, und die Erinnerung an diese glückliche Stunde machte ihn so bewegt, daß ihm selbst die Tränen in die Augen traten und er sich reuevoll herabbeugte und ihr Haar und ihre nasse Wange streichelte.

»Mein lieber, lieber Schatz! Hätte ich gewußt, daß du dir meine Worte so zu Herzen nehmen würdest, so hätte ich sie wahrlich nicht gesagt. Ich hab' es ja nicht so schlimm gemeint. Du weißt ja auch – nicht wahr? – daß wenn du wirklich glaubst, daß es dir eine Beruhigung gewähren kann, Doktor Hassings Ansicht zu hören, so könnte es mir nie im Ernst einfallen, mich dem zu widersetzen. Ich will gleich zu Niels hinausgehen und ihm sagen, daß er anspannen soll. Dann kann der Doktor noch heute vormittag hier sein.«

. . . Als Hansine eine Viertelstunde später den Wagen durch den Torweg rollen hörte, seufzte sie erleichtert auf und machte sich daran, in den Stuben aufzuräumen, damit es ein wenig ordentlich sei zum Empfang des Doktors. Es war das erstemal, daß sie den Besuch eines Fremden erwartete, von dem es denkbar war, daß er ihr Heim mit unwilligen Blicken betrachten könne, und sie fühlte selbst, daß da allerlei war, was anders hätte sein können und müssen. In der Schlafstube wurden alle Betten frisch bezogen und Sigrid und die kleine Dagny wurden vom Hofe hereingeholt, um ein wenig zierlich gemacht zu werden. Am liebsten hätte sie ihnen beiden ihre Sonntagskleider angezogen, da sie aber ein Gefühl hatte, daß Emanuel das nicht gern sehen würde, begnügte sie sich damit, ihnen das Gesicht mit Seife rein zu waschen und ihnen eine reine Schürze umzubinden. Den Buben mußte sie lassen, wie er war. Er war die letzte Hälfte der Nacht ziemlich ruhig gewesen und schlief noch so fest, daß sie es nicht übers Herz bringen konnte, ihn zu wecken.

Emanuels ausgesprochener Widerwille, den Arzt der Gegend in seinem Hause zu sehen, hatte eine doppelte Ursache. Erstens hegte er einen eingewurzelten Unwillen gegen Ärzte im allgemeinen. Er behauptete, daß diesen Leuten im modernen Leben eine viel zu übertriebene Bedeutung beigelegt würde, ja, er maß ihnen im wesentlichen die Schuld bei für die Verweichlichung und die Ausschweifungen, die die gebildeten Klassen der heutigen Zeit untergraben hatten. Es war seine Überzeugung, daß das blinde Vertrauen, mit dem die Leute sich heutzutage den Ärzten und Apothekern in die Arme geworfen hatten, die ernsteste Gefahr für eine gesunde und sittliche Entwicklung des Menschenlebens enthalte, indem viele törichterweise glaubten, mit Hilfe von Pillen, Mixturen und Elektrizität imstande zu sein, körperliche und geistige Ausschweifungen zu heilen und deswegen hohnlachend auf die einzigen wahren und wirksamen Heilmittel: Mäßigkeit, Genügsamkeit und körperliche Arbeit, herabsahen.

Aber daneben lag noch ein besonderer Grund für seine Scheu, Dr. Hassing gegenüber vor. Dieser Mann war nämlich sozusagen der einzige, außerhalb des Freundeskreises, mit dem er während dieser Jahre in eine Art von Verbindung gekommen war, indem sie sich verschiedentlich an Kranken- und Totenbetten getroffen hatten, – und der Arzt hatte ihm alsdann mit seiner stets auf das sorgfältigste gepflegten Persönlichkeit, seinem zugeknöpften Wesen und seinen formellen Redensarten eine erneute Berührung mit den Umgangsformen aufgezwungen, die er verachtete, und vor denen er geflohen war. Außerdem war es allgemein bekannt, daß er – wie die meisten seiner Kollegen – Freigeist war und sich häufiger spöttisch über den Glauben der Christen an den Beistand der Vorsehung und die Verheißungen des Wortes Gottes geäußert hatte. Endlich herrschte in der Gegend allgemein die Ansicht, daß Dr. Hassing ein höchst mittelmäßiger Arzt war, dessen größtes Interesse darin bestand, sich mit kostbaren Schnurrpfeifereien zu umgeben, seine Villa umzubauen, Mittagsgesellschaften zu geben und einmal im Jahr eine Reise ins Ausland zu machen, – kurz, sich mit Hilfe seines bedeutenden Privatvermögens das Leben so angenehm wie möglich zu gestalten.

So war es denn kein geringes Opfer, das Emanuel Hansine gebracht hatte, indem er einwilligte, daß dieser Mann zu seinem lieben kleinen Buben gerufen wurde, von dessen gesunder Natur er selbst so fest überzeugt war, daß es ihm fast als eine Undankbarkeit gegen den lieben Gott erschien, daran zu zweifeln. Deswegen war er heute auch nicht in der gewohnten morgenfreudigen Stimmung, als er in den Stall ging, um mit Hilfe des alten Kuhhirten Sören das Vieh zu füttern und Gerststroh vom Lattenboden zu holen. Hier erwartete ihn noch obendrein die Unglücksbotschaft, daß der Sturm der Nacht eine große Kalkfläche von der Giebelwand abgelöst und die Scheiben eines Stallfensters zertrümmert hatte, das am Abend zu schließen vergessen war. Schon vor einigen Tagen hatte er gesehen, daß die Mauer gerissen war; aber da war in der letzten Zeit so viel an den Dächern und Häusern auszubessern gewesen, daß man nicht alles hatte beschaffen können. Es ließ sich überhaupt nicht leugnen, daß das ehedem so stattlich gehaltene Pfarrgebäude anfing, einen etwas verfallenen Eindruck zu machen. Emanuel war zu einer für die Landleute besonders ungünstigen Zeit mit fallenden Preisen für die Produkte des Erdbodens und mit gleichzeitig steigenden Forderungen an ihre Vollkommenheit hierhergekommen. Außerdem war er zu Anfang von einer Reihe von Unglücksfällen in seinem Viehbestand verfolgt worden – hatte auch – wie man sich erzählte – mehrmals ein paar schlimme Nackenschläge erhalten infolge von allerlei Versuchen mit neuen Futter- und Düngerstoffen, über die er in der landwirtschaftlichen Zeitung gelesen und die er zum allgemeinen Besten in der Gemeinde hatte einführen wollen. Auch sein Haushalt war trotz der strengen Einfachheit, deren Gepräge er trug – kostbarer gewesen, als er es selber eigentlich ahnte; und die paar Tausende seines mütterlichen Erbes, zu denen er im Anfang seine Zuflucht hatte nehmen können, waren längst bis auf den letzten Heller verbraucht.

Die Sache war die, daß er – seinem alten Vorsatz getreu – sich hartnäckig weigerte, andere Vergütung für seine geistliche Tätigkeit anzunehmen, als die freie Benutzung der zum Pfarrhof gehörigen Ländereien. Um in allem das Leben und die Lebensbedingungen mit seinen Freunden teilen zu können, ernährte er sich ausschließlich von seinem Grund und Boden und hatte gleich bei seinem Amtsantritt die Bauern der Gemeinde aufgefordert, den Zehnten und die Opfergelder der sogenannten »freien Armenkasse« zufließen zu lassen, aus denen die Ausgaben für das große Wohltätigkeitswerk der Gemeinde bestritten wurden. Überhaupt war es sein Wunsch, daß man ihn nicht in erster Linie als Geistlichen betrachtete, sondern als Bauern, dem ebenso wie dem Gemeindevorsteher und den Mitgliedern der Brandbesichtigungskommission von der Gemeinde ein Ehren- und Vertrauensamt übertragen war. Er pflegte sich selbst ihren »Tempeldiener« zu nennen, und er war so froh über dies Wort, weil es – wie er sagte – »so herrlich die Hochehrwürden totschlug«.

* * *

Die Uhr war zehn, als Niels mit dem Doktor zurückkam, der hinten auf dem Wagen in seinem eigenen Doktorstuhl saß, in einen Merinopelz gehüllt und mit Handschuhen an den Händen. Als der Wagen vor die Haupttreppe vorfuhr, öffnete sich die Stalltür und Emanuel erschien in seinem gewöhnlichen Arbeitskittel und mit seinen großen Feldstiefeln. Nachdem der Doktor abgestiegen war, begrüßten sich die beiden Männer mit einem stummen und von beiden Seiten stark zurückhaltenden Händedruck, worauf sie unter fortgesetztem Schweigen die Treppe hinaufgingen.

Drinnen auf der Diele entledigte sich der Doktor seines Pelzes und offenbarte einen enganschließenden Kammgarnrock und einen großen Atlasschlips mit einer Diamantnadel. Er war ein Mann von ungefähr 40 Jahren, eine stattliche Erscheinung mit einem scharfgeschnittenen Gesicht und kurzem dunklen Backenbart. Er hatte sich vom ersten Augenblick an sichtlich bestrebt, nicht die geringste Verwunderung zu verraten, geschweige denn Anstoß an Emanuels Kleidung zu nehmen. Als sie nun in die »Halle« traten, tat er auch hier, als bemerke er die eigentümliche Ausstattung des Zimmers nicht. In seiner absichtlichen Sorgfalt, auch nicht die geringste unpassende Neugier zu verraten, nahm er sogar den goldenen Kneifer von seiner stark hervortretenden Nase, wandte sich an Emanuel und sagte mit einem wohlgelungenen Bestreben, ganz unangefochten zu erscheinen:

»Ja, es wird wohl das beste sein, wenn ich mir den Burschen gleich einmal ansehe.«

»Meine Frau hat Ihre Ansicht über meinen Sohn hören wollen,« entgegnete Emanuel, den die Art und Weise, wie er von dem Buben sprach, gleich verletzte. »Ich glaube nicht, daß es viel zu sagen hat . . . wahrscheinlich eine ganz gewöhnliche Frühlingserkältung.«

»Das werden wir ja sehen.«

Im Schlafzimmer erhob sich Hansine von einem Stuhl am Bett des Buben, sobald der Doktor in der Tür erschien, – und diesmal gelang es ihm nicht so gut, seine Gedanken zu verbergen. Er blieb einen Augenblick auf der Türschwelle stehen und betrachtete sie mit sichtlichem Erstaunen. Offenbar hatten die Gerüchte im Verein mit seiner eigenen Phantasie ihm ein ganz anderes Bild von der viel besprochenen Pfarrersfrau in Vejlby ausgemalt.

»Ihr Sohn ist krank,« sagte er mit plötzlicher Teilnahme, nachdem er sich ihr genähert und ihr die Hand gedrückt hatte. »Hoffentlich hat es nichts weiter auf sich . . . eine allgemeine Erkältung, meint Ihr Mann.«

Er nahm selbst einen Stuhl und setzte sich an das Bett. Der Bube schlief noch und erwachte auch nicht, als der Doktor jetzt ein Paar riesengroße Manschetten abnahm, und mit seinen langen weißen, außerordentlich gepflegten Händen anfing, seinen Kopf zu befühlen und seinen Puls zu zählen. Er schlug die Augen nicht eher auf, als bis der Wattenlappen vor dem kranken Ohr berührt wurde. Eine Weile lag er dann regungslos da und starrte den fremden Mann an. Erst als er die Mutter an der anderen Seite des Bettes erblickte, erwachte er zu vollem Bewußtsein. Er sah wieder zu dem rätselhaften Fremden hinüber, betrachtete seinen schwarzen Rock, seine Diamantnadel und seine großen weißen Zähne, während eine aufsteigende Angst sich in seinen glanzlosen, blauweißen Augen abspiegelte.

Hansine richtete ihn vorsichtig im Bett auf, strich ihm das Haar aus der Stirn und sagte ermunternd:

»Du mußt nicht bange sein, mein Junge. Das ist der Doktor, der gern mal nach deinem Ohr sehen will. Es ist doch scheußlich mit den ewigen Ohrenschmerzen, nicht? Und der Doktor ist ein guter Mann, der sie dir wegnehmen will!«

Im selben Augenblick schien der Bube alles zu verstehen. Der Mund verbreiterte sich, und Tränen fingen an, aus seinen Augen hervorzudrängen. Als er aber im selben Augenblick den Vater entdeckte, der sich hinter dem Fußende des Bettes aufgestellt hatte, schluckte er schnell das Weinen herunter. Es war, als verstünde er sofort, daß er seinem Vater eine besondere Freude bereiten würde, wenn er sich gerade diesem fremden Mann gegenüber als tapferer und unerschrockener Junge zeigte.

Der Doktor hatte sich indessen daran gemacht, das kranke Ohr zu untersuchen. Als er die Watte entfernte, rann wie gewöhnlich eine übelriechende Flüssigkeit aus dem Ohrgang.

Sein Gesicht nahm einen bedenklichen Ausdruck an.

»Wie lange ist er damit herumgegangen?« fragte er nach einer Weile.

»Wir haben es seit zwei Jahren hin und wieder bemerkt,« antwortete Hansine.

Der Doktor sah auf, als könne er nicht glauben, daß er richtig gehört hatte.

»Seit zwei Jahren?«

»Ja!«

Er warf zu Emanuel einen Blick empor, der jedoch die Bedeutung mißverstand und mit einem vertrauensvollen Kopfnicken die Aussage seiner Frau bestätigte.

Hansine begann jetzt von dem Anfang der Krankheit, von ihrem periodischen Auftreten und von dem unruhigen Schlaf der vorhergehenden Nacht zu erzählen: der Doktor hörte aufmerksam zu, und sein Gesicht nahm einen immer gedankenvolleren Ausdruck an. Als sie ihren Bericht beendet hatte, bat er um ein Licht, und nachdem er es angezündet, führte er mehrmals die Flamme vor den Augen des Buben hin und her. Dann hielt er eine Weile beide Hände um seinen Hinterkopf und machte sich dann daran, mit großer Sorgfalt die Partie hinter dem Ohr zu untersuchen, wo, wie es sich herausstellte, die Haut infolge einer beginnenden Geschwulst ein wenig gespannt war.

Emanuel hatte bis zu diesem Augenblick ruhig, mit den Händen auf dem Rücken, dagestanden und zugesehen. Er hatte sich vorgenommen, daß Hansine diesmal ihren Willen bis zu Ende haben sollte, und obwohl ihm der Bube leid tat, der mit großen Tränen in den Augen dasaß und kämpfte, um seine Standhaftigkeit bewahren zu können, so wollte er sich nicht in die Untersuchungen des Doktors hineinmischen. Als der Arzt nun aber seine Verbandtasche herausholte und dieser verschiedene spitze und scharfe Instrumente entnahm, da war es mit seiner Selbstbeherrschung aus.

»Ist das wirklich notwendig?« fragte er in ziemlich herausforderndem Ton.

Der Arzt sah erstaunt auf.

»Ja,« sagte er kurz, bat um warmes Wasser, ein Handtuch und verschiedene andere Dinge, die auf eine Operation hindeuteten.

Emanuel stand unentschlossen da. Sollte er diesem gottlosen Menschen wirklich erlauben, sich an seinem Sohn zu vergreifen? . . . Er wagte kaum, den Buben anzusehen, der beim Anblick der Instrumente leichenblaß geworden war und ihn mit seinen Augen um Schutz anflehte. Aber fast noch mehr quälte es ihn, Zeuge des Diensteifers zu sein, mit dem Hansine dem Doktor zur Hand ging, der Kaltblütigkeit, mit der sie ihr Kind den Händen dieses Scharlatans übergab.

Als sich der Doktor mit dem ersten Instrument – einer pfriemspitzen silbernen Nadel – näherte, schwand der letzte Rest von des Buben Beherztheit. In tötlicher Angst warf er sich an die Brust der Mutter und schlang krampfhaft die Arme um ihren Hals.

In diesem Augenblick verließ Emanuel das Zimmer. Er wollte nicht Zeuge dieser Mißhandlung sein, für die Hansine allein die Verantwortung übernehmen mochte. Er ging in das Wohnzimmer und als er hier drinnen den ersten herzzerreißenden Schrei des Buben hörte, begab er sich ganz in sein eigenes Zimmer, wo er anfing, auf und niederzugehen, um mit seinen Schritten die Laute, die aus der Schlafstube drangen, zu übertäuben. Sein Gemüt war in der heftigsten Erregung. Er verstand Hansine nicht mehr. Er fühlte sich in seinem eigenen Hause wie in einen Hinterhalt geführt, schändlich verraten von derjenigen, auf die er am festesten hätte bauen sollen.

Nach Verlauf von zehn Minuten hörte er Stimmen im Wohnzimmer; und als er da hineinkam, stand der Doktor mit dem Hut in der Hand da, im Begriff Hansine seine letzten Anweisungen zu erteilen. Gleich darauf verabschiedete er sich.

»Ich glaube, Sie nehmen die Krankheit Ihres Sohnes zu leicht,« fuhr der Arzt draußen auf der Diele fort, wohin ihn Emanuel in tiefstem Schweigen begleitet hatte. »Ich wollte mich in Gegenwart Ihrer Frau nicht eingehender darüber äußern . . . aber ich halte es für meine Pflicht, Ihnen nicht zu verhehlen, daß sein Zustand nicht ohne Bedenken ist. Er leidet an einer alten, verhärteten und – wie es scheint – ziemlich bösartigen Entzündung, die leider hat um sich greifen dürfen und sich allmählich über das ganze innere Ohr verbreitet hat. Wie dies alles verlaufen wird, kann ich natürlich momentan unmöglich sagen; aber nach der Wendung, die die Krankheit in letzter Zeit genommen hat, müssen wir auf eine nahe bevorstehende Krisis vorbereitet sein. Vorläufig habe ich versucht, dem Ausfluß freien Ablauf zu verschaffen, indem ich das Trommelfell durchbohrt habe, auch habe ich Essigumschläge auf den Füßen oder Eis auf den Kopf verordnet . . . mehr kann ich heute nicht tun. Es handelt sich vorläufig darum, dem Kinde die größtmögliche Ruhe zu verschaffen, bis wir weiter sehen werden, welche Richtung die Entzündung genommen hat. Sollten sich indessen auch nur die allerleisesten Anzeichen von Steifheit des Körpers während des Schlafes zeigen, – von wirklichen Krampfanfällen gar nicht zu reden – so müssen Sie mich augenblicklich holen lassen. Diese Kalamität – und das damit verbundene Fieber – müssen wir um jeden Preis zu vermeiden suchen.«

* * *

Der bestimmte Ton des Arztes und seine scheinbar vollkommene Klarheit über den Zustand des Buben konnten nicht umhin, einen gewissen Eindruck auf Emanuel zu machen. Sobald der Wagen gefahren war, kehrte er schnell in das Schlafzimmer zurück. Hier fand er den Buben ausgestreckt auf dem Rücken liegen, mit verbundenem Kopf, wie in tiefes Erstaunen versunken.

Als das Kind den Vater erblickte, lächelte es, und als Emanuel vorsichtig Platz neben dem Bette nahm und ihn fragte, wie es gehe, richtete er sich aus eigener Kraft in die Höhe und begann ganz munter, fast ein wenig wichtig, von allem zu erzählen, was der Doktor mit ihm vorgenommen hatte.

»Aber was in aller Welt soll dies alles heißen?« rief Emanuel zu Hansine gewendet aus; sie kam im selben Augenblick aus der Küche mit Sigrid und der kleinen Dagny, die während des Doktors Besuch zu Abelone hinausgeschickt waren. »Das Kind ist ja ganz munter! Was ist denn das für ein Gerede von Fieber und Krämpfen und ich weiß nicht was?«

»Hat der Doktor etwas davon gesagt?« fragte Hansine wie geschlagen und blieb mitten im Zimmer stehen.

»Ach, er redete nur so allerlei. Das ist nun einmal die Manier dieser Ärzte . . . Aber wer kommt denn da?«

Aus dem großen Zimmer hörte man schwere Schritte und das Geräusch eines Stockes, der auf den Fußboden gestoßen wurde. Einen Augenblick später erschien ein älteres korpulentes Frauenzimmer in der offenen Tür.

»Großmutter!« riefen Emanuel und die Kinder wie aus einem Munde aus und streckten ihr die Arme entgegen.

»Ja, ich bin es wirklich,« sagte sie und nickte ihnen allen der Reihe nach zu. »Wie geht es denn hier? Wir hörten, daß ihr nach dem Kyndlöser Doktor geschickt habt; und da ich gerade Fahrgelegenheit mit Kristen Hansens bis an den Mühlweg kriegen konnt', fuhr ich fix in mein Zeug, und da bin ich. Ich fand doch, ich wollt' mal hören, wie es hier geht.«

»Ach, wir hoffen zu Gott, daß das Ganze nichts zu bedeuten hat,« antwortete Emanuel. »Der Bube hat einen Anfall von seinem alten Leiden gehabt, und Hansine hat sich einschüchtern lassen und wollte absolut den Doktor haben.«

»Na, Gott sei Lob und Dank – dann ist es also weiter nichts. Vater und ich waren ja schon ganz angst und bange, wie ihr euch wohl denken könnt! Hier pflegt ja sonst kein Doktor zu Besuch zu kommen.«

Sie löste die große silberne Spange an ihrem grünen Beiderwandmantel, nahm das Kopftuch ab und glättete mit zwei naßgemachten Fingern ihren stahlgrauen Scheitel vor der Mütze. Sie war im Laufe der Jahre noch dickbäuchiger geworden als früher, und die Wassersucht hatte ihre Hände und Füße geschwollen und ihren Gang so beschwerlich gemacht, daß sie sich außerhalb ihres Hauses auf einen Stock stützen mußte.

»Na, das is also der Jung', der so krank sein sollt', daß petuh der Doktor geholt werden mußt,« sagte sie, nachdem sie schwerfällig auf einen Stuhl neben der kleinen eisernen Bettstelle niedergesunken war und den Buben betrachtet hatte, den die Freude über die Ankunft der Großmutter und namentlich der Anblick eines kleinen bunten baumwollenen Bündels, das sie mit ans Bett genommen hatte, ganz lebhaft gemacht und ihm die Wangen förmlich rot gefärbt hatte.

»Eigentlich jämmerlich sieht er nich' aus, find' ich. Du bist doch auch ein kleines Schaf, Hansine, daß du dich so ängstlich anstellen kannst. Das is ja beinah wie die Kopenhagener, die, wenn sie bloß Zahnreißen haben, gleich nach'n Dokter und Apteker rennen. Hätt' der Jung' nich das Klappholz auf'n Kopf, säh' er wahrhaftig aus wie so'n wahres Sonntagskind!«

Hansine hatte sich an das breite Gardinenbett gesetzt, wo sie sich anschickte, der Kleinen die Brust zu geben.

»Der Doktor hat aber doch gesagt, es wär' garnich so gut, un wir hätten schon längst nach ihm schicken sollen,« sagte sie mit einem Versuch, sich zu verteidigen, obwohl das frische Aussehen des Kindes und die Sorglosigkeit der andern schon wieder angefangen hatte, sie zweifelnd zu machen.

»Ja, der Doktor!« lachte die Mutter und streichelte Sigrid, die sich einschmeichelnd wie eine Katze an ihr scheuerte, während sie das Bündel mit den Augen verschlang. »Wenn es immer so zuging, wie die Leute predigen, dann lägen wir schon allzusammen längst in unser schwarzes Grab. Wie war es doch noch neulich, als Per Persens kleine Dirn 'ne Nähnadel verschluckt haben sollt'? Der Doktor proppt sie voll Kartoffeln und klitschiges Brot und all solchem Jux, so daß das arme Gör kurz davor war, zu ersticken . . . und dann finden sie die Nadel noch so nett in Großmutter ihren Nähstein. Ja, das taten sie!«

»Dafür konnt' der Doktor aber doch nichts!« wandte Hansine ein.

»Na ja, das mag ja sein. Aber denn weiß ich noch, wie es Sören Sejler ging, – das war dazumals, als wir noch den alten Doktor Vellöv hatten, der doch noch besser ausgelernt haben sollt' als dieser Hassing. Vellör sagte, Sören hätt' höchstens noch drei Tag' zu leben, und die Familie hatt' ja alle Hände voll zu tun mit Teilen und Aufschreiben und die große Stub' wird ja gekalkt zu'n Begräbnis, ja, ich glaub' sogar, sie haben den Sarg auch schon bestellt – und drei Tage nachher ging Sören wieder an seine gewohnte Arbeit, die Pfeif' in' Mund, un so geht er noch heut und diesen Tag un is doch schon an die Neunzig! Was sagst du zu die Geschicht? . . . Ne, das wär' viel besser, wenn die guten Doktorsleut weniger großschnauzig wären und den lieben Gott über Leben und Tod bestimmen lassen wollten, denn wär' da am End' nich so viel Trauriges inner Welt.«

»Ja, da hast du Recht. Das waren gerade meine Worte!« sagte Emanuel, der im Zimmer auf und nieder ging, die Hände auf dem Rücken.

»Und wenn man wirklich mal krank sein sollt', so kann ich für mein Teil nu wirklich nich' einsehen, warum man sich nich' besser manch liebes Mal an die guten alten Hausmittel halten soll als an all diese neue Doktorei mit Medezin und all das vergiftete Jux, das so viele Leute ihre Gesundheit verdirbt . . . Ich hab' denn auch gleich in der Eil bischen was Beruhigendes mitgebracht; man könnt' ja nie wissen, was hier los war. Und denn bin ich auch gleich bei Maren Nils vorgewesen un hab' mir'n bischen Wurmfett geben lassen . . . das is so gut für alle Art von Geschwulst . . .«

Während sie sprach, löste sie mit ihren kissenförmigen Händen das Tuch auf ihrem Schoß und entnahm ihm verschiedene kleine Päckchen, die einen starken Kräuterduft verbreiteten, und schließlich drei rote Zuckerferkel, die sie mit Streicheln und vielen Ermahnungen unter die Kinder verteilte. Der Bube nahm seine Gabe mit dem verschämten Lächeln entgegen, mit dem er seiner Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen pflegte, während Sigrid der Großmutter das Ferkel fast aus der Hand riß und damit in die andere Stube hinausstürzte.

»Nun, wie sieht's denn bei euch zu Hause aus, Else?« fragte Emanuel, um die Unterhaltung in eine andere Spur zu lenken. »Unser lieber alter Großvater ist wohl ganz stolz auf das Glück, das er gestern abend mit seiner Rede gemacht hat. Es war wirklich auch ein feierlicher Augenblick für uns alle.«

»Ja, ja, er is wahrhaftig so froh wie ein Kind. Denn das hatt' er sich doch nie gedacht, daß er noch ein Redner werden würd'. Aber er is ja dankbar, daß der liebe Gott ihn als sein Werkzeug benutzen wollt' un ihm seinen Segen geben wollt' das richtige Wort in so'ne große Stunde zu sagen.«

Die Unterhaltung wurde von Abelone unterbrochen, die in der Tür erschien und mit ihrer starken Stimme verkündete, daß der Tisch gedeckt sei. Im selben Augenblick erhob sich die Großmutter um zu gehen; Emanuel versuchte, sie zu überreden, daß sie bleiben und mit ihnen essen solle, aber sie hatte Kristen Hansen versprochen, am Mühlweg zu sein, wenn er zurückkam, und es war schon die allerhöchste Zeit, daß sie sich auf den Weg machte.

»Ich muß ja auch nach Hause und Vater beruhigen. Er geht da ja herum und glaubt, daß 'n großes Malheur passiert is.«

Sie hakte ihren Mantel wieder zu und band das Kopftuch unter dem Kinn zusammen. In der Tür wandte sie sich noch einmal um, nickte und lächelte dem Buben zu und sagte:

»Komm du man Sonntag zu uns raus, denn sollst du frischen Milchkuchen haben, mein Jung', wenn die rote Kuh bis dahin gekalbt hat.« Und zu Emanuel gewendet, fügte sie hinzu: »Vater hat die schwarze Brummkuh verkauft. Es sind sonst schrecklich schlechte Preise über Jahr.«

* * *

Das obere Ende des langen Tisches in der guten Stube war mit einem braunen Wachstuch bedeckt. Darauf standen zwei dampfende irdene Schüsseln mit Kohlsuppe, ein halbes Schwarzbrot, eine Untertasse mit grobem Salz und die gewöhnliche Wasserkruke mit hölzernem Deckel. Emanuel nahm Platz am Ende des Tisches. An seiner Linken unter dem Fenster saßen Niels und der alte Sören, der Kuhhirt des Hofes, ein drei Ellen langes Wrack einer Arbeitsmaschine – lauter Knochen und große Gelenkknoten – die nach oben zu in einem kleinen vornübergebeugten Kopf endeten, der kaum aus etwas anderem als aus ein Paar mächtigen Kiefern bestand. Das ganze Untergesicht und der vordere Teil seines langen Halses bis an den stark hervortretenden Adamsapfel waren schwarz von Bartstoppeln, die Nase war rot, die niedrige Stirn knochengelb, das Haar von einer Farbe, als sei Asche über seinen Kopf gestreut. An der anderen Längsseite des Tisches saß Hansine mit den beiden Kindern und Abelone; außerdem ein altes Mütterchen mit grünem Augenschirm und ein paar Kinder von der Straße. Wie es unter den armen Leuten des Dorfes Sitte war, hatten sich die letzteren von selbst zu der Mahlzeit eingefunden und fühlten sich dort wie zu Hause. Der Bube lag drinnen in seinem Bett. Er hatte sich gleich nach Großmutters Abschied wieder hingelegt und war mit dem Zuckerferkel in der Hand eingeschlafen.

Alle senkten den Kopf und falteten die Hände, als Emanuel mit erhobener Stimme das Tischgebet sprach:

Auf Jesu Wort gehen wir zu Tisch
Und setzen uns zum Mahl in Jesu Namen,
Dir, Gott, zur Ehre und uns selbst zum Heil
O, segne Speis' und Trank uns – Amen!

Anfänglich wurde schweigend gegessen. Man hörte nur das Schurren der Hornlöffel gegen die irdenen Schüsseln und den schlürfenden Laut der vielen Münder. Namentlich machte sich der Kuhhirte Sören lebhaft bemerkbar. Er hielt in der linken Hand ein Stück warmes Schweinefleisch, das er häufig in das Salzschälchen tauchte und an dem er zwischen jedem Löffel voll Suppe sog.

»Hat niemand von euch heute etwas Neues vom Reichstag gehört?« fragte Emanuel, als der ärgste Hunger gestillt war. »Du Sören? Du pflegst ja wohl unterrichtet zu sein in dem Gang der Politik.«

»Ach ja, das eine und das andere hört man ja immer,« antwortete Sören, seinen ungeheuren Rachen voller Speise, und zog die Augenbrauen in die Höhe, bemüht, sich ein geheimnisvolles Aussehen zu geben. Er hatte einen Schwestersohn im Reichstag und galt in dieser Eigenschaft als Orakel in politischen Dingen. »Ich denk' nur, wir müssen bald allzusammen nach der Stadt fahren.«

»Du meinst, eine Auflösung des Things? . . . neue Wahlen, wie? Sollte die Regierung das Mittel wirklich noch einmal versuchen wollen? Wozu sollte das eigentlich dienen?«

»Ach ne . . . aber es wär woll an der Zeit, daß der gemeine Mann auch ein Wort mit zu reden kriegt hier zu Land.«

»Ja, darin hast du Recht. Das hätte schon längst geschehen sollen, dann wäre viel von der Bitterkeit der Zeit vermieden worden. – Nun, woll'n wir denn Gesegnete Mahlzeit sagen,« fügte er hinzu, als er sah, daß alle mit dem Essen fertig waren. Sogar Sören hatte schließlich den Löffel weggelegt, nachdem er ihn zuvor sorgfältig reingeleckt und mit seinem Daumen abgewischt hatte.

Es wurde abermals ein kurzes Gebet gesprochen, worauf sich alle zurückzogen.

Emanuel legte sich wie gewöhnlich auf das Wachstuchsofa in seiner Stube, um »ein wenig in das Traumland hineinzugucken« – wie er mit einer aus der Hochschule stammenden Redensart zu sagen pflegte. Der Kuhhirte Sören wanderte mit den schweren Schritten des Gesättigtseins über den Hof und verschwand in der Scheune, wo er Sommer und Winter seinen Mittagsschlaf auf einem Bündel Stroh abhielt. Niels dahingegen ging in seine Kammer, einem kleinen weiß getünchten Raum neben dem Pferdestall, wo er es sich ganz studentenhaft eingerichtet hatte mit einem in einen Schreibtisch verwandelten Waschtisch unter dem Fenster, einem kleinen Bort voll hübsch eingebundener Bücher, einem Stückchen Teppich unter dem Tisch und einer langen Reihe der Länge nach sorgfältig geordneter Pfeifen unter einem Brett an der Wand. Über dem Bett hing eine eingerahmte Photographie der Sandinger Hochschule. Das Bild stellte das klosterartige efeuumrankte Mauersteinportal der Schule dar, vor dem eine Gruppe von Lehrern und Zöglingen aufgestellt war. Mitten auf dem Bilde sah man des alten Vorstehers rundliche Gestalt mit dem mühlsteingroßen Hut und den langen Nackenlocken; und unter dem Bilde standen in goldenen Buchstaben die Worte gedruckt, mit denen er regelmäßig Abschied von seinen Zöglingen nahm:

»Halte Wacht
unverzagt!
«

Nachdem Niels die allerlängste von seinen Pfeifen gestopft hatte, setzte er sich vor den kleinen Tisch und streckte mit Wohlbehagen seine dicken Beine von sich. Dann zog er eine vor einer Woche erschienene Nummer des Volksblattes aus der Tasche, breitete sie mit einer liebkosenden Sorgfalt auf dem Tisch aus und begann zum zwanzigsten Mal folgenden Artikel zu lesen:

Über Sonntagsfreiheit auf dem Lande.

Ein Aufruf an die Jugend.

Heute will ich mir erlauben, über die Sonntagsfreiheit auf dem Lande zu schreiben. Wie traurig ist nicht solch ein Anblick, wie man sie gar häufig ringsumher im Lande sieht, daß Burschen, ja sogar Mädchen, die doch bessere Gedanken haben sollten, sich die freien Stunden an Sonntagnachmittagen und an anderen Tagen, wenn die Arbeit ruht, mit allerlei weltlichem und unnützem Tand vertreiben, als das ist: Kegelspiel auf der Straßenerde um Geld oder Spirituosa-Getränke, so daß es oft geschieht, daß sich die Burschen berauschen, schreien und brüllen wie die Tiere, woraus abermals viele Unzüchtigkeit von der schlimmsten Art folgt. Solch ein Anblick muß jeden geistig befreiten Menschen ärgern, da man doch meinen sollte, daß sie etwas Höheres haben müßten, woran sie denken und wonach sie streben könnten, namentlich in dieser Zeit, wo die Freiheitsfeuer über das ganze Land angezündet sind, um alle zum Kampfe für die Freiheit und das Recht des Volkes zu sammeln. Hier in unserer Gegend sieht man, dank unsern guten Lehrern und Leitern, nichts mehr von der Art, das eines freien Volkes unwürdig ist. Aber in vielen andern Gemeinden sind noch solche Dinge gebräuchlich, und darum sende ich diesen Aufruf an die Jugend, damit wir uns auch in diesem Punkt zusammenschließen und für den Sieg des Geistes über die Knechtschaft der Finsternis kämpfen wollen, so daß wir mit dem Dichter singen können:

Daß alle glückselig einst mögen eingehen,
Zu des Lichts und der Herrlichkeit Stadt.

Vejlby, Pfarrhaus. Im Monat März 1885

Ehrerbietigst      
N. Nielsen Damgaard

* * *

Als Emanuel am Abend aus Skibberup nach Hause kam, wo er wieder auf einer Vorstandssitzung gewesen war, schlief der Bub noch immer, ohne den ganzen Nachmittag wach gewesen zu sein.

»Da kannst du sehen!« sagte er zu Hansine. »Er ist so vernünftig, sich wieder zurechtzuschlafen. Morgen hast du ihn wieder außer Bett.«

Hansine erwiderte nichts, obwohl sie keineswegs seine günstige Auffassung von dem Zustand des Kindes teilte. Dieser bald 24 Stunden währende Schlaf schien ihr ein etwas allzu unnatürlicher zu sein und erweckte bei ihr eine beängstigende Erinnerung an ein anderes Kind, einen kleinen Bruder ihrer Jugendfreundin Ane, der an einem Gehirnleiden gestorben war, und an dessen Pflege sie sich in ihrer Mädchenzeit beteiligt hatte. Mehrmals im Laufe des Abends hatte sie versucht, den Jungen zu wecken, um ihn zu bewegen, doch wenigstens etwas zu essen; aber er hatte die Augen nur halb geöffnet und sie mit einem wunderlich schlaffen Blick angesehen, ohne das Essen anrühren zu wollen. Dahingegen hatte er ein paarmal begehrlich getrunken, sich aber gleich wieder ins Bett zurückgelegt, um weiterzuschlafen.

Gegen Mitternacht erwachten sie und Emanuel gleichzeitig von einem sonderbaren Laut, den sie sich lange nicht erklären konnten. Es war ihnen, als wenn jemand draußen in der Küche das Hackmesser gebrauche. Auf einmal wurde es Hansine klar, daß es die eiserne Bettstelle des Buben war, die sich in unausgesetzt schaukelnder Bewegung befand.

»Zünde das Nachtlicht an,« sagte sie. »Es ist der Bube.«

Emanuel strich ein Streichholz an, und gleich bei seinem Aufflammen sah Hansine die fechtenden Arme des Kindes. Im selben Augenblick war sie zum Bett hinaus und neben dem Jungen. Schnell nahm sie das Kissen unter seinem Kopf heraus und zwang die Arme an den Körper nieder, der vom Scheitel bis zur Sohle bebte.

Emanuel, der währenddes die Nachtlampe auf dem Nachttisch angezündet hatte, konnte nicht begreifen, was da vor sich ging. Er glaubte im ersten Augenblick, der Bube sei aufgewacht und läge da und spielte; und als er jetzt Hansine eine Nadel aus ihrem Haar nehmen und mit Gewalt das krumme Ende dem Kinde in den Mund zwängen sah, rief er:

»Aber um Gottes willen, Hansine! was machst du? . . . was fehlt dem Kinde?« Die kleine Ölflamme in dem Glase flackerte in diesem Augenblick auf, und bei dem verstärkten Schein sah er nun, daß das Gesicht des Buben ganz dunkel war; die Zähne waren fest aufeinander gebissen, die Lippen mit Schaum bedeckt. Im selben Augenblick fielen ihm die Worte des Doktors von heute vormittag ein – und es schwindelte ihm.

»Das sind doch nicht . . . das sind doch keine Krämpfe, Hansine?« stotterte er.

Sie nickte.

»Du mußt den Doktor holen,« fügte sie nach einer Weile hinzu, als Emanuel unbeweglich liegen blieb . . . »Der Bube ist sehr krank.«

»Ja, – ja,« sagte er, als erwache er aus einer Betäubung, warf eiligst einige Kleider über und tastete sich durch die Dunkelheit der guten Stube hindurch, um hinauszukommen und die Leute zu wecken. Als er drüben in dem Fenster der Knechtekammer Licht sah, begann er schon oben auf der Fliesentreppe zu rufen: »Niels! . . . Niels! . . .!« Es klang in der stillen Nacht wie ein Ruf um Hilfe, und ehe er noch über den Hofplatz gekommen war, erschien der Knecht ganz erschrocken in seiner Tür – im bloßen Hemd, ein aufgeschlagenes Buch in der Hand und eine Pfeife im Munde, bis an die Erde herabhängend.

»Du mußt sofort anspannen, Niels, und den Doktor holen. Der Bube ist sehr krank geworden.«

»Den Doktor holen?« sagte Niels und sah Emanuels bleiches und verstörtes Gesicht an. »Aber es ist ja nicht denkbar, über nacht in der Dunkelheit den Weg zu finden. Man kann ja nicht – . . .

»Ja, es muß sein. Du mußt Sören wecken und er muß dich mit der Laterne begleiten . . . die Pferde kennen den Weg ja.«

»Ja, aber –« Niels wollte mit neuen Einwänden kommen, Emanuel schnitt ihm aber sofort das Wort ab.

»Tue nur, was ich dir sage, und vergeude keine Zeit mit Reden,« sagte er in einem ihm ganz ungewohnten befehlenden Ton, der den Knecht sprachlos machte. »Du hörst ja, daß der Bube sehr krank ist, und daß es eilt. Mach zu, daß du Sören augenblicklich geweckt bekommst, und sage ihm, daß er sofort aufsitzen soll.«

Als er in die Schlafstube zurückkam, stand Hansine noch über das Bett des Buben gebeugt und hielt seine Arme fest.

»Meinst du nicht, daß wir lieber auch gleich zu deiner Mutter schicken sollten? Würde dir das eine Beruhigung sein?«

»Nein, es nützt doch nichts. Aber du mußt Abelone wecken und ihr sagen, daß sie Wasser in dem großen neuen Kessel aufsetzen soll.«

»Ja – ja.«

Schon in der Küche traf er Abelone, die von dem Lärm im Hause geweckt war. Sie war im Unterrock, hatte ein Licht in der einen Hand und hielt mit der anderen die Nachtjacke über ihrem hohen Busen zusammen.

»Der Bube ist doch nicht krank geworden?« fragte sie, vor Angst und Kälte bebend.

»Ja, du mußt gleich anheizen und Wasser in dem großen Kessel aufsetzen; aber beeile dich!«

»Ist er sehr krank?«

»Ja – ich glaube es. Aber spute dich, Abelone . . . Spute dich! Es eilt sehr!«

Er kehrte in die Schlafstube zurück, wo der Bube endlich ruhig geworden war und scheinbar ganz friedlich schlief. Hansine, die nun Zeit gefunden hatte, einige Kleider überzuwerfen, saß auf einem Stuhl am Kopfende des Bettes, das Kinn in die Hand und den Ellenbogen auf das Knie gestützt, während sie ihn mit dem verschlossenen, fast harten Ausdruck ansah, den ihr Gesicht bei heftigen Gemütsbewegungen immer annahm.

Emanuel näherte sich vorsichtig und setzte sich still auf einen Stuhl an der anderen Seite des Bettes.

»Kannst du es verstehen, Hansine? Kannst du begreifen. wie das zugegangen ist? Heute mittag verließ ich ihn so frisch und munter . . . und nun? Was meinst du nur einmal, daß es sein kann?«

»Ich weiß es nicht,« sagte sie; – und als habe er mit seiner Frage einen Gedanken berührt, den zu Ende zu denken sie nicht den Mut gehabt hatte, fügte sie schnell hinzu: »Hast du Niels geweckt?«

»Ja . . . er muß gleich zur Abfahrt fertig sein.«

Im selben Augenblick fing es wieder an, in den Armen und Schultern des Kindes zu zucken, die kleinen Hände ballten sich, die Augenlider hoben sich über unnatürlich großen und unbeweglichen Pupillen . . . die Anzeichen für den Anmarsch eines neuen Anfalls.

Emanuel konnte diesen Anblick nicht ertragen. Er tastete sich abermals durch die dunkle gute Stube hindurch nach der Haustürtreppe hinaus, und als er von hier aus Niels und Sören beim Schein einer Laterne im Wagenschauer noch herumgehen und hantieren sah, rief er in verzweifelter Ungeduld:

»Aber, mein Gott, wird es denn nicht bald! Wie lange soll es denn noch währen, bis ihr fortkommt! . . . Du mußt dem Doktor sagen, Niels, daß er augenblicklich kommen soll. Das Kind liegt in schrecklichen Krämpfen.«

Im Laufe der folgenden Stunden verschlimmerte sich der Zustand des Buben. Selbst nach wiederholtem Baden in dampfendem Wasser nahmen die Anfälle an Stärke und Dauer zu. Sein Gesicht wurde allmählich fast schwarz, und trotz aller angewandten Vorsicht hatte er sich während eines der Anfälle auf die Zunge gebissen, so daß Blut aus den Mundwinkeln floß. Emanuel mußte alle seine Willensstärke aufbieten, um nicht zusammenzusinken dem schrecklichen Rätsel gegenüber, das der Zustand des Kindes für ihn war. Er ließ die Hoffnung nicht sinken, daß alles bald überstanden – und ebenso plötzlich verschwunden sein würde, wie es gekommen. Er suchte sich selbst und Hansine damit zu trösten, daß einzelne Kinder eine besondere Neigung hätten – selbst bei leichten Erkältungen – in heftige Krämpfe zu fallen; und er blieb die ganze Zeit an ihrer Seite, um ihr bei der Pflege des Kindes behilflich zu sein. Aber allmählich, als die Stunden verstrichen, ohne daß sich das geringste Zeichen von Linderung bemerkbar machte, versagten die Vertröstungen und er richtete nun alle Hoffnung auf den Beistand des Arztes. Er stellte sich auf die Fliesentreppe und lauschte mit verhaltenem Atem . . . aber nicht das geringste Geräusch drang an sein Ohr. Er ging um den Giebel herum und tastete sich in der Finsternis in dem großen zugewachsenen Garten zurecht, bis er auf den kleinen Erdhügel kam, von wo aus man am Tage den Kyndlöser Weg ganz bis an die Moorgrenze im Westen übersehen konnte. Klopfenden Herzens starrte er in die dunkle Nacht hinaus, in der Hoffnung, den Schein einer herannahenden Laterne zu entdecken . . . aber Himmel und Erde schmolzen vor seinen Augen zusammen ohne einen einzigen Lichtpunkt.

Und wie er dieser grabesschwarzen Finsternis gegenüberstand, dieser unbarmherzigen Nacht, die alle Sterne ausgelöscht und gleichsam die Wege verwischt hatte, von denen die Hilfe für sein leidendes Kind kommen sollte, war es ihm plötzlich, als sähe er tief hinein in den unendlichen Weltenraum und fände bis in dessen äußerste Grenzen nur brütende Dunkelheit und Kälte und gähnende Leere. Wie ein Mensch, dem es beim Anblick eines Abgrunds schwindelt, der sich zu seinen Füßen geöffnet hat, schlug er die Hände vor dem Gesicht zusammen und rief halblaut wie in geistiger Verwirrtheit aus:

»Gott! . . . Mein Gott! . . . Wo bist du?«

Erst gegen Morgen kam der Doktor. Die Verspätung war die Folge eines Unfalls, den Niels und Sören auf der Ausfahrt gehabt, indem sie den Wagen so tief in einen Graben hineingefahren hatten, daß sie einige in der Nähe wohnende Leute wecken mußten, um ihn wieder herauszubekommen.

Als der Doktor einen Blick auf den Buben geworfen hatte, gab er ihm ohne weitere Untersuchung ein Moschuspulver, worauf das Kind fast augenblicklich Ruhe fand. Der steife Körper erschlaffte allmählich, die Augenlider sanken zu, und der Schlaf fand sich ein. Emanuel, Hansine und der Arzt saßen mehrere Minuten schweigend um das kleine Bett und beobachteten, wie der gewöhnliche geduldige Ausdruck des Buben allmählich in das verzerrte Gesicht zurückkehrte. Die Lampe auf dem Nachttisch war im Begriff zu erlöschen, und bei ihrem schwindenden Licht schlich sich eine eigentümliche Grabkammerstimmung in die Stube. Die ersterbende Flamme warf einen fahlen Schein auf die weißen Laken des Bettes und auf die drei Gesichter, die um das Bett herumsaßen; draußen aber begann es zu tagen, und das bleiche Morgenlicht zeichnete die Fensterpfosten wie zwei hohe Schattenkreuze auf die hellgrauen Rouleaus ab.

Emanuel, der während der letzten Stunde beim Anblick der Leiden des Kindes ganz außer sich gewesen war, saß mit Hansinens Hand in der seinen da, um sich Kraft zu der Frage zu holen, die er an den Arzt richten wollte, und die er nicht über die Lippen zu bringen vermochte. Endlich faßte er Mut und fragte, was der Doktor über den Zustand seines Sohnes denke.

Doktor Hassing warf einen verstohlenen Blick zu ihm und Hansine hinüber. Er schien im Zweifel zu sein, einen wie großen Teil der Wahrheit er ihnen gleich erzählen dürfe.

»Ja – es läßt sich freilich nicht leugnen –« sagte er langsam. »Ihr Sohn ist ja sehr arg mitgenommen. Überhaupt kann ich ja nicht verbergen, daß –«

»Aber der Junge hat eine ungewöhnlich gesunde Natur,« unterbrach ihn Emanuel, um eine trostlose Äußerung abzuwehren. »Mit Ausnahme dieser Ohrenschmerzen hat ihm nie etwas gefehlt, hat er nie Anlaß zu der geringsten Besorgnis gegeben. Außerdem sind meine Frau und ich beide vollkommen gesund und kräftig . . . von einer krankhaften Vererbung kann hier nicht die Rede sein.«

Hinter dem goldenen Kneifer des Doktors blitzte es schnell und stechend auf. Es sah so aus, als ob es ihm – trotz allen Mitgefühls – schwer werde, seinen Zorn im Zaum zu halten.

»Ja, ja,« sagte er dann, indem er die Augen vor dem steif starrenden Blick niederschlug, mit dem ihn Emanuel gleichsam zwingen wollte, an die Lebenskraft des Sohnes zu glauben. »Bei einer starken Natur läßt sich natürlich viel hoffen.«

. . . Wie es der Doktor vorausgesagt hatte, trat in den nächsten Tagen keine sonderliche Veränderung in dem Zustand des Knaben ein. Meistens lag er in einem schweren Moschusschlummer still da, ohne Nahrung zu sich zu nehmen oder den geringsten Eindruck von seiner Umgebung zu empfangen. Nur wenn an dem Verband über seinem kranken Ohr gerührt wurde, konnte gleichsam ein Schatten des kleinen erzwungenen Lächelns, mit dem er zu versichern pflegte, »daß er gar nichts mehr merken könne« über seine blutlosen Lippen gleiten. Sonst hatte das Gesicht jeden Ausdruck verloren, und hinter den halbgeschlossenen Lidern schien das Leben der bleichen Augen bereits erloschen.

Hansine pflegte ihn Tag und Nacht mit ihrer gewohnten Ruhe und Selbstbeherrschung. Sie, die sich bei den allerersten Krampfzuckungen über die drohende Gefahr klar gewesen, hatte sich jetzt völlig vertraut gemacht mit dem Gedanken, ihn verlieren zu müssen. Emanuel dahingegen hielt die Hoffnung bis zuletzt aufrecht. Selbst nachdem ihm der Arzt bei seinem erneuten Besuch mit schonenden Worten mitgeteilt hatte, daß er auf den baldigen Heimgang des Sohnes vorbereitet sein müsse, gab er den Glauben an die Widerstandsfähigkeit des Buben und die Macht seiner Gebete nicht auf. In jedem Aufblitzen des zurückkehrenden Lebens in dem Gesicht des Kindes sah er einen Fingerzeig, daß ihn der Himmel erhört hatte. Erst als die sicheren Todeszeichen sich einstellten, schwand die Hoffnung, und er brach in verzweifelter Fassungslosigkeit zusammen. Mehrere Stunden saß er am Bett und schluchzte, so daß Hansine schließlich ganz besorgt um seinen Verstand wurde. Alle Arbeit draußen auf dem Hofe und im Stall wurde soweit wie möglich unterbrochen, weil es den Anschein hatte, als wenn jeder Laut aus der Außenwelt seinen Schmerz vermehrte. Er verlangte selbst, daß alle Tore und Türen geschlossen würden; nicht einmal die nächsten Freunde des Hauses, die kamen, um sich nach dem Befinden des Buben zu erkundigen, wurden eingelassen, weil er den Anblick von Fremden nicht ertragen konnte.

Als der Todesaugenblick nahe war und er fühlte, wie sich die Kälte des Grabes um den Körper des Kindes legte, erweckte ihn das Grauen vor der Zerstörung noch einmal zu einem letzten, verzweifelten Kampf für seine Rettung. Er nahm den Buben in seine Arme und preßte ihn an sich, gleichsam als wolle er ihn gegen die Umarmung des Todes schützen. Hansine flehte ihn an, ruhig zu sein und das Kind wieder hinzulegen, aber er hörte sie nicht. Während die Tränen ihm über das Gesicht strömten, fuhr er fort, mit dem Kind an seiner Brust im Zimmer auf und nieder zu gehen, bald lullend, bald betend und singend, als ob er mit seinem Schmerz und seiner Verzweiflung sich die Barmherzigkeit Gottes ertrotzen wolle . . . bis er plötzlich fühlte, wie sich der kleine Körper in seinen Armen streckte und der Kopf an seine Brust sank mit einem langen Seufzer, der verkündete, daß die letzte Hoffnung erloschen, daß der Bube tot war.

Da beugte sein Sinn sich demütig vor dem Willen des Allmächtigen. Seine Tränen versiegten; still legte er die kleine Leiche auf das Bett, legte ihr seine zitternde Hand auf die Stirn und sagte:

»Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen, der Name des Herrn sei gelobt!«

* * *

Acht Tage später sollte das Begräbnis vom Sterbehause aus stattfinden mit dem gewöhnlichen stundenlangen Glockenläuten und einer voraufgehenden großen Frühstücksbewirtung des ganzen Gefolges. In seiner tiefen Niedergeschlagenheit hätte Emanuel am liebsten gesehen, wenn alles in der größten Stille vor sich gegangen wäre. Aber er hatte selbst immer viel zu eifrig für die Erhaltung der alten Bauernsitten geredet, um nun damit brechen zu können; auch hatte es schon eine gewisse Mißstimmung in der Gemeinde erregt, daß er sich in den letzten Lebenstagen des Buben so unverhohlen der Teilnahme der Freunde entzogen hatte.

Ein paar Tage lang herrschte nun eine große Geschäftigkeit im Pfarrhause mit gründlichem Reinmachen in allen Räumen und Kochen und Braten in der Küche wie zu einer Hochzeit oder zu einer Tauffestlichkeit. Emanuel war gewissermaßen Hansine dankbar, weil sie in diesen Tagen alles so ruhig leitete und aufopfernd jede Mühe auf ihre Schultern nahm. Gleichzeitig aber konnte er nicht umhin, sich ein wenig zu wundern, daß sie mitten in ihrem Kummer Gedanken für all diese alltäglichen Dinge haben konnte; und es verletzte ihn beinahe, daß sie bei dem Waschen des Buben und bei seiner Einhüllung in das Leichenlaken auch nicht eine einzige Träne vergossen hatte. Er selbst hielt sich fast ausschließlich im Garten auf, wanderte auf und ab in den entferntest gelegenen Alleen, wo ihn der Bratengeruch aus der Küche und das Geschwätz der reinemachenden Arbeitsfrauen in den Zimmern nicht erreichen konnten. Oft saß er stundenlang auf einer Bank, den Kopf in den Händen, zermartert von Kummer und verzehrt von Selbstanklagen. In seiner erregten Gemütsstimmung faßte er die Krankheit des Buben als eine Prüfung auf, die ihm Gott geschickt hatte und den Tod des Kindes als Strafe des Himmels, weil er in der Stunde der Not seinem Glauben untreu geworden war und in seiner Schwachheit Menschenhilfe gegen den unerbittlichen Willen der Vorsehung angerufen hatte. Jedesmal, wenn er an jene Nacht dachte, wo er von dem Erdhügel im Garten in die Dunkelheit hinausgestarrt hatte nach dem Laternenschein von dem Wagen des Doktors und in seiner ratlosen Verzweiflung sogar das himmlische Licht verleugnet hatte, verbarg er schamerfüllt sein Antlitz vor Gott. Er hatte sich in seiner tiefen Reue Hansinen anvertraut, aber auch bei dieser Gelegenheit hatte er etwas von dem rechten Ernst bei ihr vermißt und fühlte sich allein und unverstanden in seinem Kummer. Sie hatte sein Bekenntnis schweigend angehört, hatte nur gesagt, daß Gott seine Fürsorge für den Buben wohl nicht verkennen würde, und war dann wieder an ihre Küchenarbeit gegangen.

Als der Begräbnistag anbrach, hatte die ganze Gemeinde halbmast geflaggt. In Vejlby war die Straße mit Tannenreisern bestreut, und selbst die Kinder trugen ihre Festkleider und liefen mit Süßigkeiten in den Händen herum, wie an einem Volksfest. Im Pfarrhaus war kaum Platz für die vielen schwarzgekleideten Menschen, die um die Mittagszeit aus der ganzen Gegend zusammenströmten. Der Sarg des Buben, der auf zwei schwarzen Schemeln in Emanuels Zimmer ausgestellt war, verschwand schließlich ganz unter Kränzen aus Stoffblumen und Kreuzen aus Perlen und aus gepreßter Gold- und Silberpappe mit gedruckten Inschriften. Ringsum den Sarg stand eine immer dichter werdende Schar von Andächtigen, namentlich von Frauen, die mit gefalteten Händen die ungewöhnliche Blumenpracht bewunderten. In der guten Stube waren die langen Frühstückstische gedeckt, und am Eingang standen Emanuel und Hansine, um den teilnehmenden Händedruck der Gäste zu empfangen. Großmutter Else stand der Bewirtung vor, während Abelone und ein paar von den Häuslerfrauen aus dem Dorf die Aufwartung besorgten. Durch das gedämpfte Summen der Unterhaltungen der Gäste hörte man beständig Else hindurch, die mit vielen Worten die Leute bat, sich doch zu setzen.

»Ach, wollt ihr nich' gefälligst Platz nehmen, liebe Freunde . . . Bitte, langt doch zu, liebe Freunde!«

Die Stimmung war überall sehr gedrückt, doch war es weniger die Trauer um Emanuels Sohn, die diese Mutlosigkeit hervorrief, als die immer beunruhigenderen Gerüchte aus den Reichstagswahlkreisen der Hauptstadt. Man wußte, daß der gestrige Tag die endgültige Entscheidung des langen Kampfes gebracht haben mußte, aber noch war keine Nachricht über das Ergebnis bis hierher gelangt. Draußen im Garten stand der Schulze, die Hände auf dem Rücken, beständig von Leuten umgeben, die seine Meinung über die Lage der Sache hören wollten. Seine Nase war auffallend blaß, seine sonst so donnernde Stimme sonderbar gedämpft. Auf die vielen besorgten Fragen, die an ihn gerichtet wurden, antwortete er regelmäßig mit einem Versuch, eine tröstliche Ruhe zu bewahren:

»Laßt uns die Sache ansehen. Freunde! Ich glaube nun nicht daran, daß man im Ernst wagen wird, Macht über Recht gehen zu lassen: Vox populi, vox dei, sagt ein alter griechischer Skalde – das bedeutet soviel, daß niemand ungestraft dem Volkswillen Trotz bietet – davon könnt ihr überzeugt sein!«

Überall hörte man Fragen nach Weber Hansen. Man wußte, daß er am Morgen nach der Stadt gegangen war, um Telegramme aus Kopenhagen zu holen, und man hatte ausgerechnet, daß er vor Mittag würde zurück sein können. Aber bisher hatte ihn noch niemand gesehen, und die Kirchenglocken fingen an zu läuten und das Gefolge bestieg die Wagen, ohne daß er gekommen war.

Es war ein klarer, sonniger Tag mit schimmernd blauem Himmel und grünenden Feldern, und mitten in diesem Frühlingsfest machte der lange dunkle Leichenzug, der sich auf der gewundenen Landstraße Schritt für Schritt gen Süden bewegte, einen doppelt traurigen Eindruck. Auf Emanuels Wunsch wurde der Bube in des Großvaters, des alten Anders Jörgens' Familienbegräbnis draußen bei der Skibberuper Kirche auf der Landzunge zur letzten Ruhe bestattet. Er hatte von alters her eine Vorliebe bewahrt für diesen öden und einsamen Ort mit seiner feierlichen Stille, die nur von dem wilden Schrei der Möwen draußen über dem Strand unterbrochen wurde.

Erst nach mehr als einstündiger Fahrt langte der Zug oben an der Kirche an. Der Sarg wurde vom Wagen genommen und von sechs jungen Bauern – drei aus Vejlby, drei aus Skibberup – auf den Kirchhof getragen. Voran ging eine Schar halberwachsener Mädchen, die Tannenreiser und Moos streuten, und hinterdrein folgten die übrigen Leidtragenden unter Absingung eines Gesanges.

In diesem Augenblick ging es wie ein Lauffeuer durch das Gefolge, daß Weber Hansen da sei. Flüsternde Fragen und Antworten liefen von Mund zu Munde, und noch ehe der Sarg in die Erde gesenkt war, wußten alle, daß das »Unmögliche« geschehen, daß der Staatscoup vollzogen, der Reichstag nach Hause geschickt sei, und daß die Regierung aus eigener Machtvollkommenheit Gesetze erließ und Steuern einforderte.

Es war nicht mehr viel Aufmerksamkeit vorhanden für die kleine Rede, in der Emanuel – unter beständigem Kampf mit seinen Tränen – Abschied von seinem Sohne nahm und ihm für die sechs Jahre dankte, in der sie »in glücklicher Kameradschaft« zusammen gelebt hatten. Kaum waren die drei Schaufeln Erde auf den Sarg geworfen und das »stille Gebet« beendet, als sich das Gefolge unter lauten Ausbrüchen der Erbitterung zerstreute. Vor dem Kirchhofstor scharten sich die Leute in Gruppen zusammen, und in der allgemeinen Kopflosigkeit suchten alle nach dem Dorfschulzen. Es hieß indessen, er sei schon mitten während des Erdaufwerfens in seinen Wagen gestiegen und nach Hause gefahren. Auch der Weber hatte sich entfernt – wie einige wissen wollten, zusammen mit der Schmiedemaren – und von allen »Vertrauensmännern« war überhaupt nur noch der kleine dickbauchige Vejlbyer Bauer mit den kindlichroten Wangen vorhanden. Aber diesen Mann hatte man eigentlich nur in den politischen Rat der Gemeinde gewählt, um ihm eine Anerkennung für seine Verdienste auf dem Gebiet der Molkerei zu teil werden zu lassen, und er war nun derartig bestürzt, als er sich plötzlich von einer Schar junger Burschen umringt sah, die ihn mit Fragen bestürmten, daß er unter dem Vorwand, ein natürliches Bedürfnis verrichten zu müssen, hinter die Kirche schlich und sich von hier aus heimlich entfernte.

Es verhielt sich wirklich so, daß Weber Hansen mit der Schmiedemaren fortgegangen war. Die kleine häßliche Armhäuslerin, die durch ihr beständiges Auftreten in allen möglichen Versammlungen, wo sie überall Widerspruch hervorrief und Skandal verursachte, allmählich die Vorstellung von sich selbst gewonnen hatte, daß sie eine Prophetin sei, hatte in ihrem unlöschlichen Durst, die Welt zu verbessern, auch die allerletzte Losung der Zeit erfaßt und war »heilig« geworden. Draußen in ihrer Hütte auf dem öden Felde hielt sie mit drei, vier anderen Unzufriedenen tägliche »Gebetstunden« ab, in denen sie Kapitel aus der Bibel vorlasen und geistliche Lieder in die Luft hinausheulten und in Jesu Namen all diejenigen verleumdeten, die nicht in Maren das neue Gotteslicht der Kirche erblicken wollten. Es hatte daher viel Erstaunen und Bekümmernis erregt, daß der Weber in letzter Zeit die »Schmiedemaren« so offenbar unter seinen Schutz genommen hatte. Die Leute, die sie zusammen von der Kirche hatten fortgehen sehen, meinten sogar auf dem Gesicht des Webers ein triumphierendes Lächeln gesehen zu haben, das ihnen schlecht zu der Gelegenheit zu passen schien und sicher nichts Gutes bedeutete.

Es lag Unruhe in der Luft. Was würde die Zukunft bringen?



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