Henrik Pontoppidan
Das gelobte Land
Henrik Pontoppidan

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Erstes Buch.
Erde

Erster Teil

Mehrere Tage lang hatte ein fürchterliches Unwetter in der Gegend gerast. Auf zerrissenen, schwarzblauen Wolkenschwingen war der Sturm von Osten geflogen gekommen und hatte den Fjord durchpeitscht, so daß große Schaumfetzen bis hoch hinauf auf die Felder geschleudert waren. An vielen Stellen hatte er dem Bauer die Wintersaat ganz zerwühlt, die Wiesen rasiert und die Gräben mit Erde und Sand verstopft, so daß das Wasser, das keinen Ablauf finden konnte, sich über Acker und Wege breitete. Überall sah man gestürzte Bäume, geknickte Telegraphenstangen, auseinandergerissene Kornmieten und kleine Vogelleichen; der Orkan hatte die Tierchen gegen die Erde geschleudert und auf der Stelle getötet.

Drinnen in dem Dörfchen, das ganz unbeschützt auf dem Gipfel eines hohen Hügels lag, war eine alte Scheune eines Nachts mit einem solchen Getöse umgeweht, daß die Bewohner des Dorfes aus ihren Betten gesprungen und im bloßen Hemd auf die Straße gestürzt waren. Viele Schornsteine waren in derselben Nacht von den Dächern heruntergefallen, und im Pfarrgarten waren alle Starenkasten aus den Bäumen herabgeweht. Ja, nicht einmal den Propst selber hatten die himmlischen Mächte verschont. Als er am Vormittag, als das Unwetter seinen Höhepunkt erreicht hatte, auf die Veranda hinaustrat, um die Zerstörung in Augenschein zu nehmen, hatte der Sturm den Hut von seinem weißen Kopf gehoben, ihn wie einen Ball an die Erde geworfen, ihn wie ein Rad den Weg entlang gerollt und ihn trotz aller Bemühungen in einer aufgewirbelten Staubwolke mit sich weggeführt.

Seit Menschengedenken hatte man solche Tage nicht erlebt.

»Gott schütze alle, die auf See sind!« riefen sich die Leute durch das Unwettergetöse zu, wenn man aneinander auf der Dorfstraße begegnete, während man sich Schritt für Schritt den Weg entlang kämpfte mit vornübergebeugtem Oberkörper, oder, den Sturm im Rücken, auf Holzschuhabsätzen dahinflog.

»Wohl denen, die sicher und geborgen sitzen«, dachten die Leute daheim in ihren halbdunklen Stuben, wo man selbst mitten am Tage kaum genügend sehen konnte, um seine Zeitung zu lesen, während es ringsumher pfiff und heulte, als ob alle bösen Geister über die Stadt losgelassen wären. Drinnen in den Ställen standen die Pferde, spitzten die Ohren und zitterten vor Angst. Die Kühe brüllten um die Wette, wie bei einer Feuersbrunst. Selbst die Katzen schlichen jämmerlich miauend umher, und die Hunde liefen herum, den Schwanz zwischen den Beinen und schnoberten unruhig.

Als das Unwetter endlich ein wenig abflaute, kam der Schnee in weißen Horden getummelt; und obwohl es noch früh im Winter war, zu Anfang Dezember, blieb er überall an der Erde liegen, sammelte sich in den Gräben an, verbarg die umgestürzten Bäume am Wegesrande, häufte sich über den zertrümmerten Zäunen und zerzausten Strohdächern auf. Zwei volle Tage verschwammen Himmel und Erde ineinander.

Dann aber begann auch dieser und jener von den einfältigen Vejlbyer Bauern im stillen sein Innerstes zu erforschen und seine Rechnung mit Gott aufzumachen in dem Glauben, daß der Jüngste Tag im Anzug sein müsse. Selbst als man endlich am Abend des zweiten Tages anfangen konnte, die Schneewehen vor den Haustüren wegzuschaufeln und die zolldicken Schneeschichten von den Fensterscheiben zu fegen, dachte mehr als einer von denen, die in dem hervorbrechenden Mondschein in ihrer Tür standen und über die öde, blauweiße Schneewüste hinausstarrten, in die Land und Fjord verwandelt waren, wo dies alles wohl »hinauswolle«, d. h. ob es nicht möglicherweise allzusammen eine Vorbedeutung sei, die himmlische Verkündigung irgendeines bedeutungsvollen Ereignisses, das in allernächster Zukunft über Dorf und Gemeinde oder vielleicht gar über das ganze Land hereinbrechen würde.

* * *

Drinnen im Studierzimmer des Propstes saß an diesem Abend ein fremder Mann, der am vorhergehenden Tage, während der Schneesturm gerade am allerärgsten raste, angelangt war. Es war eine jugendliche, hohe und schlanke Gestalt in einem langen, schwarzen Tuchrock und mit einem weißen, zu einer kleinen Schleife gebundenen Schlips, der einen stark hervortretenden Adamsapfel zum Teil verdeckte. Aus einem bleichen und mageren Gesicht starrten ein paar kindlich hellblaue Augen mit offenem Blick heraus. Über der Stirn, die hoch und stark gewölbt war, lag schönes, blondes, an den Enden leicht gelocktes Haar. An der Spitze des Kinnes und längs des untersten Randes der Wangen sproßte ein feiner, blonder Flaum.

Ihm gerade gegenüber saß Propst Tönnesen in einem altväterischen Lehnstuhl, mit Ohrenklappen und Nackenrollen. Er war eine hünenhafte Prälatengestalt mit prächtig geformtem Kopf und schneeweißem, kurzgestutztem Haar, unter dem überall der rosenrote Kopfboden hervorlugte. Hinter ein paar lang herabhängenden, noch ganz schwarzen Brauen leuchteten zwei dunkelgraue Feueraugen, die im Verein mit den üppigen Formen der Nase und der Lippen dem bartlosen Antlitz ein halbsüdländisches Aussehen verliehen. Auch in seiner Kleidung glich er nicht einem gewöhnlichen dänischen Landpfarrer. Vom schimmernd weißen Batisttuch, das seinen roten Stiernacken stramm umschloß, bis zu seiner gemusterten seidenen Weste und den blankgeputzten Stiefeln offenbarte er einen bei solchen Leuten ungewöhnlich regen Sinn für den äußeren Anstand. Auch seine Haltung und die Art und Weise, wie er hin und wieder im Laufe der Unterhaltung an einer langstieligen Kohlenpfeife mit dickem Bernsteinmundstück nippte, verrieten den selbstbewußten Weltmann.

Neben ihm war die Flügeltür nach dem Wohnzimmer geöffnet, einem großen, herrschaftlich ausgestatteten Raum, wo die Tochter des Hauses, eine rotblonde Dame, saß und bei einer hohen Lampe mit seegrünem, seidenem Schirm nähte. Alles ringsumher war still. Es war, als sei jegliches Geräusch da draußen im Schneemeer ertrunken. Außer dem Baß des Propstes vernahm man nur das Prasseln des Ofenfeuers und das einförmige Nachsprechen des Papageis, der drinnen im Wohnzimmer bei dem Fräulein in einem Bauer saß.

Der junge Gast war der neue Kaplan des Propstes, dessen Ankunft man nicht nur auf dem Pfarrhof, sondern überall in der Gemeinde mit der größten Spannung entgegengesehen hatte. Schon mehrere Stunden, gleich seit man vom Mittagstische aufstand, hatten die beiden geistlichen Herren da drinnen im Studierzimmer gesessen, allerlei Dinge erwägend, die ihren gemeinsamen, verantwortungsvollen Beruf betrafen. Der Propst führte fast ausschließlich das Wort. Der Kaplan war ein noch ganz junger Mann von 26 Jahren, und erst vor wenigen Tagen hatte er vom Bischof die feierliche Weihe für seinen Seelenhirtenberuf empfangen. Er fühlte sich augenscheinlich auch noch ein wenig bedrückt von seiner neuen Würde. Jedesmal, wenn sich der Propst mit der Anrede »Herr Pastor« an ihn wandte, stieg ihm das Blut in die Wangen, und er sah verlegen auf seine Stiefelschnauzen nieder.

Propst Tönnesen hatte seinen vierstündigen Vortrag in einem besonnenen, belehrenden Ton begonnen, ein wenig unnötig lange bei den einzelnen Worten verweilend, als genieße er im stillen selber den tiefen Erzklang seiner schönen Stimme und das Formvollendete seiner Sätze. Es war ihm nicht oft beschieden, einen so verständnisvollen Zuhörer zu haben, und er widerstand daher nicht der Versuchung, seiner Beredsamkeit einen etwas weiten Tummelplatz zu gewähren. Aber allmählich, als er in eine nähere Besprechung der Stellung der modernen Kirche hineingeraten war, und namentlich als er die verschiedenen, sich bekämpfenden Strömungen der Zeit innerhalb der Kirche berührte, war sein Ton weniger ruhig, seine Sprache weit weniger beherrscht geworden. Jetzt beugte er sich sogar ganz zu seinem Kaplan hinüber und sagte mit kräftigem Nachdruck:

»Was ich also, Herr Pastor Hansted, Ihnen in diesem Zusammenhang namentlich und eindringlich zu sagen wünschte, ist in wenigen Worten folgendes: Es ist nicht nur das Recht des Geistlichen, sondern auch seine heilige und unverbrüchliche Pflicht, dem Herrn gegenüber, dem er dient und dessen Reich hier auf Erden er unter Verantwortung verwaltet . . . ich sage, es ist die unabweisbare Pflicht des Geistlichen, bei jeder Gelegenheit die unbedingte Autorität der Kirche zu betonen. Das schöne alte patriarchalische Verhältnis, das ehemals zwischen dem Seelenhirten und der Gemeinde bestand, ist – leider –! – bald nur mehr eine Sage. Und wessen Schuld ist das? Wer hat nun seit Jahren systematisch die Macht der Kirche untergraben und den angestammten Respekt des Volkes vor seinen göttlich eingesetzten Lehrern zerstört? Sind es die sogenannten Freidenker? die offenbaren, frechen Gottesleugner? Wohl pflegt man so zu sagen. Glauben Sie das aber nicht! Nein, innerhalb des eigenen Rahmens der Kirche hat das Verderben Nahrung gefunden. Es sind das diese unglücksschwangeren Strömungen, die unter dem Namen von Freiheits- und Gleichheitsbestrebungen aus der Volkstiefe aufgestiegen sind und jetzt auch zu den heiligen Hallen der Kirche den Weg gefunden haben . . . und nicht allein durch vereinzelte, jugendliche Brauseköpfe, sondern – leider! – in der letzten Zeit sogar durch die höchsten Vertrauensmänner der Kirche. Ich brauche mich wohl nicht näher zu erklären. Sie wissen gewiß, worauf ich hinziele . . . Wie aber soll dies enden? heißt das nicht, den Antichristen selber, den alten Aufrührergeist der Kirche in seinen Sold nehmen? Was sind wohl diese sogenannten Grundtvigianer mit ihren Brüderversammlungen und ihren ländlichen Hochschulen, die in letzter Zeit sogar vom Staat unterstützt werden? Und was ist dies Kolporteurunwesen, was sind diese predigenden Schuster und Schneider, diese gänzlich unwissenden Personen, die – beachten Sie das wohl! – von Geistlichen über das Land ausgesandt werden, mit der Befugnis, im Namen der heiligen Kirche zu zeugen? Ich begreife nicht die Blindheit, mit der gewisse Amtsbrüder von uns geschlagen sind, daß sie nicht einsehen, wie untergrabend ein solches Vorgehen für die Würde, die Autorität ist, – die wir – es nützt doch nicht, es unter uns leugnen zu wollen – wahrlich nicht entbehren können, dem gemeinen Mann gegenüber, der unmöglich imstande ist, die wahre Überlegenheit zu schätzen und geistige Eigenschaften richtig zu beurteilen. Und was ist die Folge davon? Sehen wir nicht bereits die Früchte? Diese Schuster- und Schneiderzeugen – sind sie nicht in den Augen des gemeinen Mannes Wunder an Beredsamkeit, halbe Propheten, um die man sich überall schart, und deren Phrasen und Redensarten die Gemeinde demoralisieren, so daß sie schließlich kaum mehr ein Ohr hat für eine ordentlich durchdachte Predigt oder Sinn für die Feierlichkeit des Gottesdienstes . . . Es sind wahrhaftig erst ein paar Tage her, daß so ein Vagabund sich mir hier als »Kollege« vorstellte und obendrein noch die Frechheit besaß, mich um Erlaubnis zu bitten, die Kirche für seine Prästationen benutzen zu dürfen. Dahin ist es mit uns gekommen! Landstreicher auf der Kanzel, Insassen des Armenhauses vor dem Altar! Schustergesellen und Lehrlinge als geistige Vormünder des Volkes! . . . Wo soll das enden? Ich frage Sie, Herr Pastor Hansted, wo soll das enden?«

Propst Tönnesen hatte sich in eine immer heftigere Leidenschaft hineingeredet. Sein Gesicht war aschgrau geworden, sein ganzer Körper zitterte. Bei den letzten Worten richtete er sich zu seiner ganzen Höhe auf und reckte seine Hünengestalt, als wolle er auf der Stelle zum Kampf herausfordern.

Von seinem Stuhl aus betrachtete der Kaplan ihn in unsicherm Staunen, und drinnen im Wohnzimmer fing der Papagei an zu schreien und mit den Flügeln zu schlagen.

Ganz außer sich vor Gemütserregung begann der Propst in der Stube auf und nieder zu wandern. Als er nach Verlauf einiger Minuten zurückkehrte, stellte er sich vor den Kaplan hin und betrachtete ihn mit einem Blick, der unter den dunklen Brauenbüscheln flammte, wie ein Blitz hinter einer Gewitterwolke.

»Ich hoffe,« – sagte er mit noch immer bebender Stimme, »ich hoffe, Herr Pastor Hansted, daß Sie meine Sorgen bezüglich der Sache, die ich hier nannte, vollauf verstehen . . . Ich will Ihnen nicht verheimlichen, daß ich auch hier in der Gemeinde die ersten Spuren einer Gärung, einer ausschweifenden Tendenz bemerkt habe, die es ohne Schonung im Keim zu ersticken gilt. Ein gewisser Weber Hansen, ein ebenso unwissender, wie frecher Kerl, ein trauriges Produkt dieser sogenannten Hochschulbewegung, hat in den letzten Jahren versucht, hier in der Gemeinde eine Art Revolutionspartei zu bilden, eine Schar von Großsprechern und Ignoranten, die es offen wagen, sich gegen mich aufzulehnen und die durch allerlei Tollheiten den Frieden in der Gemeinde zu stören suchen. Aber dergleichen dulde ich nicht! Ich halte es für meine Pflicht, mit unerbittlicher Strenge diesen Geist des Aufruhrs zu unterdrücken und ich erwarte, Herr Hansted, daß ich in Zukunft auch auf Ihren Beistand in diesem Punkte rechnen darf. Es ist überhaupt meine Hoffnung, daß wir einander in allem Wesentlichen werden verstehen können, so daß unser gemeinsames Wirken hier zur Ehre Gottes des Herrn und zum Segen der Gemeinde gereichen kann!«

»Ich hege keinen höheren Wunsch«, erwiderte der junge Mann bewegt und sah zu Boden nieder.

»Davon bin ich auch überzeugt«, fuhr der Propst fort, sichtlich zufrieden mit der Antwort des Kaplans. »Trotzdem freut es mich, die Bestätigung aus Ihrem eigenen Munde zu hören . . . Ich zweifle überhaupt nicht daran, daß wir bei gegenseitigem Entgegenkommen gut miteinander fertig werden.«

Nach diesem Wortwechsel gewann Propst Tönnesen verhältnismäßig schnell sein Gleichgewicht wieder. Er ging in eine Ecke des Zimmers, stopfte seine Pfeife, zündete sie an einem Fidibus an und nahm wieder Platz im Lehnstuhl, um seinen unterbrochenen, sachlichen Vortrag fortzusetzen.

Indem er zu dem überging, was er halb scherzend »einen kleinen Kursus in der praktischen Theologie« nannte, begann er eine Erklärung über die einzelnen Aufgaben der geistlichen Wirksamkeit abzulegen. Er sprach von dem Verfahren bei der Tauffeierlichkeit, bei der Verabreichung des Abendmahls in der Kirche, wie auch am Krankenbett; gab dann seinem jungen Schüler Anleitung in bezug auf die passende Länge der Predigt, auf die Messe, den Altardienst usw., und erteilte schließlich allerlei praktische Winke bezüglich des rein äußeren Anstands, der ebenfalls nicht versäumt werden dürfe.

»Da ist nun zum Beispiel das mit den Händen, was dem jungen Kanzelredner zu Anfang oft große Schwierigkeiten bereitet. Wie Sie wissen werden, lieben es einzelne Geistliche, sehr stark zu gestikulieren, während andere es vorziehen, die Hände ruhig gefaltet zu halten. Das letztere verleiht unleugbar mehr Innigkeit und ist daher beispielsweise namentlich am Platz bei Trauungen, wo man im allgemeinen mehr zu den weichen Gefühlen zu reden sucht, als gerade das Schuldbewußtsein der Zuhörer zu wecken. Bei anderen Gelegenheiten finde ich dahingegen, daß ein passendes Gestikulieren ganz angebracht ist. Bei Worten wie z. B. der Fluch des Herrn, der Zorn des Himmels, die ewige Höllenpein, usw., ist es sogar sehr natürlich, daß man seine Worte mit einem Erheben des Armes, einem Ballen der Hand oder dergleichen begleitet, um ihnen mehr Kraft zu verleihen . . . Eins aber möchte ich Ihnen noch sehr ans Herz legen, lieber Freund – –«

In diesem Augenblick schlug eine feinklingende Tafeluhr drinnen im Wohnzimmer acht. Und in der Tür erschien die Tochter des Propstes und forderte die Herren auf, zum Tee zu kommen.

»Ja, dann müssen wir wohl gehorchen!« unterbrach der Propst sich lebhaft und stand auf. Und seine Hand auf die Schulter des Kaplans legend, fügte er lächelnd hinzu: »Wie Sie wohl bereits bemerkt haben werden, Herr Hansted, hat nämlich meine Tochter hier im Hause das Regiment – und ich will Ihnen nur sagen, sie ist ein gestrenger Kommandant! . . . Nun, wir fahren gelegentlich fort. Kommen Sie jetzt herein und nehmen Sie fürlieb mit unserm ländlichen Abendbrot.«

* * *

Das Eßzimmer war – so wie die meisten Zimmer des Pfarrhauses – ein hoher, herrschaftlicher Raum mit Gipsstuck unter der Decke und Landschaftsdekorationen über den Türen. Obwohl die Pfarre von Vejlby und Skibberup keineswegs zu den fetten gehörte, war das ganze Pfarrhaus mit den dazugehörigen Wirtschaftsgebäuden in einem Stil aufgeführt, der mehr an den Sitz eines Rittergutsbesitzers, als an eine Wohnung für einen Diener der Kirche erinnerte.

Propst Tönnesens Vorgänger im Amt war nämlich ein steinreicher Mann gewesen, dessen erste Handlung in der Gemeinde darin bestand, daß er das alte Pfarrgebäude bis auf den Grund niederriß und an seine Stelle auf eigene Rechnung dies Palais aufführen ließ, dessen Kostbarkeit damals förmliche Wallfahrten aus dem ganzen Amt veranlaßt hatte. Es waren noch die fabelhaftesten Erzählungen im Umlauf über den Leichtsinn, mit dem dieser Mann sein Geld verschwendete. Kam ein Bauer zu ihm und klagte über Unglück mit seinem Vieh oder Brand in seinen Saaten, so machte er gleich einen Strich über seine Zehntenschuld und steckte ihm zuweilen obendrein noch einen Fünfzigtalerschein in die Hand, wenn er sich verabschiedete. Dafür forderte er nur, daß man ihn zwischen seinen Büchern und Kunstgegenständen in Frieden ließ; und da die Bevölkerung der Gegend von jeher weniger Sinn für die Schätze der Religion als für handgreiflichere Güter gehabt, so hatte in den fünfzehn Jahren, während welcher der Millionenpastor hier residierte, das beste Einverständnis zwischen der Gemeinde und ihrem Oberhaupt geherrscht.

Indessen hatte Propst Tönnesen allen Grund, sich über seinen Vorgänger zu beklagen, der durch sein Verfahren die Begriffe in der Gemeinde völlig verwirrt hatte. Alle hatten sich in dem Maße daran gewöhnt, den Zehnten und das Opfergeld als etwas zu betrachten, das sie ganz nach Belieben zahlen oder zu zahlen unterlassen konnten, daß, als Tönnesen die Einführung geordneter Verhältnisse verlangte und sogar mit Strenge die pünktliche Hinterlegung der verschiedenen Abgaben forderte, dies als eine für einen Geistlichen ungeziemende Geldgier betrachtet wurde und Anlaß zu einer Meuterei gab, die den ersten Anfang zu dem gespannten Verhältnis bildete, das seither ununterbrochen zwischen dem Pfarrhause und einem gewissen Teil der Gemeinde bestanden hatte.

Hatte aber der Propst in dieser Hinsicht wirklich Grund, mit seinem Vorgänger unzufrieden zu sein, so war er ihm dahingegen doppelt dankbar für die fürstliche Wohnung, die ihm dieser hinterlassen hatte. Sie entsprach gerade dem, was seiner Ansicht nach eine passende Residenz für des Herrn Christi Statthalter in der Gemeinde von Vejlby und Skibberup war; und sie war auch nicht ohne Schuld daran, daß er noch immer diese – im Verhältnis zu seinem Alter und seiner Anciennität – ziemlich unbedeutende Pfarre innehatte. Hierzu trugen auch vermeintliche Kränkungen bei, die man ihm höheren Orts zugefügt hatte, und die er einem persönlichen Groll seines nächsten Vorgesetzten, des sowohl in kirchlicher, wie in politischer Beziehung selten freisinnigen Bischofs zuschrieb, auf dessen Ernennung er vorhin in seiner Unterredung mit dem Kaplan hingedeutet hatte. Es war nämlich nicht Propst Tönnesens Fehler, sich selbst zu gering einzuschätzen; und da er ein paarmal bei der Besetzung einiger der fettesten Ämter des Landes übergangen worden war, betrachtete er dies als Zurücksetzung und beschloß, unter dem jetzigen Bischof nicht wieder eine Versetzung zu beantragen – ein Entschluß, den ohne große Selbstverleugnung durchzuführen, ihm sein kleiner Haushalt und die Zinsen eines mäßigen Privatvermögens ermöglicht hatten.

Ein wenig Balsam für seine Wunde nahm er jedoch entgegen, als er sich vor ein paar Jahren zum Propst – oder – »Amtspropst«, wie er sich hartnäckig von seinen Gemeindekindern angeredet wissen wollte, ernennen ließ.

In dieser Stellung fand seine aufgesparte Tatkraft einen passenden Tummelplatz und sein Selbstgefühl Genugtuung für alle erlittenen Kränkungen. Er lebte und atmete von diesem Tage an in alten Verordnungen und Gesetzesparagraphen, arbeitete mit leidenschaftlicher Sorgfalt bogenlange Eingaben an Stiftsobrigkeit und Amtsrat aus, stellte bei jeder Gelegenheit den ihm untergebenen Geistlichen weitläufige Fragen und war insonderheit ein Schrecken für die Schullehrer der Propstei, die er mit einer Unendlichkeit von Berichtlisten und Meldebogen verfolgte, bei deren Ausfüllung die pünktlichste Genauigkeit von ihnen verlangt wurde.

Mit allen diesen organisatorischen Veranstaltungen unterhielt er denn auch am Teetisch seinen Kaplan, indem er ihn verstehen ließ, daß, wenn er schon jetzt um Beistand für seine kirchliche Arbeit hier in der Gemeinde nachgesucht habe, dies hauptsächlich geschehen sei, um sich mit desto größerer Kraft diesen mehr leitenden Aufgaben widmen zu können.

Kaplan Hansted verhielt sich noch immer schweigend. Er saß still da und hörte seinem Vorgesetzten zu, während er in Gedanken sein Brot auf dem Tischtuch zerkrümelte, ohne etwas zu genießen. Trotzdem machte er keineswegs den Eindruck, als fühle er sich hier nicht wohl. Im Gegenteil, es lag ein eigener Ausdruck von Freude und Dankbarkeit in seinen hellen, kindersanften Augen, wenn er hin und wieder den Blick erhob und ihn im Zimmer umherschweifen ließ, um ihn zuletzt flüchtig die Tochter des Hauses streifen zu lassen, die hinter der dampfenden Teemaschine stand, im Begriff, den Tee zu bereiten.

Fräulein Ragnhild Tönnesen war – ebenso wie der Vater – eine stattliche Erscheinung, wie überhaupt sein ausgesprochenes Ebenbild. Sie hatte dieselben großen, ausdrucksvollen Augen – nur ein klein wenig heller – dieselbe südländisch geformte Nase und den üppigen Mund. Aber ihre Figur war schlank, fast bis zur Magerkeit, auch hatte sie nicht Propst Tönnesens gesunde, brünette Gesichtsfarbe geerbt. Ihre Haut war mondscheinbleich, wie die einer Dame aus einem Provinzstädtchen und hatte zwei kleine braune Schönheitsflecke auf der linken Wange.

Fräulein Ragnhild war 21 Jahre alt und Propst Tönnesens einziges Kind. Wenn sie im ersten Augenblick vielleicht einen etwas älteren Eindruck machte, so lag das zum Teil in ihrem überlegenen, gemessenen Wesen, das Zeugnis dafür ablegte, daß sie schon lange dem Haushalt ihres Vaters vorgestanden hatte. Sie war noch ein Kind, als Propst Tönnesen seine Frau verlor; und gerade unter dem überwältigenden Einfluß dieses Verlustes hatte er, der damals als Adjunkt an einer der Lateinschulen des Landes angestellt war, sich entschlossen, seine pädagogische Laufbahn zu unterbrechen und in das stille Pfarrhaus auf dem Lande zu ziehen, um dort Trost und Ruhe für sich selbst und sein Kind zu suchen.

* * *

Sie waren gerade im Begriff, vom Tische aufzustehen, als die alte, hinkende Magd des Hauses den Kopf aus der Küche hereinsteckte und meldete, daß draußen vor der Haustür ein Schlitten mit einem Menschen halte, der absolut mit dem Propst sprechen wolle.

»Zu dieser Zeit des Tages!« rief der Propst aus und runzelte unheilverkündend die Brauen. »Was mag er nur wollen, Lone?«

»Ja, wer kann das wissen«, entgegnete die alte Dienerin mürrisch. »Aber er sagte ja, es wär' für einen, der sehr krank wär', für den sollt' er den Propst holen.«

»Zu einem Kranken! In diesem Wetter! Und jetzt, zu nächtlicher Stunde! . . . Wer mag der Mensch sein, Lone?«

»Ja, was weiß ich das . . . Aber er sagt ja, daß er Anders Jörgens Sohn aus Skibberup is.«

»Hm! Ach so! . . . Herr Gott! Dann ist es also der alte Anders Jörgen, der jetzt davon soll. Wo ist der Bote?«

»Ich hab' ihn in das Studierkantor 'reingelassen.«

Der Propst leerte seine Tasse, fuhr sich mit der Serviette über das Kinn und erhob sich.

Auf dem Wege durch das Wohnzimmer zog er aus der hinteren Rocktasche ein schwarzes, seidenes Käppchen, mit dem er seinen Kopf zu bedecken pflegte, ehe er sich seinen Pfarrkindern vorstellte. Nachdem er gleichzeitig sein Erscheinen durch ein kräftiges Räuspern vorbereitet hatte, trat er in das Studierzimmer – oder das »Studierkantor«, wie es die Leute in der Gemeinde zu nennen pflegten.

Hier im Halbdunkel, neben der Tür, stand eine kleine Gestalt in einem viel zu großen Radmantel, aus dem nur ein heller Haarbüschel, zwei blaurote Hände und ein Paar Füße in weißen, wollenen Socken hervorguckten.

»Guten Abend!« sagte der Propst und machte eine Bewegung mit der Hand. »Du also wünschest mit mir zu sprechen?«

Als Antwort kam erst ein Hicksen und dann ein schüchtern geflüstertes »Ja!« »Wie heißt du, mein Freund?« fuhr der Propst ermunternd fort. Man hörte einen Augenblick nur die Zähne des Burschen klappern.

Endlich kam es heiser und hastig heraus:

»Ole Kristian Julius Andersen.«

»Bist du ein Sohn des alten Anders Jörgen in Skibberup?«

»Ja.«

»Dann also habe ich dich im vergangenen Jahr zur Konfirmation vorbereitet, nicht wahr?«

»Ja.«

»Und nun kommst du, um mich zu ersuchen, deinem alten Vater das Abendmahl zu reichen . . . Ich meine gehört zu haben, daß er seit einiger Zeit gekränkelt hat.«

Bei diesen Worten lief ein Jucken durch die Gestalt des Jungen. Er fing an, unruhig auf den Socken hin und her zu trippeln, und die Pelzmütze lief wie ein Rad durch seine Hände.

»Es ist ja freilich ein wenig spät am Abend und unter schwierigen Verhältnissen«, fuhr der Propst unbeirrt fort. »Aber in Anbetracht des Ernstes der Sache will ich mich trotzdem nicht weigern . . . Nun, was gibt's? Hast du sonst noch etwas auf dem Herzen? Die Wege sind jetzt wohl einigermaßen fahrbar? Ist die Landstraße geschaufelt?«

»Ja – aber –«

»Ist auch unterhalb des Hügels der Schnee weggeschafft?«

»Die Schneeschaufler sind da draußen –«

»Gut, dann gehe zu deinen Pferden und halte dich bereit. Ich werde gleich fertig sein.«

Bei diesen Worten grüßte der Propst wieder mit der Hand und kehrte nach dem Wohnzimmer zurück, ohne des ratlos weitgeöffneten Augenpaares zu achten, mit dem ihm der Junge von der Tür aus nachsah.

Als Tönnesen in das Wohnzimmer trat und hier den Kaplan erblickte, der im selben Augenblick mit dem Fräulein aus dem Eßzimmer kam, huschte es wie ein Leuchten über sein Gesicht.

»Da kommt mir ein Gedanke!« rief er lebhaft aus. »Sie haben ja gehört, Herr Hansted, daß ein älterer, kranker Mann aus der Nebenpfarre, der das Abendmahl wünscht, nach mir geschickt hat. Wahrlich, ich kann mir keine bessere Gelegenheit für Sie als Beginn Ihrer Tätigkeit hier vorstellen, als gerade diese. Ich kenne den Alten sehr gut – er ist stets ein äußerst achtbarer und strebsamer Mann gewesen, für den ein paar allgemeine Worte des Trostes sicher ausreichen werden. Ich bin überzeugt, daß das Ganze Ihnen nicht die geringste Schwierigkeit bereiten wird.«

Die Aufforderung des Propstes setzte den jungen Geistlichen in sichtliche Verlegenheit. Die Farbe auf seinen Wangen wechselte ein paarmal, und er fing an, Entschuldigungen zu stammeln. Der Propst habe – sagte er – versprochen, ihm in der ersten Zeit beizustehen, bis er einige Übung erlangt habe; auch sei er ganz unvorbereitet. –

Der Propst aber unterbrach ihn hastig:

»Ach, das hat nicht das geringste zu bedeuten. Sie können ja auf dem Wege dahin über die paar Worte nachdenken, die Sie sagen wollen. Das tue ich selber immer, und – wie gesagt – einige allgemeine Worte des Trostes sind in diesem Falle alles, was erforderlich ist. Seien Sie nur guten Mutes, lieber Freund, so wird das Ganze schon gehen. Es handelt sich nur darum, daß man das Ritual klar im Kopf hat und sich nicht verwirren läßt. Gehen Sie mit Gott, lieber Freund! Und vertrauen Sie getrost auf seinen Segen!«

Der Kaplan machte nach diesen Worten keine Einwendungen mehr. Schweigend verließ er das Zimmer und begab sich hinauf, um das Ornat anzulegen.

* * *

Eine Viertelstunde später war der Kaplan von dannen gefahren, und über dem Pfarrhause lag wieder, wie gewöhnlich, Stille und Friede. Fräulein Ragnhild ging im Wohnzimmer umher und brachte alles für die Nacht in Ordnung. Sie schloß den großen Flügel, der in einer Ecke unter einer lorbeerbekränzten Beethoven-Büste stand, legte die Noten in einen Schrank und kraute den bereits halb entschlummerten Papagei ein wenig im Nacken, ehe sie das schwarze Tuch über sein Bauer hängte. Dann setzte sie sich an ihren gewohnten Platz an den Tisch unter den seegrünen, seidenen Schirm der Lampe und nahm ihre Straminstickerei wieder zur Hand.

Währenddes hatte der Propst seine Pfeife in seinem eigenen Zimmer gestopft und fing nun an, durch beide Stuben hin und her zu wandern. Von Zeit zu Zeit sah er verstohlen zu der Tochter hinüber, indem er schwere Rauchwolken durch den zugespitzten Mund ausstieß.

Schließlich blieb er vor ihr stehen und sagte mit einer etwas erkünstelten Munterkeit:

»Nun, liebe Ragnhild! Wie gefällt unser neuer Gast denn dir eigentlich?«

Das Antlitz der jungen Dame nahm einen noch verschlosseneren Ausdruck an. Die Frage berührte sie augenscheinlich unangenehm.

»Ach – er macht ja einen ganz tüchtigen Eindruck«, sagte sie gleichgültig.

»Ja, nicht wahr? Auch mir will es scheinen, als liege eine wohltuende Unmittelbarkeit . . . etwas kindlich Frisches über ihm – heutzutage wirklich eine Seltenheit. In unserer Zeit sind die jungen Menschen von zwanzig Jahren ja schon alte, lebensmüde Greise . . . Es freut mich wirklich, Ragnhild, daß er auch dir gefällt. Er ist ja doch von nun an unser täglicher Hausgenosse.

Die Brauen der jungen Dame zogen sich zusammen.

»Das wichtigste,« erwiderte sie kurz, »ist ja, ob er die rechten Gaben für seinen Beruf hat; das wird sich jetzt ja zeigen.«

»Freilich, freilich!« unterbrach sie der Propst und setzte seine Wanderung durch die Zimmer fort. »Darin stimme ich ganz mit dir überein – vollkommen! – – Hm! – – – Na ja!« unterbrach er sich selbst, indem er nach der Uhr sah: »Ich sehe, es ist schon spät geworden. Es wird wohl Zeit, daß ich an meine Arbeit komme.«

Er küßte seine Tochter zur Gutenacht auf die Stirn und ging in sein Zimmer.

Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, als die Tür zum Speisezimmer knarrte und das torfbraune Gesicht der alten hinkenden Magd sich in der Öffnung zeigte. Sobald sie sah, daß das Fräulein allein war, schlich sie in die Stube, wo sie sich etwas am Ofen zu schaffen machte, während sie beständig den Kopf umdrehte und Ragnhild mit einem verschlagenen und neugierigen Blicke betrachtete. Schließlich humpelte sie auf ihren Socken an den Tisch, wo das Fräulein saß.

»Na –« sagte sie mit flüsternder Stimme und kniff die Augen verschmitzt zusammen. »Wie finden Fräulein ihn denn?«

»Wen?« fragte Ragnhild, indem sie den Kopf erhob und die alte Magd fest ansah.

»Ih! Natürlich ihn – den Kaplan!«

Aus Fräulein Ragnhilds graublauen Augen fuhr ein Blitz, der einen artigen Donner verhieß. Aber sie besann sich gleich, bezwang ihren Zorn, bemühte sich sogar zu lächeln und antwortete schnell und gleichsam in herzlicher Ausgelassenheit:

»Ja, vielen Dank, liebe Lone! Er gefällt mir wirklich ganz ausgezeichnet. Ich bin schon ganz verliebt in ihn. Morgen verlobe ich mich mit ihm, und Donnerstag wollen wir Hochzeit halten. Und wenn du, liebe Lone, uns Sonntag in acht Tagen die Freude machen willst, zum Kindlbier zu kommen und unsern Erstgebornen über die Taufe zu halten, würden mein Mann und ich dir beide sehr dankbar sein. – Bist du nun zufrieden?«

Das alte Mädchen schob beleidigt ihren großen Unterkiefer vor und zog sich murmelnd nach der Tür zurück.

* * *

Währenddes hatte der junge Kaplan schon ein gutes Stück des Weges nach Skibberup zurückgelegt. Die Befangenheit, die ihn im ersten Augenblick bei der unerwarteten Zumutung des Propstes befallen hatte, war allmählich verschwunden. Er war guten Mutes und hatte sich in den großen Wagenstuhl zurückgesetzt, von wo aus er überrascht die weitgedehnte Winterlandschaft betrachtete. Die Luft war nach Sonnenuntergang völlig still geworden. Der Himmel war dunkelblau und mit Sternen übersät. Nur längs des westlichen Horizonts lag noch eine Erinnerung an das vorübergegangene Unwetter in Gestalt einer langgestreckten Wolkenbank, über der sich das goldene Horn des Mondes krümmte.

Auf den Kaplan wirkte dieser ganze Anblick fast wie eine Traumoffenbarung. Er war ein Stadtkind und kannte den Winter nur aus dem Kohlenrauch, dem Nebel und dem Schneeschlamm der Stadt. Noch vor anderthalb Tagen war er in dem zollhohen Schmutz der Kopenhagener Straßen umhergewandert, betäubt von dem Gerassel der Droschken, dem Klingeln der Straßenbahnen und den heiseren Rufen der Muschelverkäufer – und nun saß er hier in dem großen Bärenpelz des Propstes und glitt dahin durch ein Märchenland, durch ein luftiges Feenreich, in dem Bäume und Büsche über den Feldern aufragten, wie weiße oder bläuliche Korallen, während der Schlitten in einem lautlosen Wiegen dahinfuhr, als schwebe er auf langen weichen Schwingen.

Er war auf einmal stark bewegt. Das Bild seiner verstorbenen Mutter stieg vor seiner Seele auf und füllte seine Augen mit Tränen. Er wußte, es war ihr höchster Wunsch gewesen, diesen Tag zu erleben; und er fühlte es in diesem Augenblick stärker denn je, wie sie – nächst Gott – diejenige gewesen war, die ihm Mut gemacht hatte, dem Ruf als Verkünder des heiligen Wortes zu folgen . . . Jetzt nützte es seinem lieben Vater, dem Etatsrat, nicht mehr, den Kopf über seine »wilde« Idee zu schütteln. Die Würfel waren gefallen! Sein munterer Bruder, der Gardeleutnant, konnte jetzt auf der Straße gehen, ohne Furcht, ihm mit einem Hut zu begegnen, der gerade nicht nach der neuesten Mode war, oder mit einem Bekannten, der »nicht zur Gesellschaft gehörte«. Und seine gute, kleine Schwester, die Frau Generalkonsul, auch sie brauchte jetzt keine Tränen mehr zu vergießen über seinen Mangel an Gesellschaftston und an geschliffenen Manieren . . . Emanuel war abgereist, »der Seminarist« war weg, und er würde sicher nicht so bald zurückkehren.

Nein, er würde sicher nicht zurückkehren. Er ließ den Blick glücklich über die weitgedehnten, bläulich schimmernden Schneefelder schweifen, und er hatte ein Gefühl, als sei er aus einem finstern und tiefen Brunnen zu einem Lande aufgestiegen, das dem Himmel ganz nahe lag. Ringsumher auf den Feldern sah man kleine rötliche Lichter aus den erleuchteten Fenstern der Hütten schimmern, die im Schnee wie herabgefallene Sterne glitzerten. Über der ganzen Natur ruhte ein überirdischer Friede. Unter dem Himmelsbogen war kein anderer Laut hörbar, als die rostigen Schellen der Pferde; aber in der unendlichen Stille tönte dies Geläute mit einem tausendstimmigen Klang, als hinge die Luft voll von unsichtbaren Glocken.

Er faltete die Hände in seinem Schoß und versank in Gedanken . . . Hier also war jetzt seine Heimat! Über diese Felder sollte er wandern, in diese Hütten hinein sollte er eintreten, als der auserwählte Diener des Herrn! . . . O daß er doch würdig werden möchte der großen Aufgabe, die ihm anvertraut war! Daß er doch Gnade finden möchte, Segen zu verbreiten und Gottes Frieden zu bringen, wenn auch nur in ein einziges Armeleutestübchen!

Er war so erfüllt von diesen Gedanken, daß er gar nicht bemerkte, wie der junge Bursche, der sein Kutscher war, sich zu wiederholten Malen halb nach ihm umwandte, als wollte er ihn anreden, und sich dann wieder schnell in seinen großen Mantel niederduckte, als wenn er es doch nicht wagte. Plötzlich aber wurde er durch einen lauten, vielstimmigen Ruf geweckt. Der Schlitten war in einen Hohlweg hinabgeraten, wo sich der Schnee zu so mächtigen Schanzen aufgehäuft hatte, daß sich die Pferde Schritt für Schritt durch die ellenhohen Schneemauern bewegen mußten, die zu beiden Seiten aufgeschaufelt waren. Der Kutscher hielt augenblicklich die Pferde an, und im Schein des letzten Stückchen Mondes, das noch über die Wolkenbank im Westen hervorlugte, sah der Kaplan ungefähr 50 Ellen vor sich eine Schar Schneeschaufler in geschäftiger Arbeit. Ein wenig näher, nur 20 Schritte entfernt, stand eine andere Schar von Männern auf ihre Schaufeln gestützt; und diese Männer hatten den Schlitten angehalten, indem sie durcheinander riefen:

»Ihr müßt ein wenig warten . . . der Schnee ist hier gerutscht . . . In einem Augenblick ist die Bahn frei . . .«

»Wer seid Ihr übrigens?«

»Ich bin der Pfarrer!« rief der Kaplan, ein wenig verlegen, weil es das erstemal war, daß er seinen neuen Titel laut nannte.

»Wir sind auf dem Wege zu einem Kranken.«

Der Laut seiner Stimme veranlaßte die Männer, aufzusehen. Sie fingen an, die Köpfe zusammenzustecken, zu flüstern und lange Hälse zu machen.

Schließlich ging einer von ihnen an die Pferde heran, von wo aus er leise mit dem Kutscher sprach; und bald kam Bewegung in die ganze Schar. Zögernd näherte man sich dem Schlitten von beiden Seiten. Die meisten von den Männern waren kleine, gedrungene Gestalten, deren Augen wie Heringsschuppen in den roten Gesichtern schimmerten. Einige humpelten in großen Schneestiefeln herbei, andere hatten Holzschuhe und lange, weiße, wollene Strümpfe an, die außen über die Hosen gezogen waren und bis hoch über die Knie hinaufreichten. Der größte Teil trug große Pelzmützen mit Klappen über den Ohren, ein einzelner hatte einen Südwester auf.

Kaplan Hansted ward's ein wenig wunderbar zumute, als er sich plötzlich von dieser Schar neugierig starrender Fremder umringt sah. Er überlegte, ob er sie anreden solle. Es waren doch offenbar seine Pfarrkinder.

Da trat ein großer, bärtiger Mann aus der Schar vor – ein Hüne unter den andern zu schauen, und offenbar auch derjenige, der gewohnt war, das Wort unter ihnen zu führen. Mit seinen weißen, kräftigen Zähnen zog er einen großen Fausthandschuh von seiner rechten Hand und sagte darauf mit starker Stimme:

»Entschuldigen Sie . . . wir sind die Dorfleute aus Skibberup, und wir hören, daß Sie unser neuer Kaplan sein soll'n . . . und da müssen wir doch woll Erlaubnis haben, daß wir uns die Freiheit nehmen und Ihnen hier willkommen heißen. – Willkommen, Herr Pastor Hansted!«

Jetzt traten auch die andern hastig herzu – und ehe der Kaplan sich besinnen konnte, sah er sich umgeben von einem Dutzend großer, roter Fäuste, die ihm mit einem treuherzigen »Willkommen« entgegengehalten wurden.

Er wurde einen Augenblick ein wenig verwirrt. Er wollte gern etwas sagen und merkte auch, daß die Männer das erwarteten. Aber das Ganze war ihm so unerwartet gekommen; ihm wollte nichts weiter einfallen als wieder und wieder sein »Danke, danke« zu sagen, während er herzlich die dargereichten Hände drückte.

Im selben Augenblick wurde von den Schneeschauflern da vorne gerufen, daß der Weg fahrbar sei. Der Kutscher zog die Zügel an, und der Schlitten setzte sich in Bewegung.

Da fiel es ihm im letzten Augenblick ein, zu sagen:

»Adieu, Freunde! . . . habt Dank für euren Willkommengruß! Ich preise mich glücklich, solche Männer gefunden zu haben, die mir den Weg bahnen! Ich hege die Hoffnung, daß wir gut miteinander auskommen werden.«

»Das werden wir woll!« ertönte die Antwort aus vielen Mündern zurück.

»Und wir haben's nötig!« rief eine tiefe, drohende Stimme ganz hinten in der Schar, von beifälligem Murmeln begleitet.

Diese Worte, und namentlich der Ton, in dem sie geäußert wurden, machten den Kaplan stutzen. Was sie wohl eigentlich damit meinten? – dachte er, während der Schlitten wieder wiegend über den Schnee dahinflog. Da kamen ihm die Worte des Propstes von den Unruhstiftern in der Gemeinde ins Gedächtnis; und eine leise Melancholie befiel ihn. Also auch hier herrschte Streit und Zwietracht!

Bald darauf erreichte der Schlitten das Skibberuper Dorf. Beim Anblick der ersten Häuser fuhr er erschreckt in die Höhe . . . er hatte den kranken Mann unterwegs völlig vergessen und noch gar nicht überlegt, was er ihm sagen sollte. Aber er beruhigte sich bald. Die Begegnung mit den Schneeschauflern hatte ihn in dieser Hinsicht zuversichtlich gemacht. Er zweifelte nicht daran, daß ja der liebe Gott im entscheidenden Augenblick ihm die rechten Worte in den Mund legen werde.

* * *

Skibberup lag unten in einer Niederung, umgeben von einem Kranz mächtiger Hügel, die sich nur nach Osten, nach dem nahe gelegenen Fjord erschlossen. Das Erstaunen des Kaplans erregte sogleich die ungewöhnliche Menge kleiner Häuser und unansehnlicher Halbhufen, aus denen das Dorf in der Hauptsache bestand. Man sah kaum ein einziges wirklich großes Bauerngehöft; aber ringsum einen langgestreckten Dorfteich, der mitten in dem weißen Schnee den Sternenhimmel in seinem dunklen Wasser spiegelte, lagen wohl an fünfzig Hütten malerisch unter den Hügeln gruppiert, einige in die Abhänge selbst hineingegraben, wie ein Sennerdorf um einen Gebirgssee. Im übrigen war das Dorf halb unsichtbar gemacht durch die ungeheuren Schneemassen, die der Sturm aus dem Fjord hineingeführt hatte. Von mehreren Hütten ragten nur ein paar Stützbalken und ein rußgeschwärzter Schornstein auf. An einzelnen Stellen schimmerte noch Licht durch die Fenster. Auf einer Türfliese stand ein alter Mann mit einer Krücke und schwenkte munter seine Mütze, als der Kaplan vorüberfuhr.

Der Schlitten hielt vor einer Halbhufe, die ein wenig für sich am Rande des südlichen Dorfes lag. Die geteerten Torflügel waren geöffnet, und unter der Decke des Torwegs hing eine schläfrige Laterne und drehte sich langsam an einer Schnur herum. Unter dieser Laterne mußte der Kaplan absteigen; denn der Hofplatz war so mit Schnee angefüllt, daß der Schlitten nicht weiter kommen konnte. Auf einem schmalen Steig, der durch die Schneeschanze geschaufelt war, begab er sich nach dem niedrigen Wohnhaus hinauf. Überall herrschte Totenstille. Nur vom Stall her hörte man ein schwaches Rasseln von eisernen Ketten, und irgendwo hinter einer Mauer schlich eine Katze und miaute. Aber als er auf die Diele trat, hörte er, wie eine Tür da drinnen geöffnet wurde und eine gedämpfte Frauenstimme hastig sagte:

»Es war mir, als wenn ich die Schlittenglocken hörte . . . der Propst ist wohl hier!«

Er pochte an die Tür und befand sich einen Augenblick später in einer niedrigen und tiefen, altmodisch ausgestatteten Stube mit kleinen Fenstern, Balkendecke und dunklem Lehmboden.

Am Ende eines schweren eichenen Tisches stand ein dünnes Talglicht und brannte, und dort erhob sich bei seinem Eintreten ein kleiner, ältlicher Mann mit sturrer, graugesprenkelter Haarmähne und einer grünspanigen Messingbrille auf einer breiten Kartoffelnase. Der Mann hatte dagesessen und in einer Zeitung gelesen, die er nun – sichtlich verwirrt – eiligst unter dem Tisch versteckte; und als ihm, im selben Augenblick, seine Brille einfiel, riß er sie mit einer verlegenen Miene von den Augen, als sei er bei einer Narrheit ertappt. Als er sich dann aber dem vermeintlichen Propst nähern wollte, fuhr er plötzlich hintenüber vor Schrecken und starrte mit offenem Munde den fremden Mann an, der an der Tür stand und mit freundlicher Stimme guten Abend sagte.

»Werden Sie doch nicht bange!« fuhr der Kaplan fort und näherte sich. »Ich bin der Stellvertreter des Propstes – sein Kaplan – und komme auf seine Veranlassung zu Ihnen. –«

Im selben Augenblick öffnete sich die Tür zu dem Seitenzimmer, und ein schwerknochiges Frauenzimmer in mittleren Jahren mit stahlgrauem Haar und hellen, vorstehenden Augen trat ein. Auch sie blieb sofort in stummem Erstaunen stehen und maß einen Augenblick den fremden Geistlichen mit einem nicht gerade freundlichen Blick. Aber auf einmal huschte ein lichtes Lächeln über ihr Gesicht, und indem sie sich dem Kaplan ohne Verlegenheit näherte und ihm ihre fleischige Hand reichte, sagte sie mit einer eigentümlichen weichen und herzensguten Stimme:

»Es ist doch wohl nicht möglich, daß das unser neuer Kaplan is? . . . Na, denn soll'n Sie uns so recht von Herzen willkommen sein! . . . So was hab' ich mir denn doch nich träumen lassen! . . . Sie sind wirklich hierher gekommen? . . . Na, das is doch zu nett, das . . . Sie sind wirklich unser neuer Pastor? . . . Und so sehen Sie also aus! . . . Ja, so hatt' ich Sie mir auch grad' gedacht . . . Na, dies ist denn doch wirklich zu nett . . .«

Sie hatte sich in einiger Entfernung von ihm aufgestellt, beide Hände auf dem dicken Magen, und fuhr fort, ihre Ausrufe zu wiederholen, während sie ihn entzückt von Kopf zu Fuß betrachtete.

Der Kaplan, der sich schließlich durch diese Musterung ein wenig geniert fühlte, fing an, sich nach dem Befinden des Kranken zu erkundigen.

Sie aber konnte sich nicht von ihrer freudigen Überraschung erholen, oder sich von seinem Anblick losreißen. Erst als der Mann sie von hinten ein paarmal am Rock gezupft hatte, beantwortete sie die Frage des Kaplans.

»Danke für gütige Nachfrage«, sagte sie dann in verändertem Ton und sah nach der Tür hin, die sie nur angelehnt hatte. ». . . Nu hat es doch Gott sei Dank ein bißchen nachgelassen . . . aber so um Mittag sah es ja schlimm aus, und als dann das Wetter ein bißchen besser wurd', da meinten wir ja, es wär am besten, wenn wir nach'm Propst schicken täten . . . Aber am End' hätten wir es lieber nachlassen soll'n, denn nu is da, glaub' ich, keine Gefahr mehr . . . Und es is doch kein Pläsier für Herr Pastor, so zu nachtschlafender Zeit und in so'n Hundewetter über Land zu fahren . . .!«

»Ach, machen Sie sich deswegen keine Sorge«, unterbrach sie der Kaplan. »Mir tut dies nichts. Sie können mich rufen, wann Sie wollen, und ich werde immer bereit sein . . . Und wenn Sie meinen, und wenn bei dem Kranken alles bereit ist, wollen wir da nicht – –«

Die Frau öffnete vorsichtig die Tür zu dem Seitenzimmer, und alle drei traten leise in eine längliche, schwach erleuchtete Kammer, die eine Stufe niedriger lag als das Wohnzimmer. Am Kopfende eines breiten Bettes, das die eine kurze Wand einnahm, stand ein kleiner Tisch mit einer Nachtlampe, einer Medizinflasche und einem Gesangbuch. Im Bette lag ein braunhaariges, junges Mädchen mit schwergeschlossenen Lidern und einer dunklen Fieberröte auf den Wangen.

Der junge Geistliche wandte sich verwirrt um und rief aus:

»Aber – was ist denn das?«

»Das ist unsere Tochter«, antwortete die Frau und sah ihn verwundert an.

»Wieso? . . . aber der Propst sagte doch« – der Kaplan fing an zu stottern. Aus Scham wandte er dem Bett beständig den Rücken zu; denn das junge Mädchen lag nach Bauernart im bloßen Hemd und hatte in der Fieberhitze die beiden nackten Arme auf das Deckbett geworfen. »Es war doch ein älterer Mann, der krank war . . . der Propst sagte, es wäre . . . hieß er nicht Anders Jörgen?«

»Ich?« rief der Mann beim Klang seines Namens aus und sah mit seinen kleinen, halbblinden Augen verwirrt auf.

»Ich danke für gütige Nachfrage . . . aber ich bin sonst ganz gesund.«

»Aber dann muß das Ganze ja auf einem Mißverständnis beruhen.«

»Ja, das ist unsere Tochter Hansine«, fuhr die Frau eifrig fort und fing an zu erzählen, wie die Krankheit vor drei Tagen mit Schmerzen im Rücken und über den Lenden begonnen habe. Zu Anfang hatten sie nicht geglaubt, daß es etwas zu bedeuten habe, aber dann waren die Schmerzen in den Nacken hinaufgezogen, und letzte Nacht war die Tochter plötzlich so krank geworden, daß sie den Doktor hatten holen müssen. Der Doktor hatte den Kopf geschüttelt, und noch heute mittag hatte er gesagt, da könne allerlei aus werden . . . Aber nun glaubten sie doch, daß das Schlimmste überstanden sei.

Während dieses Berichts hatte der Kaplan Zeit gehabt, einigermaßen seine Fassung wiederzugewinnen. Er empfand sogar eine gewisse Beschämung über seine Verwirrung, und während er nun mit Gewalt alle seine Gedanken auf die heilige Handlung konzentrierte, die bevorstand, näherte er sich wieder dem Bette.

Im selben Augenblick erwachte die Kranke und schlug ein Paar dunkelblaue Augen auf, die sich in den Fieberphantasien mit einem starren verständnislosen Blick auf den fremden Mann richteten. Die Mutter beugte sich über sie herab und erzählte, wer er sei . . . und da stieß das junge Mädchen einen langen, gleichsam erleichterten Seufzer aus und schloß die Augen von neuem mit einem Ausdruck, als wolle sie sagen, daß sie sich gesehnt habe und bereit sei.

Die Mutter legte fürsorglich das Federbett um sie zurecht, nahm das Gesangbuch vom Tisch und setzte sich auf einen Stuhl am Kopfende, um ihr behilflich zu sein, wenn sie aus dem Kelch trinken sollte. Der alte Vater hatte sich andächtig am Fußende des Bettes aufgestellt, und im letzten Augenblick klemmte sich auch der junge, blondlockige Bursche durch die Tür, wo er an dem Pfosten gelehnt, stehen blieb, mit von unterdrückter Gemütsbewegung bebenden Lippen, während er mit runden Augen das Gnadenbrot und den kleinen silbernen Kelch anstarrte, den der Kaplan inzwischen aus dem Etui genommen und auf den Tisch unter die Lampe gestellt hatte.

Alles war still. Man hörte nur den Laut einer schwer tickenden Perpendikeluhr aus einer Ecke und die angestrengten Atemzüge der Kranken.

Der junge Pfarrer war an das Bett getreten und faltete die Hände zum Gebet.

Aber mochte nun der Anblick des jungen Mädchens schuld daran sein, oder die Gemütsbewegung, in die ihn die heilige Handlung versetzte . . . oder lag der Grund in dem plötzlichen Übergang aus der frischen Frostluft in die beklommene Krankenstube . . . er konnte keinen vernünftigen Satz in seinem Gehirn sammeln. Ein sonderbarer Schwindel ergriff ihn mehr und mehr, die Zunge wollte nicht reden, und er fühlte, wie der kalte Schweiß anfing, auf seiner Stirn zu perlen. Eine Todesangst befiel ihn . . .

Da fiel ihm ein kleiner Vers ein, ein Abendgebet, das seine Mutter ihn gelehrt hatte, als er ganz klein war. Viele Jahre war dieser Vers aus seiner Erinnerung ausgelöscht gewesen. Jetzt stieg er zu ihm herab, wie ein rettender Engel vom Himmel. Er hatte ein Gefühl, als stelle sich jemand ihm an die Seite und nehme ihn bei der Hand. Fast wie einen Fremden hörte er sich selbst, warm empfundene Worte von der Gnade des Herrn, von Gottes Allgüte, von Jesu Tod für die Sünde der Menschen reden. Selbst die bekannten Sätze des Rituals wurden gleichsam neu und lebend in seinem Munde, und als er schließlich die Hand auf die Stirne der Kranken legte, um ihr Vergebung der Sünden zu erteilen, fühlte er mit seiner ganzen bebenden Seele, daß sich Gottes allmächtiger Geist in diesem Augenblick durch ihn mitteilte.

* * *

In derselben Nacht saßen vier Menschen in des Dorfschulzen Jensen himmelblauer Staatsstube und spielten Karten. Es waren – außer dem Wirt – der Tierarzt der Gegend, Aggerbölle, der alte Schullehrer Mortensen und Kaufmann Villing, alle aus Vejlby.

Seit 10 Uhr des Vormittags hatten sie hier an demselben Tisch gesessen – ohne andere Unterbrechungen, als sie die Mahlzeiten erforderten. Jetzt war die Uhr drei geworden. Zweimal waren die Lichter in den Leuchtern niedergebrannt und viermal im Laufe des Abends war neues, heißes Grogwasser aus der Küche hereingebracht worden, aber noch schien niemand an Aufbruch zu denken, obwohl der fuselhaltige Kognak, der Dunst von dem rotglühenden Ofen und der dichte blaue Tabaksqualm, der sie einander halb unsichtbar machte, die Sprungfeder ihrer Leidenschaft merklich erschlafft hatten.

Es wurde kein überflüssiges Wort geredet. Halb mechanisch spielte man die Karten aus und nahm die Stiche ein. Selbst die scheckigen Augen des kleinen Kaufmanns Villing, die sonst überall geschäftig umherschweiften, um die Karten des Mitspielers auszuspionieren, hingen ihm starr und blutunterlaufen aus dem fetten Kopf, wie bei einer toten Flunder, und überhaupt wurde das Spiel nur fortgesetzt, weil ihnen allen sogar die nötige Willenskraft fehlte, um sich zu einem endgültigen Abschluß aufzuraffen.

Der einzige, der sich noch tapfer hielt, war der bejahrte Schullehrer Mortensen. Aber dieser Mann war nun auch »über einem L'hombretisch geboren«, wie es von ihm hieß. Von dem Augenblick an, wo er seine geräumigen Frackschöße ausbreitete, um seinen Platz einzunehmen, und bis man ihm klar und deutlich zu verstehen gab, daß das Spiel aus sein müsse und solle, saß der ehrwürdige Alte gleich aufrecht mit seinem silberweißen Haupt da und verbarg das Fieber, in das ihn der Anblick von Karten und Geld allemal versetzte, unter einer strengen, unbeweglichen, ernsthaften Maske; hin und wieder strich er sich mit einem roten, seidenen Taschentuch über die hohe Stirn, die in kritischen Augenblicken von Schweiß perlte; und wagte er ein seltenes Mal nach gewissenhaften Erwägungen eine »Frage«, so schloß er gleichzeitig die Augen, als füge er im stillen ein »In Jesu Namen« hinzu.

Zu seiner Rechten saß der Wirt, der Dorfschulze Jensen, und kämpfte verzweifelt mit dem Schlaf. Er war ein großer, dicker Bauer mit einem hochroten Gesicht, aus dem eine blaue Nase wie ein Kalekutenschnabel auf seinen Mund herabhing. Er war der »reiche Mann« der Gegend, und seine Haltung, wie auch seine Kleidung verrieten, daß er sich für etwas Besseres hielt als für einen gewöhnlichen Bauer. Von seinen Mitspielern wurde er auch gewöhnlich »Gutsbesitzer Jensen« oder »Herr Jensen« angeredet; und in seiner Freude hierüber und darüber, daß er dies standesgemäße Spiel »Lummer« gelernt hatte, erlaubte er ihnen ruhig, daß sie ihn rupften, ja, fühlte sich förmlich geschmeichelt durch ihr gieriges Werben um seine Geldstücke, und warf ihnen die Kronen mit einer muntern Miene hin, als füttere er eine Herde Schweine.

Dem Schullehrer gegenüber saß Tierarzt Aggerbölle – ein kräftiger, breitschulteriger Mann, mit starkem rotbraunem Haar und Bart, in den sich hier und da einige graue Büschel mischten. Er saß, die Hand unter dem Kopf, in finsteres, stumpfsinniges Grübeln versunken. Von Zeit zu Zeit fuhr er sich, zusammenschauernd, mit der Hand durch seine buschige Mähne und klopfte sich an die Stirn, während er bittere Flüche murmelte. Der Grog war ihm zu Kopf gestiegen, und er hatte heute abend kein Glück gehabt. Von den Silberlingen des Dorfschulzen hatte nur ein verschwindender Teil den Weg in seine Westentasche gefunden, – – und für Tierarzt Aggerbölle war Kartenspiel nicht wie für die andern ein angenehmer Zeitvertreib, sondern ein Kampf auf Tod und Leben um die Existenz.

Jeden Vormittag zog dieser hartbedrängte Mann in einem kleinen, vom Wege kotbespritzten Gig aus seinem Heim aus, feierlich erfüllt von einem Gelöbnis, das er jeden Morgen sich selbst und seiner Frau gab: daß er eine Rundreise zu allen seinen Patienten machen wolle. Aber selten kam er weiter als bis zu dem ersten Gehöft, wo Aussicht war, ein Spiel Karten zu machen und bares Geld zu verdienen. Sein Leben war eine ununterbrochene wilde Jagd nach einem oder zwei Zehnkronen-Scheinen, die er notwendigerweise vor Ablauf von 24 Stunden an den Schlachter, den Bäcker oder den Schuster bezahlen mußte; und da die Krankenbesuche ihm kein Geld in die Hand gaben, widerstand er nie der Versuchung, mit einem flotten Griff in den Beutel des Glücks zu versuchen, sich aus seiner Verlegenheit zu retten.

Plötzlich fingen Schullehrer Mortensens Stiefel an, unter dem Tisch zu knarren. Hinter den silbergrauen Brauen schielte sein ernsterfüllter Blick unruhig nach einer Untertasse mit 25 Örestücken – dem sogenannten »Solotopf« hinüber.

Einmal über das andere strich er sich mit dem Taschentuch über sein bleiches Antlitz, schloß endlich die Augen und sagte leise: »Solo!«

Das gab einen Ruck in den schlaftrunkenen Leibern. Der Tierarzt erhob seinen schweren Kopf und sah ihn mit verbissener Wut an.

»Welche Farbe?« brummte er.

»Treff«, sagte der Schullehrer in singendem Ton; er hatte seine Karten auf den Tisch gelegt und hielt beide Hände darüber mit derselben Miene, mit der er des Sonntags von der Tür des Chors aus sang.

Man kaufte schweigend. Der Tierarzt richtete sich kampfbereit auf, trank sein Glas aus und strich sich mit seiner behaarten Hand von unten über den Bart. Seine Augen waren rot wie die eines Stiers. Er wollte noch einmal einen Kampf mit dem Glück wagen. Wurde nämlich dies Solo gewonnen, so war das Spiel von selbst zu Ende und damit für ihn jede Hoffnung in dieser Nacht aus.

Mortensen hatte »drei Matadore, vier kleine« in Trumpf; außerdem König, Dame, drei in Coeur und zwei kleine Piques. Dazu war er in der Vorhand. Als vorsichtiger General hielt er seinen Coeurkönig zurück; nachdem er einen Matador gezogen hatte, sandte er erst die Dame ins Feuer.

Der Tierarzt, der Renonce war, ließ sich jedoch nicht hinters Licht führen.

»Das ist wohl ein Pharisäer!« brummte er und stach mit Trumpf.

Auf Schullehrer Mortensens Stirn fingen schon die ersten klaren Schweißtropfen an hervorzuperlen.

Der Tierarzt spielte einen kleinen Pique; der Kaufmann stach mit dem König; Mortensen mußte bedienen.

Aber nun kam Villing wieder mit Coeur; Mortensen bediente mit seinem König, der Tierarzt stach mit Trumpf und spielte Piquedame aus.

Mortensen, der gesehen hatte, daß Aggerbölle noch mit Trumpfkönig in der Hinterhand saß, begriff jetzt, daß er verloren war. Seine Stiefel hörten auf zu knarren, und sein Gesicht war weiß wie eine Gipsmaske.

Da ließ er unbemerkt den kleinen Pique, mit dem er bedienen mußte, auf den Schoß fallen und von da zwischen den Knien an die Erde gleiten, wo er leise den Fuß daraufsetzte. Dann stach er die Dame mit einem kleinen Trumpf; hierauf warf er seine beiden Matadore und sein drei in Coeur so schnell hintereinander auf den Tisch, daß es ihm möglich ward, unbemerkt die fehlende Karte mit einer andern aus seinen eingenommenen Stichen zu ersetzen: und in der allgemeinen Benebeltheit beachtete es niemand, daß eine Trumpf-Sechs aus seinem zweiten Stich noch einmal in dem letzten fungierte.

Schullehrer Mortensen gewann zur allgemeinen Überraschung sein Solo, und das Spiel fand endlich seinen Abschluß.

Im selben Augenblick schlug auch die feuervergoldete Uhr oben auf der Chiffonniere vier kleine, gewöhnliche Schläge. Mit einem frommen Lächeln sammelte Mortensen seine gewissenhaft aufgestapelten Geldstücke und steckte sie in eine altmodische Lederbörse, die er dann auf dem Grunde seiner ellentiefen Hosentasche verwahrte, indem er sorglich darüber zuknöpfte.

In der Tür zu dem Nebenzimmer erschien plötzlich die kleine verwachsene Frau des Wirtes, die in einen großen, wollenen Schal gehüllt, dadrinnen am Ofen gesessen und geschlafen hatte. Mit kaum hörbarer Stimme, die vornehm klingen sollte, und einer ungeschickten Bewegung ihrer welken Hand lud sie die Herren zu »einer kleinen Erfrischung« ein. Gleichzeitig erhob sich auch der Dorfschulze und wiederholte in seiner lärmenden Weise die Einladung.

»Ja, bitte, meine Herren! Eine kleine Erfrischung, meine Herren! . . . Es wird gut tun, ein wenig in den Leib zu kriegen nach dieser Strapaze!«

Diese kleine Erfrischung, die im Nebenzimmer angerichtet war, entpuppte sich als vollständig gedeckter Tisch mit Schweinesülze, Schweinsbraten, Schmorwurst, Spiegeleiern, Leberpastete, verschiedenen geräucherten Sachen außer – als Vorgericht – einem warmen Beefsteak mit Zwiebeln; dazu Branntwein und bayrisch Bier im Überfluß. Obwohl die Gäste im Laufe des Tages und der Nacht vier solide Mahlzeiten an demselben Tisch eingenommen hatten, setzten sie sich doch gutwillig um die Anrichtung und erleichterten allmählich ganz gehörig sowohl die Branntweinflasche, wie auch die wohlgefüllten Schüsseln. Hinterher wurde Kaffee und Kognak gereicht.

Mitten während der Mahlzeit stieß Tierarzt Aggerbölle einen schrecklichen Fluch aus und setzte sein eben geleertes Schnapsglas so hart auf den Tisch, daß der Fuß abbrach. Ihm war plötzlich eine kranke Kuh in einem der benachbarten Dörfer eingefallen, nach der sich umzusehen er versprochen hatte; – er war gerade auf dem Wege dahin gewesen, als er heute morgen unglücklicherweise hier bei dem Dorfschulzen vorgesprochen hatte. Dieser hatte sogleich vorgeschlagen, zum Schullehrer und zum Kaufmann zu schicken, um eine kleine Partie Karten zu machen; und da Aggerbölle gerade in großer Verlegenheit um einige Kronen zur Bezahlung einer Bäckerrechnung war, ließ er sich schnell überreden, zu bleiben, in der Hoffnung, im Laufe von wenigen Stunden gewinnen zu können, was er gebrauchte. Während des Spiels war ihm dann die kranke Kuh wie alles andere auf der Welt aus dem Gedächtnis entschwunden.

Er versank nun in einen Zustand völliger Stumpfheit. Ohne es selbst zu wissen, leerte er ein Glas nach dem anderen und fiel schließlich mit offenem Munde hintenüber auf seinen Stuhl, wo er erst erwachte, als der kleine Kaufmann Villing die Hand auf seine Schulter legte und sagte:

»Kommen Sie jetzt, Aggerbölle . . . die Uhr ist fünf!«

* * *

Als Schullehrer Mortensen daheim in seinem weichen Daunenbett lag, faltete er die Hände über dem Deckbett und betete sein Vaterunser. Neben ihm lag seine Frau und drehte ihren großen, schweren Körper im Halbschlaf herum, so daß der Boden des Bettes unter ihr krachte.

Endlich war sie so weit wach, daß sie mit näselnder Stimme fragen konnte:

»Hast du was gewonnen, Mortensen?«

Mortensen betete unbeirrt sein Vaterunser zu Ende und antwortete darauf:

»Zwölf Kronen, meine Liebe!« – worauf er sanft und friedlich entschlummerte.

Währenddes war auch Kaufmann Villing daheim in seinem Laden angelangt, der ungefähr mitten im Dorf in der Nähe des Teiches lag. Er war halb im Schlaf den Weg entlang gegangen, aber als er nun in den Laden trat und den gewohnten gemischten Duft von Seife, Rosinen, Kaffee und Kautabak einatmete, machte dieser ihn aber sofort ganz wach. Er blieb einen Augenblick mit gespitzten Ohren im Dunkeln stehen, um dem ruhigen Schnarchen zu lauschen, das aus einem kleinen Alkoven hinter dem Kramladen, wo der Ladenjunge schlief, ertönte. Dann zündete er einen Lichtstummel an, der auf dem Ladentisch stand und auf ihn wartete, zählte lautlos das Wechselgeld in der Geldschublade nach, untersuchte die hinterlistig vor den Zwetschen- und Rosinenschubladen angebrachten Papierzeichen, guckte durch die Bodenluke und hielt das Licht in den Kellerraum hinab. Erst nachdem er sich auf diese Weise vergewissert hatte, daß sich nichts Verdächtiges vorfand, begab er sich in die Schlafkammer.

Hier richtete sich seine junge Frau im Bett auf, rieb sich die Augen und fing sogleich einen umständlichen Bericht über alles an, was sich im Laufe des Tages im Laden zugetragen hatte: von dem Müller, der mit Grütze dagewesen war, von Hans Jensen, der einen Anker Branntwein gekauft, von dem alten Schneider Sören, dem sie ein Pfund Kandis auf Borg gegeben hatte usw. Sie war eine kleine mollige Person mit einem runden und rotwangigen Kindergesicht, das von einer großen Altweiber-Nachthaube eingerahmt war.

Villing entkleidete sich indessen schnell und gab von Zeit zu Zeit hörbar seinen Beifall zu erkennen. »Gut . . . sehr gut, liebe Sine . . . ganz recht, kleiner Schatz«, schob er ununterbrochen ein, während er in Unterhosen und auf Socken im Zimmer umhersprang, als sei er auf Jagd nach seinem eigenen Schatten, der bald wie eine Kröte in einer Ecke zusammenkroch, sich bald wie ein Gespenst an den niedrigen Wänden der kleinen Kammer hinaufstreckte.

Dann kroch er ins Bett. Aber noch lange, nachdem das Licht schon gelöscht war, fuhren Mann und Frau unter dem Federbett fort, über Kaffeepreise, Mehl und Kredit zu schwatzen. Selbst in ihren allerzärtlichsten Augenblicken konnten diese beiden vernünftigen Menschen ihren Laden und ihr Geschäft nicht aus den Gedanken lassen. Sie umfingen einander gleichsam mit hoffnungsvollen Berechnungen über Einnahme und Verdienst, ihre Küsse waren Besiegelungen von wohlgelungenen Geschäften; und wenn sie schließlich einschliefen und ihre runden Köpfe nebeneinander auf dem Kissen lagen, mit halbgeöffneten Mündern wie zwei Sparbüchsen, füllten sich ihre Träume mit schönen Bildern von langen Zahlenreihen, großen Warenlagern und gewichtigen Kassenbüchern.

Tierarzt Aggerbölle war derjenige von den drei nächtlichen Wanderern, der am weitesten bis nach Hause hatte.

Er bewohnte ein verfallenes Haus, eine Viertelmeile von dem Dorf auf dem Wege nach der Küste. In längst entschwundenen Zeiten – vor fünfzehn Jahren, als er mit seiner jungen Frau hierher in die Gegend gezogen war – hatte er absichtlich dies entlegene Haus gewählt, um hier in romantischer Einsamkeit sein Liebesglück zu genießen. Aus den Fenstern war eine weite Aussicht über den Fjord und den Strand, und an manchem stillen Frühlingsabend und in mancher mondhellen Herbstnacht hatte das junge Ehepaar hier Arm in Arm und Wang' an Wange zwischen den stillen Hügeln geschwärmt, während die Herzen vor Wonne und sommerlichter Hoffnung pochten.

Jetzt verfluchte er manch liebes Mal den weiten Weg, wenn er in dunklen Nächten – wirr vom Spiel und Trunk – zu Fuß durch Nässe und Schnee heimwärts taumelte. Sein Gig pflegte nämlich die Nacht über dort stehen zu bleiben, wo er im Laufe des Tages gestrandet war, da er in der Regel um die Heimfahrtszeit in einer solchen Verfassung war, daß man ihm die Lenkung eines Pferdes nicht anvertrauen konnte. Auch in dieser Nacht hatte ihm der Dorfschulze sein Fuhrwerk nicht ausliefern wollen, obwohl die Luft infolge des Schnees hell und der Weg fast bis zu seiner Wohnung freigeschaufelt war. Aber Aggerbölle ging auch gar nicht auf dem Wege entlang. In großen Bogen schlingerte er über die Felder hin, bis über die großen Kniestiefel im Schnee, blieb jeden Augenblick mit lauter Wehklage stehen, schlug sich mit der geballten Hand vor die Stirn und murmelte Flüche gegen sich und die ganze Welt. Nie – fand er – war das Schicksal so hart gegen ihn gewesen wie gerade heute! Nie – fand er – hatte er seine Frau und seine Kinder so herzzerreißend geliebt, wie gerade jetzt, wo ihm alle Wege versperrt waren! Morgen würde der Bäcker zum drittenmal mit seiner Rechnung kommen. Schon das letztemal hatte er ihm mit dem Gerichtsvollzieher und Pfändung gedroht. Wo sollte er jetzt nur einen Ausweg finden? Er besaß ja kaum mehr einen Strick, um sich zu erhängen! Ach, Sophie, Sophie! . . . Er blieb abermals in einer großen Schneewehe stehen, knüpfte seinen Rock auf, griff mit seinen steifgefrorenen Fingern in seine Westentasche und nahm das kleine Geld heraus, das den Spielgewinst des Abends ausmachte und legte es in seine hohle Hand. Auf schwankenden Beinen stand er da und zählte es sehr genau nach. Dann stieß er wieder eine Reihe schrecklicher Flüche aus, erhob die Arme gen Himmel und schlingerte weiter.

Als er endlich sein Heim erreicht und die Pforte in dem halb niedergetretenen Gitterzaun gefunden hatte, machten Furcht und Scham ihn einen Augenblick ganz nüchtern. Auf der Diele zog er vorsichtig seine langen Schaftstiefel von den Füßen, worauf er auf Socken in das Schlafzimmer schlich. In dem kleinen, niedrigen Raum, der mit Kinderbetten angefüllt war, brannte auf einem Stuhl vor dem Bette seiner Frau eine herabgeschrobene Nachtlampe.

Ein Seufzer der Erleichterung durchfuhr ihn. Die Augen seiner Frau waren geschlossen, ihre magere Hand lag leicht gekrümmt unter der verblaßten Wange; sie schien fest zu schlafen. Aber kaum hatte er angefangen, sich zu entkleiden, als er sie den Kopf auf den Kissen bewegen hörte; er sah dorthin und begegnete dem Blick ihrer großen, dunklen Augen, deren blanker Glanz ihm deutlicher als Worte erzählte, daß auch ihr die Nacht keinen Schlaf gebracht hatte.

»Guten – guten Abend, liebe So – phie!« hickste er liebevoll und stützte sich gegen den Bettpfosten.

»Guten Morgen!« antwortete sie ruhig.

»Hm – na ja –«, sagte er mit einem Anlauf zu einem frischen Lachen. »Es ist freilich ein wenig spät geworden – oder früh, hä! . . . Aber dieser Mortensen, weißt du . . . ein reiner Hund am Spieltisch . . . ein reiner Hund!«

Sie antwortete ihm nicht, schloß nur die Augen wieder schwer, öffnete sie abermals und sagte:

»Da war ein reitender Bote von Anders Jensen in Egedet. Du hattest ja versprochen, dich nach der kranken Kuh umzusehen.«

»Ich?« rief er aus, flammend rot und bemühte sich, ihr fest in die Augen zu sehen. »Davon weiß ich nichts . . . das muß ein Irrtum sein!«

Unbeirrt fuhr sie fort:

»Der Bote sollte nur den Bescheid bringen, daß es jetzt nichts mehr nützte, denn die Kuh wäre tot. Aber du solltest dir auch nur in Zukunft nicht die Mühe machen, dich da sehen zu lassen, fügte er hinzu.«

Tierarzt Aggerbölle verstummte. Mit bebenden Lippen und blau angeschwollenen Stirnadern stand er gegen den Bettpfosten gelehnt und sah vernichtet zu Boden. Auf einmal richtete er sich mit einer frierenden Bewegung auf, fuhr sich mit der Hand durch das buschige Haar, ging dann festen Schrittes auf seine Frau zu und hielt ihr die rechte Hand hin.

»Hier hast du meine Hand darauf, Sophie, es ist diese Nacht das letztemal, daß ich ein Spiel Karten angerührt habe . . . diesmal kannst du dich auf mich verlassen . . . Ich schwöre dir, daß ich vom heutigen Tage an ein anderer Mensch werden will . . . hörst du, Sophie . . . Du sollst dich auf mich verlassen . . . Du sollst dich diesmal auf mich verlassen«, wiederholte er einmal über das andere, während die Tränen sich hervordrängten. »Ich schwöre dir . . . es soll auch alles wieder gut werden. Und ich will es dir vergelten, Sophie – ich will dir all die bösen Tage vergelten . . . Alles, was du um meinetwillen gelitten hast . . . um der Kinder willen . . . um – – ach Gott, ach Gott!«

Der Rausch hatte ihn wieder übermannt. Er sank neben dem Bett seiner Frau nieder und begrub die Hände und den Kopf in den Kissen wie ein Kind, während ein entsetzliches Schluchzen seinen starken Körper erbeben machte.

Sie lag einen Augenblick ganz still mit festgeschlossenen Augen. Dann hob sie ihre matte Hand von den Kissen und ließ sie über sein Haar gleiten; sie konnte es nicht lassen, obwohl sie mehr als hundertmal dasselbe herzzerreißende Weinen der Reue gehört und sich von denselben heiligen Versprechungen hatte täuschen lassen. Und schließlich füllten sich auch ihre Augen mit Tränen, und, indem sie die beiden Hände um seinen großen Kopf legte, preßte sie ihn an ihre eingefallene Brust und flüsterte über ihm:

»Mein armer – armer Bernhard!«



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