Henrik Pontoppidan
Das gelobte Land
Henrik Pontoppidan

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Buch.
Der Tag des Gerichts

Erster Teil

In strömendem Regen kam eine alte Kalesche oben auf dem neuen Stationsweg von Sandinge angefahren. Es war ein Tag zu Anfang Juli, aber der Himmel war schwarz und niedrig, wie zur Novemberzeit. Das Wasser stürzte herab. Es war ein vollständiger Wolkenbruch. Oben auf dem gewölbten Lederhimmel der Kalesche hatte sich ein ganzer See angesammelt, der unter den unregelmäßigen Bewegungen des Wagens hin und her schwabbelte. Überall auf der betagten Kutsche, von den zwei Koffern an, die hinten festgebunden waren, bis zu dem großen Regenschirm, unter dem eine Frauensperson oben auf dem Bock neben dem Kutscher zusammenkroch, rann das Wasser in reißenden Strömen; es war ein jammervoller Anblick.

Wenn wenigstens noch etwas Fahrt in dem Fuhrwerk gewesen wäre! Aber so wie es sich in seinem Schneckengang vorwärtsbewegte, von ein paar kleinen knochenmageren Pferden gezogen, und gewissenhaft seine Räder in dem breiartigen Morast des Weges herummahlte, machte es den Eindruck, als sei ihm die Aufgabe zuerteilt, jedem des Weges Daherkommenden anschaulich zu machen, wie abscheulich das Wetter war, wie trostlos sich die ganze Gegend mit ihren einförmigen Ackerscheiden und kahlen Hügeln bis an den Horizont erstreckte. Man mußte unwillkürlich die Vorstellung gewinnen, daß unter dem schwarzen Kaleschenhimmel irgendein lebergelber Hypochonder mit eingesunkenen Augen sitze und stumpfsinnig in den Regen hinausstarre, ohne Energie, den Kutscher anzutreiben, aber auch ohne irgendwelche Ungeduld in bezug auf seinen nächsten Bestimmungsort, wo seiner keine Freude harrte.

Da guckte ein rotwangiges Kindergesicht lächelnd über das Knieleder der Kalesche hervor . . . und nach einer Weile kam noch eins, und dazu eine kleine rundliche Hand, die mit ausgespreizten Fingern die herabfallenden Regentropfen aufzufangen suchte. Es war, als sähe man plötzlich Engelsköpfe aus einem Sarge auftauchen, die hellblauen Augen strahlten; und bei jedem Haus, an dem der Wagen vorüberfuhr, bei jedem Paar Schafe, das am Wegesrand stand und weidete, brachen die beiden Kleinen in laute Rufe des Entzückens aus.

Da wandte die größte sich auf einmal um und rief eifrig:

»Vater . . . Tante! . . . Seht doch!«

Der Weg hatte eine Biegung gemacht und sich gleichzeitig gesenkt, wodurch sich die Aussicht auf ein weit ausgedehntes Wiesenland erschloß, das – flach wie ein Gewässer – sich zwischen unfruchtbaren Hügelhängen ausbreitete. Da draußen, mitten auf der grünen Fläche, sah man durch den Regenschleier das Dorf Sandinge mit großen, gelbgekalkten Bauernhöfen und einer alten Kirche aus Strandsteinen. Nicht weit davon entfernt ragten die roten Mauern der berühmten Hochschule der Gegend auf. Der ausgedehnte Gebäudekomplex machte wirklich einen imponierenden Eindruck und rief in dem Beschauer den Gedanken an eine größere Staats- oder Regierungsanstalt wach, was die Schule gewissermaßen jetzt auch geworden war.

Es war gerade um die Mittagsstunde. Aus allen Schornsteinen des Dorfes senkte sich ein bräunlicher Torfrauch schwer auf die Strohdächer herab, und ringsumher hörte man die Hähne die Hühner an die Küchentüren rufen. Als die Kalesche durch die Dorfstraße humpelte, war nicht ein Mensch zu sehen; das ganze Dorf war wie ausgestorben. Nur von der volkstümlichen Freischule her hörte man die Kinder unter Anführung des wollüstig tremulierenden Basses des Lehrers aus vollem Halse singen.

Während der Wagen dort vorüberfuhr, trat Freischullehrer Povelsen in höchsteigener Person in die Haustür, die von seiner umfangreichen Gestalt fast ganz ausgefüllt wurde. Das offene Gesangbuch in der Hand, und ohne die Leitung des Gesanges zu unterbrechen, starrte er unverwandt dem Fuhrwerk nach, bis es im Regennebel verschwand.

»Wer war das, Jörgen Hansen?« fragte er einen kleinen fetten Bauersmann, der währenddes drüben auf der anderen Seite der Straße in einer Scheunentür erschienen war.

Jörgen Hansen ließ sich gute Zeit, sorgfältig seinen Pfeifenkopf zu reinigen, ehe er antwortete. Dann sagte er sehr bedächtig und mit einer Innigkeit, als handle es sich um ein anvertrautes Herzensgeheimnis:

»Ja, kuck, das weiß ich wahrhaftigen Gott nich, Povelsen, wahrhaftigen Gott, ich weiß es nich. Aber sonst waren es ja Ole Olsens Biester von da oben aus 'n Dorf.«

»Ja, das meint ich ja auch. Aber es war den Krugwirt seinen neuen Wagen. Aber wer war es, der da in saß?«

»Ja, kuck, das kann ich wahrhaftigen Gott nich sagen, Povelsen . . . ne, das kann ich nich. Am Ende waren es welche von diese Bademenschen, die sie da unten kriegen soll'n.«

»Das is sehr wahrscheinlich, ja. Es kamen ja neulich auch schon welche. Na! . . . Jesu deine tiefen Wunden!«

Der Lehrer stimmte wieder in den Gesang der Kinder ein und kehrte nach der Schulstube zurück.

Währenddes humpelte die alte Karosse weiter gen Norden den ganz flachen Landweg dahin, der in einer gewundenen Linie an dem Ufer eines kleinen, die Wiesenlandschaft durchströmenden Baches entlang lief. Überall standen lange gerade Reihen von rotscheckigen Kühen, die in vollkommener Unbeweglichkeit mit gesenkten Köpfen und halbgeschlossenen Augen geduldig ihren gekrümmten Rücken dem herabstürzenden Regen zuwendeten. Aber allmählich kam der Wagen an mageren Boden, wo struppiges Jungvieh zwischen allzu vielen und allzu bunten Blumen weidete. Schreiende Möwen kreisten in der Luft und verrieten die Nähe des Meeres, und bald tauchte auch der weiße Strand auf. Man sah eine Reihe kleiner Fischerhütten, ein paar Bauernhöfe und einen ziegelgedeckten Krug – »Dorf Sandinge«.

Dieser Ort hatte in den letzten Jahren eine gewisse Berühmtheit erlangt . . . wenigstens in den Zeitungen. Nachdem nämlich die Eisenbahn der bisher ziemlich entlegenen Gegend eine verhältnismäßig bequeme Verbindung mit dem übrigen Lande und namentlich mit der Hauptstadt eröffnet hatte, war der Krugwirt des Ortes von dem Ehrgeiz gepackt, dem Dorfe einen Ruhm als Badeort zu verschaffen. Jeden Frühling hatten in die Augen fallende Bekanntmachungen in den Zeitungen die Aufmerksamkeit eines hochgeehrten Badepublikums auf diesen »Kurort ersten Ranges« hingelenkt und auf seine »wildromantische Naturumgebung«; und wirklich war es während der letzten Sommer gelungen, ein Dutzend schwärmerischer Kopenhagener herbeizulocken, die sich am Strande herumtrieben und sich regelmäßig jeden Abend weit draußen am Rande der See aufstellten, um andachtsvoll das Versinken der Sonne in das Meer anzustarren.

Jedoch nicht nach dem Kruge – dem Hotel »Kattegatt«, wie er jetzt getauft war – lenkte die alte Kalesche ihren Kurs. Bei der Einfahrt ins Dorf bog sie nach links ab, auf einen großen und schön gehaltenen Bauernhof zu, der ein wenig außerhalb des eigentlichen Dorfes lag. Eine eben gehißte Flagge gab zu erkennen, daß hier die Gäste erwartet wurden.

* * *

In derselben regnerischen Mittagsstunde wurde in »Sandingehus«, einer malerischen, in nordischem Stil erbauten Balkenvilla, die unter dem Abhang des Hügels, nicht weit von der Hochschule entfernt lag, eine große Versammlung abgehalten. Hier residierte zurzeit die bekannte vermögende Witwe Lene Gylling, die in der Regel während des Sommers ihren volkstümlichen Hof aus der Hauptstadt hierher verlegte, um in der Nähe der Wirksamkeit zu sein, die sich mehr als jede andere ihres Schutzes erfreuen konnte.

In der geräumigen Gartenstube, von wo aus eine Flügeltür nach draußen offen stand, waren wohl an fünfzig Menschen versammelt. Es waren zum Teil fremde Reisende von der Art, wie man sie hier beständig als Gäste der Hochschule antreffen konnte: lebhafte Geistliche mit ihren volkstümlich gekleideten Frauen, ernste langbärtige Dorfschullehrer und rundrückige Bauernstudenten mit skrofulös-bleichen Gesichtern und roten Augen. Übrigens sah man auch ein paar von den eigenen Lehrern der Hochschule und von den wohlhabenden Bauern mit ihren Frauen. Es war wie gewöhnlich ein Vormittagsvortrag in der Schule gehalten, und es hatte sich nun einmal die Sitte eingebürgert – auf die Frau Gylling so viel Wert legte – daß man sich nach dem Vortrag in »Sandingehus« versammelte, um die Mittagsstunde mit vertraulichem Freundesgeplauder bei einer Pfeife Tabak zuzubringen.

Dies »Freundesgeplauder« artete jedoch fast immer in eine erregte Debatte über die verschiedenen sozialen, politischen und religiösen Fragen des Tages aus. Es war diesen Menschen allmählich geradezu ein Lebensbedürfnis geworden, zu diskutieren, Lebensanschauungen zu entwickeln und sich prophetisch in die Zukunft zu verlieren. Namentlich die religiösen Themata waren wieder auf die Tagesordnung gekommen, nachdem sie mehrere Jahre von der alles verschlingenden Politik verdrängt gewesen waren. Überall hatten die christlichen Freunde der Volkssache – getäuscht in ihrer Hoffnung auf das nahe bevorstehende Kommen des irdischen Friedens- und Gerechtigkeitsreiches – mit verstärktem Eifer Sinn und Gedanken dem Jenseitigen zugewandt.

Die Versammlung, die heute die Gemüter in Bewegung setzte, drehte sich denn auch ausschließlich um die starken religiösen Kämpfe und namentlich beschäftigte man sich mit dem Plan zu einer großen Versammlung, die hier auf der Hochschule unmittelbar nach der Ernte abgehalten werden sollte, und zu der sich die volkstümlichen Anhänger der Kirche aus dem ganzen Lande zu gegenseitiger Erbauung und Bestärkung im Glauben versammeln wollten.

Das Verlangen nach einer solchen Wiederaufnahme der früheren allgemeinen Freundesversammlungen war in diesen Kreisen lange lebhaft gewesen. Es ließ sich nämlich nicht länger verhehlen, daß die freisinnig-religiöse Gemeinschaft in letzter Zeit in bedenklichem Maße ihren ehemaligen Einfluß auf die Bevölkerung verloren hatte. Die großen Häuptlinge der Partei waren alle gestorben, auch die bedeutenderen Führer von den verschiedenen Orten waren – sowie hier in Sandinge – allmählich davongegangen. Gleichzeitig war ein mittelalterliches Gespenst, der finstere Pietismus, mit ungeahnter Macht erstanden. Ein Landstrich nach dem anderen hatte sich – oft fast ohne Widerstand – den Höllenpredigern in die Gewalt gegeben. Es war, als ob die Reihe politischer Demütigungen, die die Bevölkerung erlitten, die Sinne gelähmt und sie zu einer leichten Beute, auch des geistigen Feuer- und Schwertregiments, gemacht hätte.

Es war daher allmählich eine gewisse Ungeduld in dem Lager der Freundesgemeinschaft entstanden. Man forderte mit wachsendem Nachdruck, daß »etwas geschehen solle«. Es hatten sich sogar ketzerische Stimmen für die Ansicht erhoben, daß die bisher von der Gemeinschaft verfochtene Auffassung des Christentums an gewissen Mängeln litt, daß sie, offen gestanden, nicht mehr dem entsprach, was ein moderner Mensch forderte. Alle Wort- und Federführer der Parteien waren in letzter Zeit mausegeschäftig gewesen, die Lebensansicht einer kritischen Revision zu unterwerfen, und im ganzen Lande wartete die bedrängte Gemeinde in wachsender Bekümmernis auf das erlösende Wort, das endlich die Macht der kirchlichen Reaktion brechen und der freien und lichten und frohen Verkündigung des Christentums die verlorene Herrschaft über die Gemüter wiedergeben sollte.

Gerade mit diesen Verhältnissen vor Augen hatte man die Einladung zu der erwähnten Freundesversammlung ergehen lassen, auf der die verschiedenen Anschauungen zu Worte kommen und die Entscheidung in bezug auf ein geschlossenes Auftreten den gemeinsamen Gegnern gegenüber getroffen werden konnte. Mehrere von den heute anwesenden Fremden hatten sich ausdrücklich eingefunden, um Gelegenheit zu haben, auf die Bestimmungen über die Verhandlungsthemata, die Vortragenden usw. Einfluß zu gewinnen.

Unter diesen Fremden befand sich ein hochgewachsener, bartloser Mann in den Vierzigern, um den sich der größte Teil der Gesellschaft allmählich scharte. Es war der in den letzten Jahren viel besprochene Freigemeindeprediger Wilhelm Pram, zu dem namentlich die Jüngeren wie zu einem Führer und Erneuerer aufzusehen begonnen hatten. Die Berühmtheit dieses Mannes stammte ursprünglich daher, daß er auf einer großen Kirchenversammlung, wo Bischöfe und Pröpste zugegen waren, kühn mit dem Bekenntnis vorgetreten war, daß man nach dem Erscheinen der neuesten, unumstößlichen Bibelkritik nicht mehr in Wahrheit von einer direkten göttlichen Offenbarung reden könne, sondern ausschließlich darauf angewiesen sei, Kenntnis über Christus und das Christentum in dem Zeugnis der lebenden Gemeinde zu suchen. Daß man daher auch nicht einmal das Recht habe, seine Gedanken und seine Vernunft von der Autorität der heiligen Schrift knechten zu lassen, sondern daß man die Bibel wie jedes andere Erbauungsbuch betrachten müsse, dessen Vorstellungen man verwerfen und sich aneignen könne, je nachdem sie den persönlichen Bedarf befriedigten. Diese Äußerungen hatten im ersten Augenblick einschüchternd selbst auf diejenigen gewirkt, die am aller eifrigsten nach einer zeitgemäßen Entwicklung der kirchlichen Anschauung der Freundesgemeinde geschrien hatten. Aber die Sache nahm eine andere Wendung, als die Kirchenautoritäten die Rede als Anlaß zu der Verabschiedung Wilhelm Prams aus seinem Amt in der Staatskirche benutzten. Hierdurch erlangte er das Martyrium, das bald ihn und seine Lehre populär machte. Ein Kreis von aufgeklärten Bauern in einer butterfetten laaländischen Gegend erwählte ihn zu ihrem Privatseelsorger, und er selber fuhr fort, in feuriger Rede und Schrift seine Anschauungen zu verfechten und sie als das neue Lichtwort hinzustellen, das endlich und entscheidend das eiserne Joch des toten Buchstabenglaubens zersprengen und gleichzeitig dem zunehmenden Abfall der aufgeklärten Klassen von der ewigen Wahrheit des Christentums Einhalt gebieten sollte.

Dies Ereignis – und nicht zum mindesten der glückliche Ausgang, den es für Wilhelm Pram nahm – hatte dazu beigetragen, daß auch andere von den vorwärtsstrebenden Männern der Partei Mut bekamen, sich von dem drückenden Dogmenglauben loszusagen. Man hatte eine Zeitlang förmlich gewetteifert, neue, lebenserweckende Wahrheiten vorzubringen. So hatte ein gewisser Pastor Magensen, der heute auch hier war – ein kleiner blauäugiger Mann mit blonden Engelslocken – kürzlich eine Aufsehen erregende Schrift »Weg mit den Höllenstrafen!« herausgegeben, in der er mit gründlicher Gelehrsamkeit und Herzenswärme nachgewiesen hatte, daß der Glaube an einen persönlichen Teufel und eine ewige Verdammnis sowohl mit unserer Vorstellung von Gottes Allgüte, wie mit den neuesten sprachlichen Ergebnissen der Bibelübersetzer in Widerspruch stünde.

Alle diese brennenden Fragen waren nun in Frau Gyllings Gartenstube zur Sprache gebracht, während draußen der Regen zu strömen fortfuhr wie ein trostloses Weinen des Himmels. Der Wortwechsel war allmählich sehr lebhaft geworden, und namentlich machte Wilhelm Pram einen mächtigen Eindruck auf die Versammlung, von der übrigens der größte Teil schon im voraus zu seinen Anhängern gehörte. Sogar die Wirtin, Frau Gylling, hatte sich kürzlich – wenn auch erst nach vielem Schwanken – der reformeifrigen Partei angeschlossen, was in hohem Maße ihre Stellung in der Organisation der Freundesgemeinschaft gestärkt hatte. Die noch schöne Dame mit den kleinen feinen Löckchen, die ihr in die Stirn hinabhingen, saß tief in einen Korbstuhl versunken da und sah schweigend über die Versammlung hin, mit diesem in sanfte Träume verlorenen Blick, der ihr den Ruf, die geistreichste Frau Dänemarks zu sein, eingebracht hatte.

Es herrschte unter ihnen allen die zuversichtlichste Stimmung. Man sprach es offen aus, daß das, was jetzt in bezug auf den Norden vollzogen werden sollte, der letzte abschließende Teil einer Kirchensäuberung sei, die Luther begonnen und Grundtvig fortgesetzt habe. Nach Verlauf von neunzehn Jahrhunderten sollte endlich das Christentum von aller mittelalterlichen Verirrung befreit und in der unverfälschten Lichtgestalt wieder errichtet werden, in der allein es die Macht besaß, die Welt und alle Völker zu erobern, so wie es verheißen war.

* * *

Da war jedoch wenigstens einer von den Anwesenden, der nicht an der allgemeinen Zustimmung teilnahm. An einem der Fenster saß ein brünetter Mann in den mittleren Jahren mit gestutztem Vollbart und sah in den Garten hinaus. Während der ganzen Debatte hatte er da in unbeachteter Zurückgezogenheit gesessen und nervös auf seinem Schnurrbart gekaut. Hin und wieder stahl sich sein Blick vom Garten zu Wilhelm Pram hinüber, der – groß und schlank – inmitten seines andächtig lauschenden Zuhörerkreises stand, den Rock zurückgeschlagen, die Finger der linken Hand in der Westentasche und den rechten Arm dramatisch ausgestreckt, während er wortreich die Frage über den Wunderglauben entwickelte, die seiner Meinung nach das Hauptverhandlungsthema auf der bevorstehenden Versammlung bilden müsse, und die er in den Satz: »Was darf ein moderner Mensch von der Religion fordern?« formuliert hatte.

Der einsame Mann war Vorsteher Sejling, der neue Direktor der Sandinger Hochschule, der nach dem Tode des alten Hochschulvorstehers die Leitung der Schule übernommen hatte. Er war eine hochangesehene Persönlichkeit innerhalb der Freundesgemeinschaft, was man deutlich gezeigt hatte, als man ihm die Leitung dieser größten und wohl innigst geliebten Hochschule des Landes übertrug. Man bewunderte seine ungewöhnlichen Fähigkeiten als Vortraghalter, schätzte seine schöne, durchgeistigte Sprache und vor allem den sittlichen Ernst, der aus seiner ganzen Persönlichkeit hervorleuchtete. Aber daneben war etwas sonderbar Unberechenbares und gleichsam Launenhaftes an ihm. Man lebte in einer Art Furcht vor ihm, weil man nie genau wußte, wie man mit ihm dran war, und weil er nie zu bewegen war, klare Rechenschaft von seinem Standpunkt zu vorliegenden Fragen abzulegen . . . eine Schwäche in seinem sonst so männlichen Charakter, die man dadurch zu erklären versucht hatte, daß man ihn als einen tiefbewegten Stimmungsmenschen auffaßte, einen schwermütig gärenden Geist, der einsam von den sturmerfüllten Gedanken der Zeit herumgetrieben wurde.

Als Wilhelm Pram seine Rede beendet hatte, erhob er sich wie infolge eines eben gereiften Entschlusses vom Stuhl, knöpfte den Rock fest um seine vierschrötige Gestalt und ging langsam, beide Hände auf dem Rücken und mit vollkommen beherrschter Miene, auf den Kreis zu.

»Ich wünsche eine Bemerkung zu machen,« sagte er dann mit lauter Stimme, indem er ohne weiteres die Diskussion unterbrach, die Wilhelm Prams Rede sofort hervorgerufen hatte.

Bei dem Laut seiner Stimme entstand eine kleine ängstliche Unruhe in der Versammlung. Er fing damit an, zu sagen, daß er wie gewöhnlich mit großer Befriedigung die Äußerungen seines Freundes Wilhelm Pram vernommen habe, die von dem Interesse eines offenen und feurigen Sinnes für die große Lebensfrage der Menschen zeugten. Wenn er sich dessen ungeachtet veranlaßt sehe, mit ein paar Gegenbemerkungen hervorzutreten, so geschehe das, weil er glaube . . . ja, nach reiflicher, ernster Selbstprüfung zu der festen Überzeugung gelangt sei, daß hinter verschiedenen von den Bestrebungen, über die man sich hier heute geäußert habe, eine Gefahr lauere, die nicht alle hinreichend beachteten. Es müsse doch nämlich feststehen, daß das Christentum nur eine Art Feinde unter den Menschen habe, nämlich die Nichtchristen. Wenn man in gewissen Kreisen die Neigung habe, die Hände – möchten sie nun geballt oder offen sein – nach allen Seiten auszustrecken, so sei dies eine Äußerung mißverstandenen Eifers, der nur geeignet sei, Verwirrung zu schaffen. Und wenn Wilhelm Pram heute auf die vorgelegte Frage nach dem Verhältnis eines modernen Menschen zur Religion antworte, indem er die Forderung stelle, daß der Glaube die Vernunft nicht in Fesseln schlagen und nicht im Widerspruch mit den unumstößlichen Tatsachen der Wissenschaft stehen dürfe, so wolle es ihm erscheinen, als wenn in dieser Frage die geballte Hand gegen die andersdenkenden Christen gerichtet sei, wohingegen er die offene und brüderliche Hand den Freigeistern und reinen Gottesleugnern hinstrecke . . . aber dies sei sicher ein auf Abwege geratener Eifer. Was ihm immer mehr als die große religiöse Aufgabe der Zeit erscheine, sei nicht die Kluft zwischen ernstdenkenden Christen zu erweitern, sondern im Gegenteil eine Brücke hinüberzuschlagen, die Möglichkeit für eine glückliche Wiedervereinigung zustande zu bringen, die allein dem Zeugnis der christlichen Gemeinde die wirksame Macht der Überzeugung wiedergeben könne, die Blinde sehend und Taube hörend machte.

Diese Worte, die mit dem sorgenvollen Ernst einer tiefen Überzeugung ausgesprochen wurden, verfehlten nicht, einen gewissen Eindruck, namentlich auf das Laienpublikum der Versammlung zu machen. Nur Wilhelm Pram, der schon so vollständig in seiner Rolle als Reformator aufgegangen war, daß er sofort jeden Widerspruch als persönliche Kränkung auffaßte, wies mit Leidenschaft die erhobenen Einwände zurück.

»Alles, was du da sagst, Sejling, ist ja nichts als Sophisterei. Wenn man glaubt, Christi unverfälschte Lehre wiedergefunden zu haben – und das glauben wir – so betrachtet man mit Recht alle die als Gegner, die dies nicht erkennen wollen, mögen sie sich nun Christen nennen oder nicht. Aber es ist zugleich unsere Pflicht, alle für unsere Überzeugung zu gewinnen zu suchen . . . alle! Wenn du daher sagst, daß wir den Gottesverleugnern die offnene Hand reichen, so antworte ich: nein, offene Arme bieten wir ihnen . . . Brüderarme nach Christi eigenem Gebot. Was kommt es wohl auf den Namen an! Die christliche Gemeinde soll nicht länger sein wie eine Freimaurerloge, wo gewisse Zeichen und wunderliche Handlungen erheischt werden, wenn man Einlaß erlangen will . . . nein, freies Entree soll da sein! War etwa Christus so ein Schnüffler, der ängstlich das Innere der Leute untersuchte, wenn sie kamen, um sein Zeugnis zu hören? Nein, er ließ alle ein, alle . . .! Und wir brauchen nur freudig seinem Beispiel zu folgen. Weitauf die Kirchentüren! . . . das soll unsere Losung sein. Wieder sollen die Kirchenglocken es über die ganze Welt hinausrufen: ›Kommet her, kommet her! alle, die ihr mühselig seid und beladen! Wir haben Frieden und Ruhe für euch alle – alle – alle!‹«

Während dieser lyrischen Kraftäußerung atmeten Wilhelm Prams Getreue wieder auf, und als er schloß, brachen sie in ein demonstratives Beifallgemurmel aus, das den Hochschulvorsteher sichtlich erblassen machte.

Jetzt trat auch der kleine Pastor Magensen vor und bezeugte, daß er sich Wilhelm Prams Äußerungen völlig anschließe. Nur meinte er, daß eine Beschränkung zu machen sei, indem kein wahrer Christ in geistiger Brüderschaft mit Leuten leben könne, die an einen persönlichen Teufel oder an ewige Höllenstrafen glaubten. »Gegen eine so unmenschliche und unverträgliche Lehre muß offen Krieg geführt werden . . . Ein Ausrottungskrieg . . .!« fuhr er fort, in der hysterischen Ergriffenheit zu schreien, mit der er zur Zeit und Unzeit seine Beschwörungslehre verkündete. Wie der nicht allen Witzes bare höchste Priester der Pietisten von ihm gesagt haben sollte: der Teufel habe ihn mit Haut und Haar geholt.

Er wurde von dem Hochschulvorsteher unterbrochen, der mit einem nicht gerade sehr achtungsvollen Blick auf seine untersetzte Person die zweideutige Bemerkung machte, »daß auch er schon lange mehr als genug von diesen ewigen Höllenstrafen habe«.

»Übrigens« – fügte er hinzu – »hat keine von den hier gefallenen Äußerungen meine Auffassung zu ändern vermocht. Im Gegenteil, ich fühle mich nur noch mehr in meiner Überzeugung bestärkt, und ich muß daher auf das Ernsthafteste davon abraten, daß die von Wilhelm Pram heute aufgeworfene Frage die Grundlage einer Verhandlung bei unserer Versammlung bilden wird. Das würde meiner Ansicht nach nur dazu beitragen, diejenigen von uns fort zu stoßen, mit denen jedenfalls viele von uns sich – trotz der Meinungsverschiedenheit – noch immer durch heilige Bande verknüpft fühlen.«

»Ach, das sind ja nur Schreckbilder!« rief Wilhelm Pram mit ausgestrecktem Arm aus. »Falls die Bande, von denen du da redest, wirklich nicht die Kraftprobe der Wahrheit aushalten können, – nun, dann laß sie in Gottes Namen zerreißen! Aber das hat sicher keine Gefahr . . . Und der Ansicht bist du ja im Grunde auch selbst, Sejling! Als wir gestern abend in deinem Zimmer zusammen sprachen, waren wir ja ganz einig. Da meintest du ja auch, daß die Zeit jetzt gekommen sei, wo die geistige Freiheitsforderung in ihrer ganzen Macht innerhalb des eigenen Grundes der Kirche erhoben werden müsse.«

»Du mußt mich völlig mißverstanden haben,« unterbrach ihn der Hochschulvorsteher, errötete dabei aber tief, »etwas dergleichen habe ich niemals ausgesprochen . . . niemals!«

Die Unruhe in der Versammlung steigerte sich. Die Furcht vor den Meinungsverschiedenheiten, die die letzten Zeiten innerhalb der Freundesgemeinde offenbart hatten, die man aber aus Rücksicht auf die Gegner soweit wie möglich zu verdecken gesucht hatte, ergriff plötzlich alle während dieser Szene, die als unheilverkündender Vorbote von dem erschien, was die große Versammlung bringen würde. Aber gerade in dem Augenblick, als der Streit zwischen Wilhelm Pram und dem Hochschulvorsteher in eine ungemütliche Zänkerei auszuarten drohte, entstand eine Bewegung, veranlaßt dadurch, daß ein großer blasser Mann, der sich bisher im allerhintersten Zuhörerkreis aufgehalten hatte, jetzt vortrat und mit schwacher Stimme um Erlaubnis bat, »sich äußern zu dürfen.«

Dieser Mann war der von allen geliebte aber zugleich tief bemitleidete Kandidat Boserup, ein Theolog und ehemaliger Hochschullehrer, der von dem Unglück betroffen war, durch ein zu eifriges Vertiefen in philosophische und kritische Schriften den Glauben an die Wahrheit des Christentums einzubüßen. Wie schwer ihm dieser Verlust gewesen war, wie einsam und unglücklich er sich in seinen Zweifeln fühlte, davon legte nicht nur seine ganze Persönlichkeit ein so beredtes Zeugnis ab, daß alle von Mitleid ergriffen werden mußten, und namentlich wetteiferten die Frauen, ihm ihre Teilnahme zu bezeugen, sondern er sagte auch selbst oft, es sei ihm, als wenn seine Seele im Sarge liege; und trotz seines Abfalles kehrte er beständig nach jenen Stätten zurück, wo Worte des Glaubens geredet wurden. Deswegen hatte man auch niemals die Hoffnung aufgeben wollen, ihn geläutert in die christliche Gemeinschaft zurückkehren zu sehen, und man legte in bezug darauf ein besonderes Gewicht auf den Umstand, daß er sich gerade von der Verkündigung der Freundesgemeinschaft angezogen fühlte. Man sah hierin eine Bestätigung dafür, daß nicht allein er, sondern alle die vielen suchenden und zweifelnden Seelen dieser Zeit schließlich durch das Licht des Geistes, das aus dieser Gemeinde ausging, den verlorenen Weg zum Himmel wiederfinden sollten.

Deswegen entstand auch jetzt Totenstille, als er vortrat, um zu reden. Aller Blicke hingen in gespannter Erwartung an seinen Lippen, während er mit dem schwachen schmerzvollen Lächeln in dem bleichen Christusgesicht dastand und das Taschentuch zwischen den mageren Händen zerknüllte.

Es sei nicht ohne Bedenken gewesen – begann er fast unhörbar – daß er sich erlaubt habe, die Aufmerksamkeit in diesem Kreise auf sich zu ziehen. Er habe ja gewissermaßen gar nicht mehr das Recht, in einer Versammlung wie diese zu reden. Aber er habe ein unwiderstehliches Bedürfnis empfunden, seiner Freude über das, was er hier heute gehört habe, Ausdruck zu verleihen. Überhaupt sei es ihm in dieser Zeit so wunderbar, Zeuge davon zu sein, wie der alte – einstmals ja auch ihm so liebe – Kirchenweg jetzt von mehr als einem der Steine gesäubert werde, über die heutzutage so viele strauchelten. Namentlich wolle er auf den Wunderglauben hinweisen, als auf einen der Steine des Anstoßes, die ihm persönlich verhängnisvoll gewesen seien, und man werde daher die Dankbarkeit verstehen, mit der er vor allem Wilhelm Prams Äußerungen über diesen Punkt gehört habe. Überhaupt sehe er . . . man möge ihm gestatten, dies hier zu äußern . . . mit einer großen persönlichen Hoffnung zu der Säuberungsarbeit hin, die jetzt begonnen sei, und die sicher einstmals zum Segen und zum Frieden für viele werden würde.

Nach dieser Rede konnten Wilhelm Prams Anhänger wieder triumphieren. Von allen Seiten umringte man den Redner, um ihm die Hand zu drücken. Aber der Hochschulvorsteher ließ sich dadurch nicht aus dem Felde schlagen, sondern verlangte von neuem das Wort. Und während der nun fortgesetzten, immer stürmischer geführten Diskussion stellte es sich heraus, daß er hier doch nicht so wenig Gesinnungsgenossen hatte, namentlich unter den langbärtigen Dorfschullehrern, die sich bisher ziemlich schweigsam verhalten hatten, jetzt aber – von dem übermütigen Auftreten der Gegner namentlich der Bauernstudenten beeinflußt – heiße Köpfe bekamen und anfingen, das Wort zu ergreifen. Einen Augenblick sah es so aus, als wenn Kandidat Boserups bescheidene kleine Rede das Signal zu einem ernsten Kampf werden solle . . . als sich plötzlich aller Gedanken einer ganz anderen Richtung zuwandten.

Frau Gylling, die sich immer ein klein wenig beängstigt fühlte, wenn die Stimmen um sie her laut wurden und die nun eine Gelegenheit suchte, um den Sturm abzulenken, hatte, indem sie den Blick zum Fenster hinausschweifen ließ, zufällig jene betagte Kalesche erblickt, die sich gerade in diesem Augenblick durch die nebelumhüllte Regenlandschaft da draußen hindurcharbeitete.

»Ach, seht doch einen Augenblick hierher!« rief sie aus – und bei dem Laut ihrer Stimme verstummte sofort jegliche Rede. »Kann irgend jemand raten, wer da gefahren kommt?«

Alle starrten zu den Fenstern hinaus, der Richtung ihres zeigenden Fingers folgend. Niemand aber konnte es erraten.

»Es ist Emanuel Hansted!«

»Emanuel Hansted!« rief man im Chor aus.

»Ich hörte heute morgen, daß er eine Sommerwohnung bei Ole Olsens unten im Dorf gemietet haben soll. Er wird da wohl eine Zeitlang mit seiner Familie wohnen . . . das heißt, mit seinen Kindern und seiner Schwester, der Generalkonsulin Torm.«

Die Mitteilung war wohl geeignet, Erstaunen hervorzurufen und brachte wirklich die Kämpfenden dazu, auf einige Augenblicke ihre Zwistigkeiten zu vergessen. Emanuel Hansted war das Schmerzenskind der Freundesgemeinde geworden. Er, der seinerzeit das Ideal der evangelischen Kirche verwirklicht zu haben schien, hatte ringsumher in den volkstümlichen Kreisen eine tiefe Niedergeschlagenheit hervorgerufen, als es vor ungefähr anderthalb Jahren bekannt wurde, daß er plötzlich seine Tätigkeit abgebrochen habe und von dannen gereist sei, die Gemeinde in einer völligen Verwirrung zurücklassend, die zur Folge gehabt, daß sie sich dann später blind den Pietisten in die Arme geworfen hatte. Und noch eine besondere Bitterkeit hatte sich dieser Enttäuschung beigemischt, als man sich im geheimen erzählte, daß dieser sein plötzlicher Ausbruch in Verbindung stehen sollte mit der erneuten Bekanntschaft einer gewissen Dame, einer Tochter seines Vorgängers im Amte, bei dem er seinerzeit Kaplan gewesen, des stockreaktionären und hochkirchlichen Seminarvorstehers Propst Tönnesen. Sicher war es auf alle Fälle, daß seine Frau ihn nicht begleitet hatte, als er zusammen mit den Kindern zu seinem Vater in die Hauptstadt gezogen war; man erzählte sich, sie habe sich eine Zeitlang bei einer Jugendfreundin aufgehalten, sei aber später ins Elternhaus zurückgekehrt, um ihre kranke Mutter zu pflegen. Wie eigentlich das Verhältnis zwischen den Eheleuten war, darüber hatte nicht einmal Frau Gylling Zuverlässiges herausfinden können; und in ähnliche Dunkelheit waren auch Emanuel Hansteds übrige Verhältnisse und Pläne gehüllt. Mit Bestimmtheit wußte man nur, daß er in diesen anderthalb Jahren in völliger Zurückgezogenheit bei seinem Vater in Kopenhagen gelebt hatte. Unmittelbar nach seiner Rückkehr in das Vaterhaus hatten sich Gerüchte verbreitet, daß man in hochkirchlichen Kreisen die Netze nach ihm auswürfe und wohl keineswegs abgeneigt sei, dem Sohn des hochangesehenen Ministerialdirektors eine neue und einträgliche Pfarre zu verschaffen, aber diese Gerüchte erstarben allmählich. Das letzte, was man von ihm gehört hatte, war, daß er – trotz der eindringlichen Bitten von Angehörigen und Freunden – sich auf das bestimmteste geweigert haben sollte, wieder in den Dienst der Staatskirche zu treten. Man gab als Beweggrund – wenn auch nur halb im Scherz – eine mystische Offenbarung an, die er eines Nachts gehabt haben sollte; und man erzählte allgemein, daß er sich mit keinem geringeren Gedanken trage, als eine vollständige Umwälzung in der ganzen christlichen Kirche hervorzurufen.

Daher war es denn nicht zu verwundern, daß seine Ankunft gerade in dieser Gegend eine Reihe verwunderter Fragen bei der interessierten Versammlung in »Sandingehus« wachrief, namentlich nachdem Frau Gylling erzählt hatte, daß auch das besagte Fräulein Tönnesen im Dorfe angekommen sei und schon ein paar Tage im Hotel gewohnt habe. Man verlor sich eine Zeitlang in allerlei Mutmaßungen, bis Wilhelm Pram, der es nicht liebte, daß man sich zu viel mit andern beschäftigte, einen Abschluß durch die Bemerkung hervorrief, daß das ganze Geheimnis mit dem guten Emanuel Hansted wohl nichts weiter sei, als daß er selbst nicht mehr wisse, was er wolle.

Worauf man mit erneuter Kraft zu dem Wunderglauben und dem Verhältnis der Christen zu den unumstößlichen Ergebnissen der Bibelkritik überging.

* * *

Am Tage darauf schien die Sonne. Der launenhafte Julihimmel entfaltete sich schon vom frühen Morgen an so festlich blau, als sei er bemüht, wieder gutzumachen, was er am vorhergehenden Tage mit seinen Herbstnücken verschuldet hatte. Es war jetzt wirklich Hochsommer geworden.

Auf einer Gitterbank in dem kleinen, traulichen Garten des Bauernhofes, in den die alte Kalesche am Tage zuvor hineingefahren war, saß die junge Generalkonsulin Torm im Schatten eines weitverzweigten Apfelbaumes. Die kleine blasse Dame war in tiefste Witwentracht gekleidet. Zum zweitenmal im Laufe der beiden letzten Jahre hatte der Knochenmann an ihre Tür gepocht und um Einlaß gebeten. Noch ehe sie nur einigermaßen den Verlust ihres Kindes verwunden hatte, war ihr Mann eines Nachts nach einem üppigen Festmahl in ihren Armen von einem Schlaganfall betroffen und wenige Tage später gestorben.

Es waren jedoch nicht diese trüben Erinnerungen, die sie veranlaßten, mit ihrer Häkelarbeit im Schoß dazusitzen und so verloren auf die Sonnenflecke des Rasens hinauszustarren. Die Unruhe und Sorge um ihren Bruder Emanuel ließ sie heute – wie schon so oft – den eigenen Kummer vergessen.

Das Verhältnis zwischen den beiden so viele Jahre getrennt gewesenen Geschwistern hatte sich in der letzten Zeit auf gewisse Weise sehr innig gestaltet. Während der starken, seelischen Erschütterungen, die die wiederholten Berührungen mit dem Tode in Frau Betty hervorgerufen, hatte sie bei Emanuel die religiöse Stütze und den Trost gefunden, den weder der Vater, noch ihr jüngerer Bruder, der lebenslustige Gardeoffizier ihr zu bieten imstande waren. Er war allmählich ihr Beichtvater geworden, und sie hatte sich in größter Aufrichtigkeit und voll Vertrauen an ihn geklammert. Und doch war das Verständnis zwischen ihnen immer nur halb. Sie fühlte sich noch immer abgestoßen, ja gekränkt durch seine hartnäckige Weigerung, sich mit dem Leben und den Gesellschaftsinteressen auszusöhnen, zu denen er doch sowohl seiner Geburt wie seiner Erziehung nach gehörte. Trotz aller schwesterlichen Bereitwilligkeit, ihm auf seinen wunderlichen Wegen zu folgen, vermochte sie es nicht.

Auf dem Gartenwall saß Emanuels älteste Tochter, die jetzt sechsjährige Sigrid. Ihr Lockenkopf war unter einem großen Helgoländerhut verborgen; der Schoß ihrer Schürze war voll abgepflückter Feldblumen. Das sonst so rastlose und lärmende Kind saß so sonderbar still und andächtig da, rührte sich nicht vom Fleck, sah nur von Zeit zu Zeit verstohlen mit einem listigen Blick zu der Tante hinüber.

Diese Feierlichkeit hatte über dem Kinde gelegen, seit sie am vorhergehenden Mittag durch die Dorfstraße gefahren war. Während der langen Abenddämmerung des gestrigen Tages hatte sie ganz schweigsam am Fenster drinnen im Kinderzimmer gesessen und in den Regen hinausgestarrt, ohne etwas essen, ohne mit der kleinen Dagny spielen zu wollen. Aber als das Mädchen sie gefragt hatte, ob sie nicht wohl sei, hatte sie plötzlich getan, als fehle ihr nichts und angefangen wie in einem Anfall ausgelassener Lustigkeit mit der Schwester in der Stube umherzutanzen.

Da saß sie nun auf dem Gartenwall und tat, als spiele sie, während sie beständig verstohlene Blicke zu der Tante hinüberwarf. Plötzlich stand sie auf, streifte leise die Blumen mit der Hand von der Schürze und schlenderte, die Hände auf dem Rücken, über den Rasenplatz . . . bis sie die Gitterbank erreichte. Hier legte sie sich vor der Tante auf die Knie und schmiegte die Arme in ihren Schoß.

»Tante!« sagte sie leise und begann an dem kleinen Garnknäuel der Häkelarbeit zu zupfen.

»Ja, mein Herz,« entgegnete Frau Betty noch halb in ihre eigenen Gedanken versunken.

»Tante, wo ist meine Mutter?«

Frau Betty zuckte förmlich zusammen – es war nun so lange her, seit sie diese Frage gehört, die sie seinerzeit täglich in die peinlichste Verlegenheit versetzt hatte.

»Wie kommst du nur darauf plötzlich danach zu fragen, mein Herz?« fragte sie.

»Ja–a,« entgegnete Sigrid und sah jetzt mit einem offenen Blick auf, »denn ich habe über nacht so viel von Mutter geträumt. Und von unserm alten Treu. Ich konnte Mutter so leibhaftig sehen, Tante! Auch die kleine Warze auf der Wange, weißt du. Und ich hab' auch von Großmutter geträumt. Sie schenkte mir einen Zuckerkringel, glaub' ich. – Glaubst du, Tante, daß Mutter bald von der Reise zurückkommt?«

Frau Betty wurde unruhig. Sie sah in diese treuherzig fragenden Kinderaugen hinab und wußte nicht, was sie antworten sollte.

»Sag' mir Sigrid,« begann sie endlich, indem sie mit der Hand die wirren, gelbbraunen Locken von der rosigen Wange des Kindes strich. »Träumst du oft von deiner Mutter?«

Sigrid begann wieder verlegen mit dem Garnknäuel im Schoße der Tante zu spielen.

»Das weiß ich wirklich nicht,« sagte sie in einem Ton, der gleichgültig klingen sollte; aber es war leicht herauszuhören, daß sie nicht die Wahrheit sprach.

Frau Betty kämpfte einige Augenblicke mit einem großen Entschluß. Dann streichelte sie dem Kinde die Wange und sagte:

»Wenn du ganz geduldig sein willst, liebe Sigrid, dann kommt Mutter gewiß bald wieder.«

»Bald?« fragte sie mit weitgeöffneten Augen.

»Ja, ich glaube . . . Aber gehe jetzt hin und hole Dagny. Es ist mir, als hörte ich sie draußen auf dem Hofe.«

»Ist Dagny da draußen?« rief das Kind mit seinem gewohnten, robusten Eifer aus, als sei jegliche Erinnerung an die Mutter im selben Augenblicke in ihr ausgelöscht. »Das wollen wir bald sehen!«

Und wie ein Sturmwind stürzte sie zum Garten hinaus.

Frau Betty sah ihr erstaunt nach, dann schüttelte sie den Kopf . . . sie konnte nicht klug werden aus dem Kinde. Und sie war nahe daran, zu bereuen, was sie gesagt hatte, weil sie eigentlich gar keine Erlaubnis dazu besaß. Nun . . . einmal mußte das Gemüt der Kinder ja doch auf dies Wiedersehen vorbereitet werden, an dem sie jetzt nicht mehr zweifelte. Emanuel hatte freilich nicht geradezu davon gesprochen; aber sie konnte aus allem ersehen, daß er jetzt fest entschlossen war, das Zusammenleben mit seiner Frau wieder aufzunehmen und überhaupt Ernst zu machen mit einer Annäherung an seine früheren Freunde. Er hatte unter anderm neulich mit ihr von einer großen Versammlung gesprochen, die im Laufe des Sommers hier in der Gegend abgehalten werden solle, und sie nahm an, daß es seine Absicht sei, hier zum erstenmal die neue Auffassung von dem Christentum zu verkünden, zu der er gekommen zu sein glaubte.

Draußen vom Hofe her hörte man jetzt Sigrids kommandierende Stimme; und einen Augenblick später kehrte das Kind mit der kleinen Dagny zurück, die heute gerade drei Jahre alt geworden war. Der kleine pausbackige Dicksack hatte den Arm voll neuen Spielzeugs und zog ein kleines hölzernes Pferd auf Rollen hinter sich her. Aber trotz dieser reichen Gaben sah sie sehr mürrisch und unzufrieden aus und als sie bis zu der Tante gelangt war, zupfte sie sie am Ärmel und verlangte energisch »zu Vater hinein« zu kommen.

Übrigens fing nun auch Betty an, sich über Emanuels Ausbleiben zu verwundern. Sie wußte, daß er schon lange aufgestanden war; schon ganz früh heute morgen hatte sie ihn in seiner Stube auf und nieder wandern hören, so wie das seine Gewohnheit war, wenn ihn irgend etwas stark beschäftigte. Aber im selben Augenblick ertönten Männertritte drinnen in der Gartenstube und Emanuel trat in die offene Tür, einen breitrandigen Filzhut auf dem Kopf und einen Eichenstock in der Hand.

Er sah ungefähr so aus wie in früheren Zeiten, war einfach, ja ärmlich gekleidet, aber so mager, daß die Wangen große Höhlen über dem Bart bildeten. Die hellblauen Augen waren strahlend klar und die tiefen Schatten, die um sie lagen, machten sie noch heller. Das Haar im Nacken trug er lang und dicht, so daß es fast den Rockkragen erreichte, und der große, rötliche Bart hing in Wellen auf seinen dunklen Anzug hinab.

»Wie?« rief er aus und sah sich überrascht um. »Ich glaube wirklich, die Sonne scheint heute!«

»Liebster – siehst du das erst jetzt?« sagte die Schwester und beobachtete ihn über ihre Handarbeit hinweg mit einem sorgenvollen Blick, »dann hast du wohl wieder dagesessen und dich über ein Buch oder dergleichen vergessen. Denke doch daran, daß der Arzt dich vor dem vielen Stubenhocken gewarnt hat.«

Er lächelte, während er sich langsam über den Rasen näherte.

»Guten Morgen, ihr Kleinen,« sagte er zu den Kindern, die gleich auf ihn zugelaufen waren, und legte ihnen segnend die Hand auf den Kopf. »Nun . . . habt ihr denn gut geschlafen in dem fremden Haus? Ja, ja! Ich wollte dir nur sagen, Betty . . . ich habe mir ein Glas Milch und ein Stück Brot von Angelika geben lassen, du brauchst dich um mein Frühstück nicht mehr zu bekümmern. Ich will mich ein wenig hier in der Gegend umsehen. Übrigens bin ich wirklich – wie du sagst – mit einem Buch beschäftigt gewesen. Mit einem sonderbaren kleinen Buch! Und mit einem sonderbaren Fall überhaupt! – –«

»Aber du vergißt gewiß –« unterbrach ihn die Schwester mit einem bedeutungsvollen Blick auf das Geburtstagskind, das auf dem Rasen stehen geblieben war, äußerst niedergeschlagen, den Finger im Munde und mit hervorquellenden Tränen in den großen, wasserblauen Augen.

»Ach, Dagny, mein Herzenskind!« – Er nahm die Kleine auf den Arm und küßte sie bewegt auf beide Wangen. – »Gott segne dich, mein Kind! Ja, du mußt nicht glauben, daß ich deinen Festtag vergessen habe. Das habe ich wirklich nicht! . . . Du hast heute morgen wohl auch ein kleines Geschenk vor deinem Bett gefunden – ja, da sehe ich es! Und Tante hat dich wohl reichlich bedacht, wie es scheint. Ja, ja, danke nur dem lieben Gott für alles, mein Kind! . . . Aber da kommt ja Angelika und will euch holen!«

Er setzte sie auf die Erde nieder, und beide Kinder liefen zu dem Dienstmädchen hin, das in der Gartentür erschienen war, um sie zu ihrer Biersuppe zu rufen.

Emanuel setzte sich auf die Bank neben die Schwester und nahm nach einem kurzen, gedankenvollen Schweigen seine unterbrochene Erzählung wieder auf:

»Ich sprach von dem Buch, Betty. Denke dir, es war eins von Mutters alten Büchern! . . . Ich begreife nicht, wie das mit hier herausgekommen ist, denn ich habe es noch nie gesehen und ich kenne es nicht. Ist das nicht sonderbar! . . . Es ist doch beinahe, als wenn ich das Buch lesen sollte, nicht wahr?«

»Aber kann es nicht ganz einfach zwischen die anderen Bücher hineingeraten sein, die du von Hause mitgenommen hast. Es waren wohl mehrere von Mutter dazwischen.«

»Ja, das ist möglich – natürlich. Aber du kannst dir doch denken, wie wunderbar bewegt ich wurde, als ich so ganz unerwartet Mutters Handschrift und Namenszug auf dem ersten Blatte sah. In dem Buche lag ein Lesezeichen . . . wahrscheinlich an der Stelle, wo sie zuletzt darin gelesen hatte. Und da fing denn auch ich an zu lesen. Denn es ist so sonderbar mit Mutter. Es ist mir nun so oft im Leben passiert, daß, wenn ich fand, daß alles ringsum mich her finster und unwegsam wurde, oder wenn ich so recht der Bestätigung meines Glaubens und meiner Hoffnung bedurfte, . . . dann hat mir Mutter auf irgendeine Weise einen Wink gegeben, mir eine helfende, trostreiche oder leitende Hand von jenseits des Grabes gereicht. Jetzt über nacht, als ich wach lag und nicht schlafen konnte – –«

»Konntest du wieder nicht schlafen, Emanuel?« fragte die Schwester und betrachtete ihn wieder mit einem bekümmert forschenden Lächeln.

»Ach, das hat nichts zu sagen. Das macht wohl die Reise, denke ich mir . . . und die neuen Umgebungen vielleicht. Aber was ich sagen wollte . . . wie ich so da lag und dem Regen und dem Sturm und dem mitternächtlichen Hahnenschrei lauschte, . . . allen diesen lieben, vertrauten Lauten, die ich nicht wieder gehört habe, seit ich Vejlby, das Pfarrhaus und Hansine verließ, – da erwachten bei mir so viele alte Gefühle, so viele teure Erinnerungen, die mein Gemüt und meine Gedanken in Bewegung setzten. Es war, als durchlebte ich in der Erinnerung mein ganzes Leben . . . nicht stückweise und unvollkommen . . . sondern wie ein großes, verklärtes Ganzes. Wie von der Zinne eines hohen Turmes herab sah ich über den Weg hinweg, den ich geschritten war – verstand mit einer Klarheit wie nie zuvor, warum Gottes Hand mich angerührt, mir befohlen hatte, stillzustehen und zurückzusehen – in mich selbst hinein! . . . Ja, Gott ist gut gegen mich gewesen! Dort ging ich so selbstvertrauend und so vollkommen sicher, in dem Bewußtsein, in Jesu Fußstapfen zu wandern . . . und achtete nicht darauf, daß ich ihnen in der verkehrten Richtung folgte, nach außen hin, der Zeitlichkeit zugewendet mit allen ihren Begierden, Sorgen und nie gestillten Forderungen, statt nach innen, zu der kleinen, niedrigen und engen Herzenstür, die uns Christus mit dem Worte: ›Mein Reich ist nicht von dieser Welt‹ erschlossen hat«.

Er stand auf und sah über den Gartenzaun hinaus und auf das flache Wiesenland im Süden, wo man einen Schimmer von den roten Mauern der Sandinger Hochschule in der Ferne gewahrte. Lange blieb er mit erhobenem Haupte stehen, während Frau Betty still gebeugt über ihrer Handarbeit saß. Sie wurde gewöhnlich, wider ihren Willen, von den Worten des Bruders ergriffen. Immer erst lange nachdem er gegangen war, wurde ihr die wahre Meinung seiner Rede klar und erschreckte sie durch ihre Unversöhnlichkeit.

»Aber du vergaßest, was du von Mutters Buch erzählen wolltest!« sagte sie, als Emanuel nicht fortfuhr.

»Wovon? . . . Ach von Mutters Buch!« sagte er zerstreut und fing an, vor ihr auf und nieder zu gehen, die Hände und den Stock auf dem Rücken. »Ja, siehst du, es war nur eine kleine Sammlung kurzer, religiöser Erzählungen – nichts weiter. Die Erzählung, bei der Mutter das Buchzeichen hineingelegt hatte, handelte von einem frommen Mann im Judenland, von dem erzählt wurde, daß er sein ganzes Leben lang seinen Freunden und Nachbarn zum Gespött gedient hatte, weil er mit einer so innigen Liebe an dem Herrn hing. Trotz seines kindlichen Verhältnisses zu Gott hatte er beständig Schiffbruch gelitten in bezug auf sein zeitliches Wohlergehen; seine Kinder und seine Frau starben, sein Vieh wurde krank, er selbst ward vom Aussatz angesteckt. Schließlich, so erzählt die Geschichte, wurde sein Weinberg vom Gewitter zerstört und ein Haus vom Blitz verzehrt. Und nun schließt die Erzählung mit dem herrlichen Wort: da ging er zum Tempel, beugte sein Knie und dankte Gott, – den Kindern der Welt zum Ärgernis. Ja! ›den Kindern der Welt zum Ärgernis!‹ Die Worte hatte Mutter unterstrichen. Und – nicht wahr? – die sind auch wert, daß man sie sich aneignet. Wenn die schlechten Reden der Welt uns unschlüssig machen, wenn wir anfangen, vor unserm eigenen Glauben bange zu werden und zu uns selber sagen: ja, haben die anderen nicht vielleicht recht; ist dies nicht Tollheit, ist dies nicht Wahnsinn? – Da kann es dienlich sein, sich der Geschichte von dem frommen Mann im Judenland zu erinnern, der ein so tiefes Verständnis für die Liebe Gottes hatte! – Aber wer kommt denn da?« unterbrach er sich bei dem Anblick von zwei Personen, die sich auf der Landstraße vom Fischerdorfe her näherten – eine weißgekleidete Dame mit weißem Sonnenschirm und ein schwarzgekleideter Herr mit breitem Strohhut.

»Wo?« fragte Betty und sah auf. »Ach, das ist ja Ragnhild Tönnesen!«

»Ja, jetzt sehe ich es,« sagte Emanuel – und im selben Augenblick huschte ein unruhiger Schatten über sein Gesicht. »Aber wer ist denn ihr Begleiter?«

»Ich weiß es nicht . . . Ja . . . Ich glaube wirklich . . . ist es nicht Pastor Petersen?«

»Pastor Petersen? Wohnt der auch hier draußen?«

»Das muß er wohl tun. Und das ist gar nicht so unmöglich. Er und Ragnhild sind in letzter Zeit, wie ich bemerkt habe, auffallend viel zusammengewesen.«

»Ach so,« sagte Emanuel, – seine Stimme war ein wenig unsicher geworden. »Ja, Pastor Petersen soll ja ein großer Damenfreund sein . . . Glaubst du, daß sie hier hereinkommen?«

»Das tun sie wohl.«

Emanuel stand einen Augenblick unschlüssig da. Er hätte es am liebsten Betty überlassen, diesen Besuch zu empfangen; aber die Fremden da draußen hatten ihn schon erkannt: die Dame begann mit ihrem Sonnenschirm zu winken, und der Herr schwang seinen gelben Strohhut.

* * *

Frau Betty erhob sich von der Bank, um die Gäste an der Gartenpforte zu empfangen. Ragnhild Tönnesens Besuch hatte sie erwartet. Dahingegen war auch sie höchst überrascht, ja, fast erschrocken, ihren Begleiter in dieser Gegend auftauchen zu sehen.

Pastor Petersen war ein stiernackiger Mann in den Fünfzigern mit einem vollen, glattrasierten und leicht beweglichen Gesicht, einem sogenannten Schauspielergesicht. Hätte er nicht einen schwarzen Rock und einen weißen Schlips getragen, so würde man ihn sehr gut für den Inhaber eines älteren, komischen Rollenfaches in einer Schauspielertruppe halten können, namentlich, da seine ganze Person, vor allem aber seine kräftig glühende Gesichtsfarbe den getreuen Freund der Tafelfreuden verrieten. »Pater Rüdesheimer« war denn auch der Name, unter dem er weit und breit bekannt war. In vertraulicher Unterhaltung erzählte er oft mit großer Offenherzigkeit, fast mit ein klein wenig Stolz, daß einer der feinsten Kopenhagener Restaurateure ihn einmal seinen nächstbesten Kunden genannt habe. Im übrigen war er nicht Pfarrer in Kopenhagen, sondern hatte eine einträgliche Pfarre in unmittelbarer Nähe der Stadt. Da er aber kinderloser Witwer war, sah man ihn so gut wie täglich in der Hauptstadt, wo er als eine der Sehenswürdigkeiten des geselligen Lebens betrachtet wurde. Er hatte in den letzten Jahren zu den Dinerfreunden des verstorbenen Generalkonsuls Torm gehört und als solcher war er auch hin und wieder bei Etatsrat Hansted eingeladen, unter dessen Gästen er jedoch nicht immer gleich freundlich aufgenommen wurde, obwohl es bekannt war, daß er in religiöser Beziehung der streng rechtgläubigen, ja sogar der streng orthodoxen Richtung angehörte und daß er in seiner Gemeinde einen schonungslosen Kampf gegen alles Sektenwesen führte.

Die Damen setzten sich auf die Gitterbank unter dem Apfelbaum, während Pastor Petersen sich ihnen gegenüber in einem hochlehnigen Gartenstuhl niederließ. Emanuel dahingegen blieb aufrecht stehen und verschanzte sich hinter dem undurchdringlichen Schweigen, das er mit Vorliebe in Gegenwart solcher Gäste beobachtete.

Pater Rüdesheimer tat so, als bemerke er es gar nicht, daß ihm gerade kein besonders herzlicher Empfang zuteil geworden war. Mit ungestörter Gemütsruhe nahm er den Hut vom Kopfe und trocknete sich die Stirn mit seinem Taschentuch.

Als die ersten Begrüßungen ausgetauscht, die ersten Fragen über die Reise, das Befinden usw. beantwortet waren, wandte sich Frau Betty an ihn und sagte:

»Es war wirklich eine Überraschung, Sie hier zu treffen, Herr Pastor; sind Sie schon lange hier gewesen?«

»Lange genug oder vielmehr viel zu kurz . . . ganz, wie Sie wollen, meine gnädige Frau! Wenn die Uhr eins schlägt, bin ich genau drei Tage hier gewesen.«

»Drei Tage? . . . Also sind Sie zusammen mit Fräulein Tönnesen hierher gekommen?«

»Am selben Tage, wie Fräulein Tönnesen, ja! Wollen Sie mir bitte sagen . . . gnädige Frau, ob ich anders handeln konnte? Ich will Ihnen gestehen, ich habe viel über die Sache nachgedacht. Aber war es nicht geradezu meine Schuldigkeit, meine unabweisbare Pflicht?«

»Wieso? Ihre Pflicht, Herr Pastor?«

»Ja, was meinen Sie damit? darf auch ich mir eine Erklärung ausbitten,« fiel Fräulein Ragnhild ein.

»Ich bin überzeugt, meine gnädige Frau, daß Sie meine Auffassung völlig teilen werden,« fuhr der Pastor fort, – er saß leicht gegen den Stuhlrücken gelehnt da, hatte den Strohhut in seinem Schoß angebracht und hielt die Hände mit den kurzen, dicken, beringten Fingern vor der Brust, so daß nur die Fingerspitzen einander berührten. – »Ich konnte es doch wirklich nicht verantworten, eine Dame von so anziehenden Eigenschaften, wie Fräulein Tönnesen, ganz allein und ohne Schutz an einen so ›erstklassigen Kurort‹ ziehen zu lassen, der nicht ohne Berechtigung Anspruch darauf macht, das Ostende des Nordens genannt zu werden. Bedenkt man daneben den überwältigenden Eindruck dieser ›wildromantischen Naturumgebungen‹, die wir alle hier vor Augen haben, so wird man sicher verstehen, daß ich es als meine Pflicht empfunden habe, der Unschuld den Schutz zu bieten, den sowohl meine geistige Distinktion« – er zeigte auf seinen weißen Schlips – »wie auch mein ergrauendes Haupthaar hoffentlich selbst in diesem modernen Sodom ihr würden bieten können.«

»Nein, die Erklärung genügt nicht, Herr Pastor,« fuhr Frau Betty unverzagt fort. »Darf ich um eine andere bitten?«

»Ach, wie magst du nur die Torheiten anhören!« unterbrach Fräulein Ragnhild sie in leicht gereiztem Ton und legte die Hand auf den Arm der Freundin. »Pastor Petersen hat heute morgen kalten Tee bekommen und ist infolgedessen den ganzen Vormittag in der unleidlichsten Neckstimmung gewesen.«

Der Pastor tat, als überhöre er diese Bemerkung vollständig.

Im übrigen hatte er nicht unrecht. Fräulein Ragnhild sah keineswegs ungefährlich aus in ihrer hellen Sommertoilette mit den mächtigen Puffärmeln und dem großen Schäferhut, dessen weißer Filz vorzüglich zu ihrem braunroten, lockigen Haar »stand«. Man mußte zugeben, daß sie sich vorzüglich gehalten hatte. Ihre Haltung war noch ebenso herausfordernd aufrecht, die prachtvollen graublauen Augen hatten nichts von ihrem Glanz verloren – ja, sie war sogar mit den Jahren ein klein wenig voller und ein wenig rosiger und ein ganz klein wenig kokett geworden . . . kurz, schien sich in jener zweiten Blüte zu befinden, die gewissen Frauen Ende der Zwanziger beschieden ist, wenn ihnen zu diesem Zeitpunkt etwas Entscheidendes widerfährt.

»Ja, wenn diese Erklärung Sie nicht befriedigt,« fuhr der Pater zu Frau Betty gewendet fort, »dann muß ich zusehen, daß ich eine andere finde. So will ich denn sagen, daß auch ich – ebenso wie unsere Freundin Fräulein Tönnesen – einen der berühmten Medizinmänner der Hauptstadt bewogen habe, mir ein Attest auszustellen, daß meine Nerven längere Zeit der Ruhe und Pflege bedürfen. Und wo sollten sie dies beides wohl besser finden können, als hier im »Hotel Kattegatt«, das in seiner liebenswerten Ungekünsteltheit mir als das wahre Muster einer Besserungsanstalt – hm! – für Nerven erscheint. Ich höre übrigens, daß wir Ihnen, meine gnädige Frau, zu Dank verpflichtet sind, für die Entdeckung dieses in Wahrheit friedlichen Fleckchens.«

»Nein, das ist nun doch nicht der Fall; mein Bruder hatte diesen Einfall.«

»Ja, Ehre dem Ehre gebühret!« sagte Fräulein Ragnhild mit einer Verbeugung zu Emanuel hinüber. »Sie können mir glauben, Herr Pastor Hansted, ich habe Sie schon mehrmals heiß gesegnet . . . namentlich den ersten Abend, als ich eine Maus in meinem Bett fand. Ich hoffe, Ihre Ohren haben Ihnen damals geklungen, als wenn mit Sturmglocken geläutet wurde.«

Emanuel zuckte leicht zusammen bei ihrer Anrede, – seine Augen waren aufmerksam zwischen dem Pater und Fräulein Ragnhild hin und her gewandert, während diese ihr kleines kameradschaftliches Scharmützel ausfochten. Aber er faßte sich schnell und begegnete ihrem übermütigen Blick festen Auges.

»Sie scheinen ganz zu vergessen, Fräulein Tönnesen,« – sagte er vollkommen beherrscht, – »daß, als ich diesen Ort zu meinem Sommeraufenthalt wählte, keinerlei Veranlassung für mich vorhanden war, auch Ihre Gewohnheiten und Neigungen in Betracht zu ziehen. Ich wußte ja nämlich gar nicht . . . ja ich konnte nicht einmal ahnen, daß Sie im Ernste daran dachten, meiner Schwester hier draußen Gesellschaft zu leisten. Sie werden sich vielleicht auch erinnern, daß ich, als Sie mir erzählten, Sie hätten diesen ›plötzlichen Einfall‹ bekommen, wie Sie sich selbst ausdrückten, – daß ich Ihnen absolut abriet . . .«

»Ja, Sie raten mir ja immer ab!« unterbrach sie ihn mit schlecht verhohlener Ungeduld und wandte sich den anderen zu: »Nicht wahr, Herr Pastor Petersen. Wenn Herr Hansted das Recht bekäme, über die Weltordnung zu verfügen, so gingen wir noch alle mit unseren Milchzähnen herum. Glauben Sie nicht auch?«

Der Pater drohte ihr mit dem Finger.

»Sie sind bösartig, gnädiges Fräulein!« sagte er mit einem Kopfschütteln, indem er gleich wieder seine frühere Stellung, die Hände auf der Brust vereint, einnahm, so wie die heiligen Männer auf alten Kirchengemälden. Aber auf seinem schwarzen, priesterlichen Rock tanzte ein lustiges Gewimmel von kleinen goldenen Sonnenflecken, und um seinen großen, eselsgrauen Kopf legten sich die Zweige des Apfelbaumes wie ein traubenblättriger Schattenkranz, der in listiger Weise seine Ähnlichkeit mit einem schalkhaften im Bacchusdienste ergrauten Satyr hervorhob.

»Ich muß Sie überhaupt vor Fräulein Tönnesen warnen,« sagte er zu Emanuel. »Das Fräulein verleumdet Sie nämlich auf das abscheulichste. Ich habe mich nun alle diese Tage auf Ihre Ankunft gefreut unter anderem, um hin und wieder eine Partie Kegel mit Ihnen zu machen! . . . Eine Kegelbahn ist nämlich das einzige Vergnügungsetablissement, das ich hier in diesem Ostende bisher habe entdecken können. Aber heute auf dem Wege hierher sucht mir Fräulein Tönnesen einzubilden, daß Sie nicht Kegel spielen, ja, daß Sie sogar ganz abgeneigt sein sollen, einen so edlen Sport zu betreiben.«

»Fräulein Tönnesen hat wirklich diesmal recht gehabt,« entgegnete Emanuel kurz. »Ich muß Sie bitten, nicht auf mich zu rechnen.«

»Großer Gott! Dann ist es also wirklich wahr! . . . Sie spielen nicht Karten, Sie trinken keinen Wein, Sie rauchen keinen Tabak und nun wollen Sie auch nicht Kegel spielen! . . . Also ein vollständiger Heiliger . . .«

»Lieber Herr Pastor, haben Sie denn das nicht schon längst gewußt?« spottete Ragnhild.

Emanuel wurde bleich und biß sich auf die Lippen. Aber er entgegnete nichts.

»Ja, dann bin ich also nach wie vor auf die Barmherzigkeit meines Mitpensionärs, des Herrn Bürstenfabrikanten Mickelsen angewiesen,« seufzte der Pastor. »Na – er schiebt wirklich eine ganz saubere Kugel. Er hat eine Force im linken Spann, die ich sehr bewundere . . . sehr bewundere!«

»Aber hier ist doch so viel andere Anregung, Herr Pastor,« warf Frau Betty schnell dazwischen; Emanuels Haltung hatte sie nervös gemacht, und sie wünschte der Unterhaltung eine andere Richtung zu geben. »Es ist wirklich ganz hübsch hier in der Umgegend. Und Sie sind ja ein so großer Bewunderer der Natur. Sie sind sogar ein eifriger Jäger, wie ich mir habe erzählen lassen.«

»Ich bin Ihnen in hohem Maße verbunden für Ihre vorteilhafte Meinung, meine gnädige Frau! Aber leider – bin ich ein ganz prosaischer Mensch! Ich leugne nicht, daß ich eine kleine Schwärmerei habe, meinen trägen Körper auf einem Kleefelde zu sonnen. Auch finde ich es äußerst angenehm, an einem klaren Sommertage einen kleinen Mittagsschlummer im Schatten eines Waldgeheges am Ufer eines kühl plätschernden Gewässers zu machen . . . namentlich, wenn es nicht zu weit von dem Ort entfernt ist, wo man auch Kaffee kochen kann. Aber für die sogenannten höheren Naturgenüsse geht mir leider aller Sinn ab . . . aller Sinn! Ich schäme mich, es einzugestehen, aber glauben Sie zum Beispiel, daß es mir gestern möglich gewesen ist, mich zu einer nur nennenswerten Begeisterung über das sicher hochpoetische Regenwetter aufzuschwingen? Ich sah nur, daß es in Strömen goß, als ich aufstand, daß es ein Platzregen war, als wir frühstückten, und daß wir um die Mittagszeit einen derartigen Wolkenbruch hatten, daß das Wasser muldenweise durch den Schornstein in den Suppentopf hinabstürzte . . . wenigstens nach dem Geschmack der Suppe zu urteilen.«

»Genau so wie ich!« stimmte Fräulein Ragnhild mit forcierter Lebhaftigkeit ein. »Pastor Petersen und ich stimmen überhaupt in überraschend vielen Punkten überein. Falls ich Ihnen ein wenig näher säße, Herr Pastor, würde ich Ihnen meine Hand reichen.«

Auf dem Gesicht des Paters breitete sich ein lustiges Lächeln aus. Er erhob sich, ging hin und küßte galant die äußerste Spitze von Fräulein Ragnhilds behandschuhter Hand.

»Wie artig,« sagte sie und errötete leicht.

Emanuels Augen fingen wieder an, beobachtend zwischen ihnen hin und her zu wandern; Frau Betty dagegen wurde ein wenig verlegen und machte sich plötzlich mit ihrer Handarbeit zu schaffen.

»Wie gesagt, meine gnädige Frau,« fuhr der Pater fort, als er sich wieder gesetzt hatte, »ich bin nur ein armer prosaischer Mensch, der der Nachsicht unserer lyrisch bewegten Zeit bedarf. Mein armer, schwacher Geist ist zu schwerfällig, um sich in die Regionen hinaufzuschwingen, in der meine geehrten Zeitgenossen so erstaunliche Leistungen in der höheren und höchsten und noch nie hier am Orte gesehenen Luftgymnastik entfalten. Ich muß mich in aller Bescheidenheit damit begnügen, ein bewundernder Zuschauer zu sein . . . Dabei fällt mir übrigens ein, was die heutigen Zeitungen erzählen, daß hier in allernächster Zeit eine großartige Versammlung auf der berühmten Hochschule da drüben abgehalten werden soll. Was sagen eigentlich Sie, Herr Pastor Hansted, zu Ihren ehemaligen Gesinnungsgenossen? Nicht wahr, es ist auf alle Fälle eine ganz schneidige Idee, so mit einem Zwischenraum von gewissen Jahren einen kleinen privaten Tag des Gerichts über Himmel und Hölle und den lieben Gott selber abzuhalten.«

Emanuel hatte sich ein für allemal vorgenommen, mit diesem Manne nicht über ernste Dinge zu reden, deswegen antwortete er nur mit einem ausweichenden Murmeln.

»Wenn sie nun nur Glück haben und richtig richten . . . davor bin ich am meisten bange!« fuhr der Pater unverdrossen fort. »Denn –! wahrhaftig – wir haben in unserer Zeit erfahren, was aus der geringsten Unachtsamkeit auf diesen Gebieten entstehen kann. Ja, Sie haben natürlich auch Pastor Magensens epochemachende Schrift über die Hölle und die Höllenstrafen gelesen? Denken Sie, da haben wir Christen neunzehn Jahrhunderte lang uns nun mit der Angst vor der ewigen Verbannung aus Gottes Antlitz abgequält. Wie ein beängstigender Alpdruck hat die Vorstellung von dem Grausen der Verdammnis über dem Sinn der Menschen gelegen . . . und nun kommt der hochlöbliche Pastor Magensen oder ein deutscher Professor oder wer es nun ursprünglich gewesen ist, und beweist uns so klar, wie, daß zwei mal zwei vier ist, daß das Ganze auf einem Mißverständnis beruht, auf einer verkehrten Auffassung eines Wortes im Urtext, einem bedauerlichen Übersetzungsfehler, der erst jetzt sein Notabene gefunden hat. Ist das nicht ein schrecklicher, ein fast empörender Gedanke! Da hat dieser alte fromme Einsiedler gesessen und im Schweiße seines Angesichts übersetzt und ist genau und aufmerksam mit jeder Silbe umgesprungen . . . bis er an das fatale Wort gekommen ist. Hier hat er einen Augenblick, gerade heraus gesagt, gesudelt. Vielleicht ist er gestört worden, ein Freund ist hereingekommen, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen, oder eine Fliege hat sich auf seine Nase gesetzt . . . und wupp ist das verhängnisvolle Wort auf das Papier hinabgeschlüpft. Und der liebe Gott, der doch kurz zuvor seinen eingeborenen Sohn auf die Erde herabgesandt und ihn hatte leiden und kreuzigen lassen, um den Menschen das Licht der Wahrheit anzuzünden . . . der liebe Gott ist in seinem Himmel ruhig Zeuge davon gewesen, daß wir auf Grund dieser kleinen Übersetzerungenauigkeit wieder in eine zweitausendjährige Unwissenheit hinabgestürzt sind. Wahrlich, das alte Wort hat recht: Kleine Ursache, große Wirkung! . . . Aber lieber Herr Pastor! Sie stehen da mit dem Stock in der Hand,« unterbrach er sich selbst, als Emanuel noch immer nicht antwortete. »Ich halte Sie doch nicht etwa auf? Sie waren vielleicht im Begriff auszugehen?«

»Ich leugne nicht,« erwiderte Emanuel, »ich hatte daran gedacht, einen Spaziergang zu machen – –.«

»Gut! Dann werde ich mir erlauben, Sie eine Strecke Wegs zu begleiten. Mir tut eine kleine Bewegung vor dem Bad gewiß gut. Und auf Ihre Begleitung kann ich heute vormittag wohl nicht mehr rechnen, Fräulein Tönnesen?«

»Nein, ich bleibe hier und leiste Frau Torm Gesellschaft. Übrigens . . . ein Wort, ehe Sie gehen, Herr Pastor Hansted! Ich wollte Sie gern um einen Freundschaftsdienst bitten. Ich habe momentan eine wahre Schwärmerei für Heidekraut, diese unansehnliche, duftlose kleine Pflanze, das Symbol der Bescheidenheit usw. Ach nein, setzen Sie doch nicht gleich das Jeremiasgesicht auf! Ich wollte Sie nur bitten, mir die Liebenswürdigkeit zu erweisen und einen kleinen Strauß auf Ihrem Spaziergange zu pflücken . . . das heißt, falls es Sie nicht in Ihrem Grübeln über eine neue und bessere Weltordnung stört. Ich möchte wahrlich sehr ungern, sowie jene naseweise Fliege, von der Pastor Petersen sprach, die Ursache sein, daß das Menschenglück die nächsten zwei Jahrtausende in die Brüche ginge. Falls deswegen etwas derartiges zu befürchten sein sollte, müssen Sie wirklich so tun, als hätte ich nichts gesagt.«

Das Blut wich wieder aus Emanuels Wangen und Lippen und die Schatten unter seinen Augen wurden beunruhigend schwarz. Von neuem aber erinnerte er sich der Worte seines Herrn und Meisters: »Wenn Dich jemand auf die rechte Wange schlägt« – und er schwieg. Mit dem Gepräge einer übermenschlichen Seelenstärke stand er regungslos da und sah auf sie hinab mit einem Blick, in dem sich Mitleid und Schmerz wehmütig vermischten.

Aber dies Schweigen und dieser Blick reizten das spottlustige Fräulein nur noch mehr; es war, als treibe sie ein unwiderstehliches Verlangen, ihn so recht tief zu verwunden. Die Situation war nahe daran, ungemütlich zu werden, als der Pater dazwischentrat und mit einem plötzlichen und überraschenden Ernst und nicht ohne Autorität sagte:

»Jetzt ereifern Sie sich, Fräulein Tönnesen! Und Sie sind außerdem ganz ungerecht! Sie vergessen, daß Herr Hansted eben hier angekommen ist und genug zu tun haben wird. Warum können Sie es mir nicht übertragen, die gewünschten Blumen zu pflücken? Sie wissen, ich tue es herzlich gern!«

»Ach ja, das wird auch wohl das beste sein. Mit Ihnen wird man immer so leicht fertig. Sie sind so angenehm irdisch. Haben Sie Dank, Herr Pastor! Und auf Wiedersehn!«

* * *

Nachdem die Herren gegangen waren, blieben die beiden Freundinnen noch eine Zeitlang unter dem Apfelbaum sitzen. Lange sprach keine von beiden. Fräulein Ragnhild, die warm vor Eifer geworden war, saß da und fächelte sich mit ihrem zugeklappten Sonnenschirm, während Frau Betty sich tief über ihre Arbeit gebeugt hatte. Sie war ernstlich verstimmt.

»Daß ihr beide euch auch immer zanken müßt!« sagte sie endlich in ihrer stillen Weise, ohne aufzusehen.

»Wer? . . . Ach, dein Bruder und ich? Weißt du, das ist nur so eine Angewohnheit, die aus alter Zeit stammt. Du läßt dich doch wohl nicht davon anfechten, liebe Betty? Das ist nun einmal so unsere Manier, Konversation zu machen. Übrigens sind wir wohl auch ungefähr so uneinig, wie ein paar Menschen nur sein können.«

»Ja, das seid ihr wohl.«

»Du tust beinah, als wenn dich das wundert, Betty?«

»Ach ja, – ein klein wenig.«

»Aber ich begreife nicht . . . Du hast dich oft genug selber darüber beklagt, wie schwierig, ja unmöglich es für dich und deine Familie sei, mit der eigentümlichen Lebensauffassung deines Bruders auszukommen.«

»Das ist eine ganz andere Sache, Ragnhild. Vater hat Emanuel überhaupt niemals verstehen können und mir selbst wird es allerdings auch noch manch liebes Mal schwer, mich mit seinen Anschauungen und seiner Lebensweise auszusöhnen . . . von meinem Bruder Carl will ich nun gar nicht reden. Aber selbst wenn man die Lebensauffassung eines anderen auch nicht teilt, so kann man sie deswegen doch respektieren.«

»Ich glaube wirklich, du fängst an, dich ein wenig von deinem Bruder beeinflussen zu lassen, liebe Betty. Ich habe das in letzter Zeit bemerkt.«

»Ach, Unsinn, Ragnhild, wie du nur redest!«

»Nun ja, dann laßt uns nicht darüber reden. Übrigens – hat dein Bruder nicht immer eine gewisse Neigung gehabt, anders zu sein als andere? Es ist mir, als hättest du selbst einmal etwas dergleichen geäußert.«

»Emanuel ist meiner Mutter Sohn. Und Mutter war ja auch nicht so, wie die Leute gewöhnlich sind.«

Frau Betty sagte diese Worte mit starker Röte auf den Wangen – es war nämlich das erstemal, daß ihre Mutter zwischen ihnen genannt war. Aber sie hatte das Bedürfnis gehabt, Emanuel einmal allen Ernstes den ewigen Spöttereien der Freundin gegenüber in Schutz zu nehmen.

»Was Vater betrifft,« – fuhr sie fort, – »so hat er sich nie recht damit aussöhnen können, daß Emanuel Theologe wurde. Vater ist ja leider nicht so religiös, wie man es wünschen könnte. Er wollte seinerzeit absolut, daß er Jura studieren sollte. Aber Emanuel hatte Mutter versprochen, Geistlicher zu werden, und daher stammte ursprünglich das schwierige Verhältnis zwischen ihnen . . . wenigstens meinte Torm das. Du kennst ja Vaters unmäßige Prinzipienreiterei. Und Emanuel ist ja auch nicht nachgiebig, sobald es sich um seinen Glauben handelt.«

»Ach, nein, darin gebe ich dir völlig recht. Übrigens – da du es doch selbst sagst – Pastor Petersen und ich sprachen auf dem Wege hierher gerade über deinen Bruder. Pastor Petersen meinte, dein Bruder müßte wohl einen bestimmten Zweck mit seinem Aufenthalt hier verbinden.«

»Einen bestimmten Zweck? . . . Wieso?« fragte Betty und sah auf.

»Ach, ich meine nur, dein Bruder hat wohl die Absicht, erneute Annäherung an seine ehemaligen Freunde hier zu suchen . . . und vielleicht auch drüben auf der anderen Seite des Fjordes. Er hat wohl überhaupt in Kopenhagen kaum die Aufnahme gefunden, auf die er gerechnet hatte.«

»Welche Aufnahme meinst du?«

»Liebste, nimm es doch nicht so feierlich! Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie leicht man zu Anfang in seinen Hoffnungen enttäuscht wird, wenn man vom Lande, wo man ja überall ganz selbstverständlich ›Nummer eins‹ war, in die Stadt kommt. Man fühlt sich so oft übersehen und zurückgesetzt . . .«

Frau Bettys Stimme bebte leicht, als sie erwiderte:

»Wenn sich mein Bruder diese anderthalb Jahre in Kopenhagen aufgehalten hat, so ist das nur geschehen, weil er das für seine Entwicklung notwendig gehalten hat. Man kann darüber denken, wie man will; aber man hat nicht das Recht, dieser Sache eine eigennützige Absicht unterzuschieben.«

»Liebe Betty, das tue ich wahrhaftig nicht. Aber du kannst es doch wohl nicht ganz unnatürlich finden, daß deines Bruders Verhältnis zum Beispiel seinen nächsten Angehörigen gegenüber – eine gewisse Verwunderung erregen kann.«

»Was meinst du damit?«

»Ja, verzeih . . . ich will nicht gern indiskret sein. Aber du legst mir wirklich die Frage auf die Zunge. Was hat eigentlich seine Frau zu der langen Trennung gesagt?«

»Selbstverständlich hat sie sie völlig gebilligt . . . ja, sie hat sie Emanuels wegen ausdrücklich gewünscht.«

Frau Betty war wieder rot geworden. Es war nämlich auch das erstemal, daß die Frau des Bruders zwischen ihnen erwähnt war. Wie verschiedene andere hatte auch Frau Betty seinerzeit auf eine Verbindung der Freundin und Emanuel gehofft, und sie glaubte zu wissen, daß Ragnhild wesentlich Schuld daran trug, daß die Hoffnung nicht in Erfüllung gegangen war.

»So, also über dies alles habt ihr, Pastor Petersen und du, zusammen geredet,« sagte sie nach kurzem Schweigen. »Es hat mich übrigens nicht wenig überrascht, den Pastor hier zu treffen. Zu der Reise muß er sich ja recht plötzlich entschlossen haben!«

»Das hat er auch wohl.«

»Was kann ihn eigentlich hierher geführt haben? Er ist doch nicht in dich verliebt, Ragnhild?«

»Das weiß ich wirklich nicht. Ich hab' ihn nicht danach gefragt.«

»Aber du magst seine Gesellschaft doch gern. Er ist ja unterhaltend.«

»Ja, er amüsiert mich. Es ist so eine drollige Hanswurstfigur. Mein Gott, du! Wir können doch nicht alle umhergehen und sorgenbelastete Weltverbesserer sein!«

»Du solltest dich doch wohl ein bißchen in Acht nehmen, Ragnhild; Pastor Petersen ist – trotz seines Alters – wohl keineswegs ungefährlich. Er steht ja auch in dem Ruf, ein großer Freund des weiblichen Geschlechts zu sein.«

Ragnhild lachte hell auf.

»Du, Betty, ich glaube, das kann man von den meisten Männern sagen. Was hat deine eigene Erfahrung dich gelehrt?«

Frau Betty antwortete nicht. Sie fühlte sich wieder verletzt durch den Ton der Freundin und ihre freie Ausdrucksweise. Sie hatte überhaupt angefangen, in ihrem Verhältnis zu ihr ein wenig von derselben Befangenheit zu spüren, die Ragnhild in der allerersten Zeit ihrer Bekanntschaft durch ihre ein wenig nach der Provinz schmeckenden Vorliebe für auffallende Toiletten bei ihr hervorgerufen hatte. Und im stillen dachte sie daran, ob es nicht doch gut sei, daß die Verbindung zwischen ihr und Emanuel sich nicht verwirklicht hatte.

* * *

Da draußen auf der sonnigheißen Landstraße wanderten währenddes Emanuel und Pastor Petersen. Langsam stiegen sie den gewundenen Weg hinan, der über eine Reihe kahler Erderhöhungen, den sogenannten »Hammerhügeln«, hinführte, die nach Westen zu den Abschluß des Landes bildeten . . . eine öde und schweigende Heidelandschaft, über deren höchstem und entferntestem Gipfel ein kreuzförmiges Seezeichen sich dunkel von dem hellen Himmel abhob.

Beständig führte Pastor Petersen das Wort. Emanuels Gemüt hatte nach dem Zusammenstoß mit Fräulein Ragnhild das Gleichgewicht noch nicht wiedergefunden. Sein Antlitz war noch bleich und er ging halbabgewendet und sah in unruhiger Geistesabwesenheit über die spiegelblaue Meeresbucht hinaus.

Wieder war es die »Freundesgemeinschaft« und ihre reformatorischen Bestrebungen, die der stets scherzhafte Pastor Petersen aufs Tapet gebracht hatte.

»Ich will Ihnen sagen,« – versetzte er, – »auch ich mache mich wahrhaftig bekannt mit den vielen Aufsehen erregenden Flugschriften und Flugblättern und anderen Fluggerätschaften, mit denen verehrte Zeitgenossen gegen den Himmel Sturm laufen. Man will ja gern mit der Zeit fortschreiten, nicht wahr . . . obwohl das für einen alternden Kavalier oft seine Schwierigkeit haben kann. Die Zeit huscht so schrecklich schnell vorüber, da begibt man sich eines Abends getrost zur Ruhe im Bewußtsein seines auf den allerneuesten Forschungen gewissenhaft gegründeten Glaubens – und am nächsten Morgen liest man in seinem Flugblatt, unter einem Aufruf zu erneutem Abonnement, daß man bereits sehr weit zurückgeblieben ist, daß die Wissenschaft dem lieben Gott neue Geheimnisse abgelauert hat und daß die Lösung aller Rätsel jetzt im neuen Quartal folgen wird. Finden Sie nicht auch, Herr Hansted, daß die Herren Wilhelm Pram und Pastor Magensen mit samt ihrer Suite ein kleines bißchen weniger gewaltsam vorgehen könnten? Es scheint mir, als ob die guten Leute etwas zu sehr den Eindruck ausgebrochener Zuchthäusler hervorrufen, die das Freiheitsgefühl ganz kannibalisch gemacht hat. Nicht genug damit, daß sie die Christusgestalt selbst aller Göttlichkeit entkleidet, den Erlöser schlecht und recht zu einem aufrührerischen Zimmermannssohn, zu einem Sozialisten mit Halluzinationen und andern menschlichen Schwächen gemacht haben. Ich habe neulich gesehen, daß einer von Herrn Prams aufgeklärten Laaländern einen wahren Massenmord zwischen allen übernatürlichen Vorstellungen des Christentums überhaupt angerichtet hatte. Selbst die unschuldigen kleinen Gottesengel wurden schonungslos abgeschlachtet und unter vielem Geschrei in das gemeinsame Grab der Phantasiegebilde geworfen. – Ja, alles ist eine Wissenschaft, sagte der Teufel und blies die Altarlichter mit dem Hintern aus! Ich verstehe nur nicht, was für ein Vergnügen diese gelehrten Herren von ihren blutigen, den Göttern des neuen Quartals dargebrachten Opfern haben können. Daß es den offenkundigen Gottesleugnern, den Freigeistern eine Wonne ist, das Christentum so zu einem trocknen, historischen Skelett reduziert zu sehen, zu einer Art von religiösem Gespenst, das sich sonderbarerweise noch bis in unser aufgeklärtes Zeitalter hinein erhalten hat . . . das kann ich begreifen, ja, das finde ich ganz in der Ordnung. Aber wenn man doch mitspielen und einen Einsatz in die große Himmelslotterie machen will, dann begreife ich wahrhaftig nicht, wie man so erpicht darauf sein kann, so viele Nieten wie möglich zu konstatieren. Ich für mein Teil gestehe ehrlich, daß ich die Kollektion vorziehe, die mir den lockendsten Gewinst in Aussicht stellt. Und wie alle unverbesserlichen Spieler zweifle ich nicht einen Augenblick daran, daß ich das glückbringende Los in Händen halte.«

Emanuel war allmählich aufmerksam geworden; der Pater hatte mit seinen Worten Fragen berührt, die ihn tiefinnerlich selbst bewegten. Trotz seines Beschlusses, nicht ernsthaft mit diesem Mann zu reden, konnte er es deswegen doch nicht unterlassen zu sagen:

»Mir sind – Gott sei Dank! – selbst die Augen für die Verirrung aufgegangen, die darin liegt, einen irdischen Maßstab an Dinge zu legen, die nur Wirklichkeit für das geöffnete Auge der Seele haben. All den Streit über die Glaubwürdigkeit der biblischen Erzählungen verstehe ich deswegen gar nicht. Selbst in dem Bericht von dem Leiden und dem Tode Jesu hat doch nicht die Wirklichkeit der Sache die entscheidende Bedeutung für uns. Aber – ich leugne nicht – ebenso falsch scheint es mir, das Verhältnis zu unserm himmlischen Vater als eine Art zweifelhaften Geschäfts auffassen zu wollen, als ein gewagtes Glücksspiel, da doch der Glaube, die Hingebung – der ›Einsatz‹, wie Sie sich ausdrückten – die Belohnung in sich selbst trägt. Nie kann die Furcht vor künftigen Strafen in der Ewigkeit so wenig wie die Erwartung eines Lebens im jenseitigen Himmelreich für das Verhältnis des wahren Christen zum himmlischen Vater entscheidend sein, sondern allein das Bewußtsein, demütig seinen Willen zu tun. Weshalb überhaupt immer so reden, als wenn ›das andere Leben‹ erst mit dem Tode begönne? Doch allein das lebendige Gefühl, vor dem Antlitz des Herrn zu wandern, ist die Freude der Seligkeit, die schon hier auf Erden den Kindern Gottes vergönnt ist, – und daran vermag weder eine Bibelkritik, noch sonst eine wissenschaftliche Erfindung zu rütteln, geschweige denn kann sie sie uns nehmen.«

»Hm – ja,« räusperte sich sein Begleiter.

»Aber es ist übrigens wohl fruchtlos, diese Unterhaltung fortzusetzen,« schloß Emanuel, der schnell seine Vertraulichkeit bereut hatte. »Wir haben sicher so weit auseinandergehende Anschauungen, daß ein Verständnis kaum . . .«

»Ach was, lassen Sie uns nur frisch von der Leber weg reden!« rief der Pater lebhaft aus. »Noch stolzieren wir hier ja doch beide auf der Erde herum und reden die Sprache der Menschen und sind den gleichen menschlichen Bedingungen unterworfen . . . was mich übrigens daran erinnert, daß ich einen Auftrag für Sie habe, Herr Hansted . . . oder eine Vorfrage, wie Sie es nun nennen wollen. Ich traf vor einigen Tagen meinen Vetter, den Stiftspropst, den Sie auch ja persönlich aus Ihres Vaters Haus kennen. Wir kamen unter anderem auch auf Sie zu sprechen und auf Ihren Entschluß, kein neues Amt in der Staatskirche zu übernehmen, – was der Stiftspropst sehr bedauerte. Denn – nicht wahr? – das ist ja andauernd Ihr Standpunkt?«

»Ja.«

»Sie können sich gar nicht die Möglichkeit denken, sich überreden zu lassen, es mit einer andern – einer neuen und guten – Pfarre zu versuchen?«

»Nein.«

»Und warum eigentlich nicht?«

»Weil ich das nicht würde tun können, ohne das Wahrheitsverhältnis entweder zu Gott oder zu den Menschen zu verletzen.«

»Weil Sie die Lehre der bestehenden Kirche für eine Irrlehre halten?«

»Weil ich in ihr mehr von den Äußerlichkeiten des Heidentums, als von der Innerlichkeit des Christentums gefunden habe . . . ja.«

»Hören Sie jetzt einmal, Herr Pastor Hansted!« begann der Pater, indem er, beide Hände in die Seiten gestemmt, vor ihm stehen blieb. »Ich bin zwanzig Jahre älter als Sie, daher habe ich wohl das Recht, Ihnen gegenüber eine etwas freie Sprache zu gebrauchen. So will ich Ihnen denn erstens erzählen, – was zu verstehen Ihnen vielleicht etwas schwer werden wird –, daß auch ich in meinen jungen Jahren dagesessen und in Meister Eckehart, Johannes Tauler, Sören Kierkegaard und wie nun alle die anderen kanonisierten Saltomortaleakrobaten heißen mögen, die in alten und in neuen Zeiten ein nervöses Publikum verwirrt gemacht haben, – geforscht habe, bis mir schwindelte und mir der Schweiß von der Stirne troff. Ich rede daher aus Erfahrung, wenn ich Ihnen sage: Nehmen Sie sich in acht, daß Sie sich nicht den Hals brechen! Wollen Sie meinen Rat befolgen, so nehmen Sie ohne Skrupel ein neues Pfarramt mit soliden Einnahmen und einer guten Ackerwirtschaft an – das hilft so herrlich, um wieder in ein vernünftiges Verhältnis zum Leben zu kommen! das sagte auch Ihr Vater, als ich neulich mit ihm sprach, ehe er nach Karlsbad reiste. Ich kann es mir auch nicht anders denken, als daß Sie im innersten Innern selbst das Bedürfnis empfinden müssen, hier im Leben wieder festen Fuß zu fassen, unabhängig und selbständig zu werden . . . ja, entschuldigen Sie, daß ich es sage . . . aber Sie werden doch wahrscheinlich noch deutlicher als andere gefühlt haben, daß Ihr Vater gerade nicht mit Befriedigung Zeuge Ihrer letzten Entwicklung gewesen ist. Sie könnten dem alten Herrn nun eine große Freude machen, indem Sie meinen freundschaftlichen Rat befolgten. Großer Gott, Ihr Vater hat doch kaum mehr lange Zeit zu leben, Sie wissen, wie schwach und niedergebeugt er ist, – es liegt nun in Ihrer Hand, seine letzten Tage so leicht und sorgenlos wie möglich zu machen.«

Emanuel starrte zu Boden und antwortete nicht. Er hatte schnell begriffen, daß seine Familie hinter diesem erneuten Versuch, seine Gedanken von Gott abzuwenden, steckte, – und sein Herz war schwer von Kummer.

Indessen mißverstand der Pater sein Schweigen und fuhr eifrig mit seinen Überredungen fort. Mit einer breiten Handbewegung zeigte er auf die sommerlich üppige Wiesenlandschaft hin, die sie von ihrem hohen Stand aus ganz bis an die andere Seite des Sandinger Dorfes übersehen konnten, und sagte:

»Sehen Sie sich doch nur um, bester Herr Hansted! lassen Sie sich nicht länger verblenden von den vielen Verleumdern des Erdenlebens! Sehen Sie die Kühe da unten an, wie wohlbehaglich sie dastehen und mit dem Schwanz schlagen! Hören Sie die Vögel da unten in den Büschen, wie froh sie sind über ihre Eier und ihre Jungen! oder sehen Sie die dicke verwirrte Biene da, die ihren ganzen zottigen Kopf in die Glockenblume hineinsteckt, wie ein durstiger Deutscher in seinen Bierkrug. Und dann sollten uns Menschen die Fähigkeiten abgehen, es uns hier auf Erden menschlich einzurichten! . . . Schlagen Sie sich doch alle Grillen aus dem Kopf, lieber Freund! Sie werden es noch einmal bereuen, wenn Sie jetzt die liebenswürdige Einladung des Lebens nicht annehmen! Ich will Ihnen erzählen, daß mein Vetter, der Stiftspropst, ausdrücklich mit mir über ein vakantes Pfarramt sprach, das vorzüglich für Sie passen würde. Eine schöne Gegend mit Wald und See, ein ausgezeichnetes Pfarrhaus in altmodischem, idyllischem Stil – ähnlich wie das da unten in Sandinge – mit einem herrlichen Garten, in dem Ihre Kinder sich tummeln können, nicht länger als eine gute Viertelmeile bis zu der Nebenpfarre und eine höchst friedliche Bevölkerung. Nicht wahr! das ist doch nicht zu verachten! . . . Was sagen Sie dazu? Kann Sie das wirklich nicht versuchen?«

Emanuel stand noch immer schweigend da und sah zu Boden. Die Worte des Paters und die Handbewegung, die öde, wüstenähnliche Anhöhe, auf der sie standen, das große Schweigen, das sie umgab, und dieser weite Blick auf die fruchtbare Ebene . . . das alles rief ihm wunderbar jenen Augenblick in dem irdischen Leben seines Herrn und Meisters ins Gedächtnis, wo der Versucher kam und zu ihm sagte: »Das alles will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest!« – Im selben Augenblick ward ihm alles offenbar. Er verstand, daß Gott durch diesen fremden Menschen von neuem die Kraft seiner Treue hatte prüfen, seinen Mut, ihm auf dem schwindelnden Pfade des Glaubens zu folgen, hatte versuchen wollen, . . . »den Kindern der Welt zum Ärgernis.«

Er erhob den Kopf. Auf seinen Zügen lag ein gleichsam verklärtes Licht, als er sagte:

»Sie meinen es sicher gut mit mir, Herr Pastor. Aber . . . ich erwähnte es bereits vorhin . . . wir verstehen einander wohl kaum. Unsere Wege sind nicht dieselben, und mit jedem Tage, der vergeht, werden sie sich weiter voneinander entfernen. Das bitte ich denen zu sagen, die Sie zu mir gesandt haben. Sagen Sie ihnen, daß ich von Herzen betrübt bin, ihnen Kummer bereiten zu müssen. Und doch bin ich getrost. Sagen Sie ihnen, daß ich täglich bete, daß wir uns einst vor dem Antlitz des Herrn begegnen werden. – Gottes Frieden, Herr Pastor!«

* * *

Gehoben und gestärkt durch diese Begegnung, setzte Emanuel seine Wanderung über die Heide fort. Es währte jedoch nicht lange, bis seine Gedanken wieder langsam der Erde zuschwebten. Er mußte darüber nachdenken, was wohl der Grund zu dem Interesse sein könne, das ihm Pastor Petersen in der letzten Zeit so deutlich erwiesen hatte. Es sah fast aus, als sei dem Pastor daran gelegen, ihn zu entfernen und wohl zu versorgen. Sollte wirklich von einem beginnenden Verhältnis zwischen ihm und Fräulein Ragnhild die Rede sein können? fragte er sich selbst, und war damit von neuem wieder tief in den labyrinthischen Gedankengang hineingeraten, in dem er sich Tag und Nacht voller Angst und Unruhe verirrte.

Fräulein Ragnhild – ja! Auch an sie hatte er in dieser Nacht gedacht, als er wach lag und zurücksah auf den gewundenen Weg, auf dem ihn Gott zu sich emporgeleitet hatte. Seine Gedanken hatten bei der Erinnerung an jene Tage der Erniedrigung, unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Kopenhagen, verweilt, als er, – unschlüssig mit sich selbst, verzweifelnd an allem, verführt durch die Überredungen seiner Umgebung, – einen Augenblick Vergessen für seine fehlgeschlagene Hoffnung in dem Taumel des Lebens gesucht hatte und im Begriff gewesen war, seine Seele an die Götzen des Marktes zu verschachern. Wie in einer Vision hatte er von neuem jenen Winterabend nach der Geburtstagsgesellschaft seines verstorbenen Schwagers erlebt, als er, erregt durch Speisen und Weine, verwirrt von dem Licht und dem Flitterglanz des Festes, entzückt von Fräulein Ragnhilds weißen Schultern, sie durch die dunklen Straßen nach Hause begleitet und vor ihrer Tür ihre Hand ergriffen hatte, ein Geständnis auf den Lippen. Sie hatte ihn von sich gestoßen, und er war von dannen gegangen, mit siedendem Blut und erbittertem Sinn. Aber als er in seinem Zimmer anlangte und ein Streichholz anstrich, um die Lampe anzuzünden, fiel sein Blick im selben Augenblick auf den großen, dornengekrönten Christuskopf, der an der Wand über dem Schreibtisch hing, – und er zuckte zusammen. In dem flackernden Lichtschein war es ihm, als wenn das Bild auf einmal lebendig würde. Die schweren Augenlider hoben sich, die tiefen Augen sahen ihn mit einem zu Tode betrübten Blick an, der zu sagen schien: »Warum hast du mich verlassen!«

In jener Nacht begann der verzehrende Seelenkampf, der seither seinem Herzen keine Ruhe mehr gelassen. Wie Jakob in der biblischen Erzählung, hatte er mit Gott gekämpft und in seiner Not zu ihm gerufen: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!

Er hatte zuweilen geglaubt, daß der Kampf ausgekämpft, daß der Sieg gewonnen, das Joch der Sünde abgeworfen war! Einmal über das andere hatte er gemeint, an Hansine schreiben zu können, daß jetzt die freudenvolle Zeit gekommen sei, wo sie in geläuterter Liebe wieder vereint werden und ihren Treuebund für die Ewigkeit erneuern könnten. So auch in dieser Nacht. Während er schlaflos dalag und dem unaufhörlichen Fall des Regens lauschte, hatte er sich wie erhoben über die Not und das Weh des Erdenlebens gefühlt, zu seliger Vereinigung mit Gott. Sein Herz schlug so still und friedlich; kein irdisches Verlangen, keine Sorge verdüsterte seinen Sinn. Er fühlte seine Seele wie einen ausgedehnten spiegelblanken See, im himmlischen Licht gebadet.

Jetzt hatte die Begegnung mit Fräulein Ragnhild die Dämonen des Fleisches wieder erweckt . . . er hatte sein Herz heftig pochen fühlen, als er sie an der Seite des fremden Mannes auftauchen sah. Ach, er wollte nicht klagen, nicht verzweifeln, vor allem Gott nicht vermessen zur Rechenschaft ziehen. Er begriff es nur zu gut, daß er, der so tief gefallen, erst spät und nach harten Prüfungen auf Erhebung rechnen durfte. Doch hatte er oft darüber nachgegrübelt, warum ihn Gott gerade um eines leichtfertigen Weibes willen noch in den Schlingen des Todes hielt, – ihn, der nie zuvor einen unkeuschen Gedanken gehabt, der sich nie gegen das sechste Gebot versündigt hatte. – –

Wie er so in Gedanken dahinschritt, ward er aufmerksam auf eine kleine Heidehütte, die unmittelbar am Wege vor ihm auftauchte. Eine zerlumpte Frau stand davor und zerkleinerte Reisig, und an dem sonnenbeschienenen Giebel saß ein grauhaariger Krüppel auf einem Strohbündel und lallte wie ein Kind.

Emanuel blieb unwillkürlich stehen. Es war jetzt solange her, seit er dem ungeschminkten menschlichen Elend von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden hatte, daß er bei diesem Anblick stutzte. Er erinnerte sich der Moorhäuser, drüben in seiner früheren Heimat, – jener Gruppe jammervoller Lehmhütten, deren Not und Entbehrungen er seinerzeit durch eigene und anderer Hilfe zu lindern gesucht hatte – und er verfiel in Sinnen. Ach, wie wenig hatte er doch damals verstanden, was zum Heile der Menschen diente!

Als ihn die Frau endlich erblickte, näherte er sich und bot ihr Gottes Frieden.

Aber statt zu antworten, murmelte die Frau einen Fluch und gab deutlich zu erkennen, daß sie sich nicht mit ihm einzulassen wünschte.

»Warum antwortest du mit einem Fluch auf meinen Gruß?« fragte Emanuel sanftmütig. »Ich komme nicht mit Bösem und ich will nicht mit etwas Gutem von euch gehen – wie das Sprichwort lautet. Ich bin dein Freund. Und deswegen biete ich dir nochmals Gottes Frieden!«

Die Frau blickte endlich auf, – aber mit einem Blick, der ihn fast bange machte, so gehässig und schlecht war er. Überhaupt sah er sie jetzt erst richtig an. Sie machte einen unheimlichen Eindruck in ihren schmutzigen Lumpen, von Mannesgröße und fett, wie sie war, aufgedunsen von Ungesundheit und Trunk.

Aus dem Hause her ertönten schleppende Schritte. Eine alte, ganz gebeugte Frau mit einem unförmlich großen Kopf kroch bis in die Tür, wo sie stehen blieb, die eine runzelige Hand auf einen Stock gestützt, die andere auf den Türpfosten, während sie mit hungriger Miene den Mund bewegte, als kaue sie auf ihrer eigenen Zunge.

Emanuel ging plötzlich ein Licht auf. Er entsann sich, daß er in früheren Zeiten in der Sandinger Hochschule von einer Frau mit Namen »schwarze Trine« gehört hatte, die der Schrecken der ganzen Gegend war, und deren gehässigen und trotzigen Sinn weder freundliche Annäherungen noch gute Gaben zu mildern vermochten. Er wußte auch, daß der Mann dieser Frau einmal durch einen Erdrutsch bei der Arbeit an der neuen Bahn zum Krüppel zerquetscht war, und er zweifelte deswegen nicht daran, wen er hier vor sich hatte.

Nach kurzem Schweigen sagte er, noch immer milde und friedlich:

»Warum siehst du nicht fröhlich aus? . . . Ich stand hier gerade und dachte daran, wie glücklich und dankbar du doch sein müßtest . . . du, die du ja zu der auserwählten Schar gehörst, die Gott mit dem Taufzeichen seiner Liebe begnadigt hat. Denn – ich sehe es – du bist arm, nicht wahr? Du hast wohl so eben das Stroh, auf das du deinen Kopf legen kannst. Du bist von der Welt verleugnet, ausgestoßen aus der Gemeinschaft der Menschen . . . fremd und friedlos hier auf Erden. Warum bist du da nicht fröhlich?«

Die Frau senkte die Axt und sah ihn erstaunt an. In dem Ton pflegte man nicht mit ihr von ihrem Elend zu reden.

»Verstehst du mich nicht?« fuhr er fort. »Ist es denn nicht wahr, daß ihr Armen von Gott im voraus als Gabe erhalten habt, wonach wir andern so schmerzlich seufzen müssen . . . wir, die wir uns noch unter dem kummervollen Joch der Welt hinschleppen . . . wir, die wir uns noch in der Stunde der Todesangst an den Staub klammern, wie der Dieb an seinen geraubten Schatz. Ihr seid glücklich . . . ihr, die ihr keine andere Begierde kennt, als nur das Leben zu erhalten . . . die ihr an diese elende Welt nur durch den dünnen Faden des Selbsterhaltungstriebes gekettet seid, den der Tod durchschneidet, ohne daß ihr Schmerz dabei empfindet. Und dennoch bist du nicht fröhlich, Trine!«

Die Frau starrte ihn mit weitgeöffnetem Mund und aufgesperrten Augen an. Es war jedoch weniger seine Rede – von der sie nicht sonderlich viel verstand – als der Umstand, sich von diesem wildfremden Mann, der einen so überwältigenden Eindruck auf sie machte, bei Namen genannt zu hören. Er kannte sie also!

Sie strich sich mit dem Arm über die schwarze, schweißperlende Stirn und murmelte:

»Wer seid Ihr, mit Erlaubnis zu fragen?«

»Ein Mensch, der dich beneidet, . . . einer von den Sklaven der Welt, der vergebens kämpft, um die Sklavenbande abzustreifen. Ein armer Verirrter bin ich, der hier vor dir Buße tut, weil er einstmals der schlechten Rede der Menschen lauschte und deinesgleichen Gutes zu tun glaubte, indem er sie ihres einzigen Besitzes berauben wollte: der Armut, der Befreiung der Seele, des Abglanzes der Ewigkeit hier auf Erden, wie geschrieben stehet. Verstehst du mich nun, dann wirst du Mitleid mit mir haben. – Und so biete ich dir denn zum dritten Male: Gottes Frieden! Geh' in dein Haus, Trine, und lobe den Herrn! Vergiß aber auch nicht, für die zu beten, die nicht so glücklich sind, einen Platz an der Türschwelle des Himmels zu haben . . . Bete für mich!«

Er reichte ihr die Hand.

Ein schadenfrohes Lächeln umspielte ihre dicken Lippen.

Er ist verrückt, dachte sie.

Doch war da etwas in seinem Wesen, in dem milden Blick seiner Augen, in dieser bittenden, ausgestreckten Hand, dem sie auf die Dauer nicht widerstand.

»Willst du mir die Hand nicht geben?« fragte er.

Zögernd, halb widerstrebend reichte sie ihm schließlich ihre grobe Faust.

* * *

Der Weg, dem Emanuel folgte, war allmählich zu ein paar tiefen Wagenspuren zusammengeschrumpft, zu zwei gelblichweißen Sandstreifen, die sich in Windungen durch die dunkle Heide zogen. Schließlich hörten auch diese auf. Nur ein schmaler Fußpfad führte weiter durch die schweigende Öde, über der eine einsame Lerche mit verzweifelter Kraft zwitscherte, als wolle sie sich ihre Angst über die Einsamkeit des Ortes wegsingen.

Er erreichte endlich das Ziel seiner Wanderung, das große Seezeichen, das da oben auf der äußersten Landzunge, wo das Ufer endete, aufragte. Ein steiler und wild zerklüfteter Abhang stürzte sich hier in das Meer und die steinige Fjordmündung hinab.

Über das Meer hinaus hat man immer einen weiten Blick. Aber auch über die breite Fjordmündung hatte man eine weite Aussicht bis an das Ufer drüben auf der andern Seite . . . ein nacktes, wellenförmiges Ackerland, durchkreuzt von langen, schnurgeraden Steindeichen, die sich wie stärkende Rippen über die Hügel hinzogen. Da drüben auf dem höchsten Punkt des Landes sah man Vejlby mit den hochragenden Bäumen des Pfarrgartens liegen. Weiter nach Süden zu lag die Skibberuper Landzunge mit der einsamen Kirche wie eine Insel im Fjorde.

Emanuel stand am Fuße des Seezeichens still. Mit bebenden Lippen und tränengefüllten Augen starrte er nach seinem Heim hinüber, . . . nach dem Fleck Erde, um den seine Gedanken bei Tag und Nacht gekreist hatten wie der Vogel um sein Nest. Seine Augen wurden bald heimisch da drüben zwischen den langen Steindeichen. Er erkannte jedes Haus, jeden Busch, jeden Hügel wieder – und sein Herz strömte über. Da hinten an der hohen Weidenhecke entlang lief der Steig, auf dem er und Hansine in dem ersten Jahr ihrer Ehe, wenn sie einen Abendspaziergang an den Strand hinab machten, so oft gewandert waren. Und da – o Gott! – die Kirche dort, wo der Bube den langen Schlaf unter dem Rasen schlief. Sein frischer, schöner Junge! Die schönste Freude seines Lebens! . . . Und da? Ja, da, hinter den drei dunklen Hügeln verkroch sich Skibberup. Da wohnte Hansine, . . . da ging sie vielleicht gerade jetzt und dachte an ihn, . . . saß vielleicht am Krankenbett der lieben, alten Else und dachte an ihn. Wie deutlich sah er nicht die kleine gelbgetünchte Halbhufe vor sich, mit dem niedrigen Torweg und dem geteerten Fachwerk, die altmodische Stube mit dem dunkeln Lehmfußboden und den vielscheibigen Fenstern, durch die die Sonne mit einem goldenen, sonntäglich festlichen Glanz fiel. Wie oft hatte er nicht in seinen wachen Träumen in einer späten Abendstunde dort vor der Tür der Hütte gestanden und leise angeklopft . . . ein wegesmüder Wandersmann, ein ermatteter Pilgerer, der seinen langen Bußgang auf nackten, blutigen Füßen beendet hat. Leise erhebt sich Hansine vom Stuhl an der Mutter Lager, öffnet das Fenster ein wenig und fragt, wer da ist. Und als sie ihn erkannt hat, kommt sie still heraus und reicht ihm die Hand mit den Worten: »Willkommen! Ich habe dich erwartet!« Jubelnd preßt er sie an seine Brust. Und um die Kranke nicht zu wecken, gehen sie in den Garten hinaus, und setzen sich auf das kleine Deichende, von wo sich die Aussicht über die Wiesen erschließt und wo sie in ihrer Verlobungszeit in stillen Sommernächten so oft gesessen und von ihrer Zukunft geredet haben. Jetzt sitzen sie wieder Hand in Hand unter dem Sternenhimmel da und reden von kommenden Tagen . . . reden auch von der vergangenen Zeit, von diesen schweren Jahren der Trennung, in denen sie einander erst so recht gefunden und verstanden haben. Und Hansine sagt: »Sei nicht böse über mein Schweigen und meine kurzen Briefe. Glaube niemals, daß ich daran gezweifelt habe, daß du einmal wiederkommen würdest. Ich habe hier jeden Tag gesessen und dich erwartet; und in jeder schlaflosen Nacht habe ich nach deinen Fußtritten hinausgehorcht. Denn ich wußte, daß du an dem Tag kommen würdest, an dem dein Kampf ausgestritten war!«

*

Als Emanuel einige Stunden später nach Hause kam, ging er gleich in sein Zimmer – einer niedrigen Bauernstube mit getünchten Wänden – und setzte sich an den Tisch, um an Hansine zu schreiben. Fast täglich in diesen Jahren hatte er ihr lange, vertrauliche Briefe gesandt, in denen er umständlich von allem Bericht erstattete, was ihm und den Kindern begegnete, und ihr offenherzig alle seine Anfechtungen gestand. Kaum hatte er jedoch die Feder eingetaucht, als seine Ohren den Laut eines munteren Lachens auffingen, das aus dem Garten her zu ihm drang.

Fräulein Tönnesen! . . . durchzuckte es ihn.

Er warf einen Blick durch das Fenster. Da stand sie an der Gartenpforte mit Betty und Pastor Petersen, der zur höchlichen Belustigung der Damen mit einem großen Badehandtuch nach den Fliegen schlug. Um nicht gesehen zu werden, zog er sich tiefer in die Stube zurück; und hier drinnen, aus der Dunkelheit heraus, sah er jetzt, wie der Pater Ragnhild galant den Arm bot und sie nach einer Weile wegführte.

Mit einem förmlich gebrochenen Blick starrte er ihnen nach, bis sie beide verschwunden waren. Und plötzlich stürzte er auf die Knie nieder, rang angsterfüllt die Hände über dem Kopf und stöhnte laut:

»Herr, Herr! Ich lasse dich nicht . . . ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!«



 << zurück weiter >>