Henrik Pontoppidan
Das gelobte Land
Henrik Pontoppidan

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Dritter Teil

An einem Sonntag nachmittag im Mai war das Versammlungshaus in Skibberup mit einer großen Schar von Menschen angefüllt, auf deren gespannt erwartungsvollen Gesichtern man lesen konnte, daß etwas Ungewöhnliches bevorstand. Es war in Wirklichkeit auch ein Merktag in der Geschichte des Dorfes Skibberup. Der Redner, den man heute erwartete, war kein Geringerer als Propst Tönnesens Kaplan, Herr Pastor Hansted.

Jeder Platz in dem langgestreckten, halbdunklen Saal – einer ehemaligen Scheune – war besetzt, und in den geöffneten Fenstern baumelten Haufen von Knechten und Burschen, die mit ihren Körpern das halbe Tageslicht aussperrten. Überall ertönte ein lebhaftes Summen von frohen und lauten Stimmen. Man merkte gleich, daß man keine Versammlung von Vejlbyer Bauern vor sich hatte; denn obwohl die Entfernung zwischen Vejlby und Skibberup nicht mehr als eine gute halbe Meile betrug, waren die Bewohner der beiden Zwillingsdörfer doch so verschieden, als wenn sie nicht demselben Landesteil angehörten. Dies Verhältnis beruhte auf keinem Zufall, sondern hatte seinen Grund in der ungleichen Belegenheit und den verschiedenen Lebensbedingungen, denen die Bewohner im Laufe der Zeit unterworfen gewesen waren. Während die sanftmütigen Vejlbyer Bauern von Olims Zeiten her sich ausschließlich damit beschäftigt hatten, ihre großen Äcker zu pflügen und die Ernte einzuheimsen, war Skibberup ursprünglich – und zum Teil noch jetzt – ein Fischerdorf, dessen Bewohner sich teilweise vom Meere ernährten. Noch vor ein paar Menschenaltern betrachteten die Skibberuper das Bestellen ihrer Felder als eine Art Nebensache, die man in der Regel den Frauen überließ, während sich die Männer auf abenteuerlichen Fahrten in nahen und fernen Fjorden umhertrieben und rings umher an den Küsten an Land gingen, um ihren Fang abzusetzen.

An dem einen Ende des Saales stand eine einfache Rednertribüne, hinter der die rohe Lehmwand der alten Scheune mit einer Dannebrogflagge bedeckt war, die man so aufgehängt hatte, daß sich das weiße Kreuz aufrecht von dem roten Grunde abhob. Die Bänkereihen vor der Rednertribüne waren fast ausschließlich von Frauen eingenommen, während die Männer in dem unteren Teil des Saales und an den Wänden zu beiden Seiten Platz gefunden hatten.

Eine besondere Aufmerksamkeit in der Versammlung erregte Else Anders Jörgen und ihre Tochter Hansine, die auf einer der mittleren Bankreihen saßen. Else Anders Jörgens üppige Gestalt mit den hellen vorstehenden Augen, dem stahlgrauen Haar und der großen Mütze aus Goldbrokat, von der zwei breite rote, seidene Bänder an der einen Seite herabhingen, würde in jeder Versammlung die Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben; aber der besondere Grund zu dem Aufsehen, das sie heute erregte, war der bekannte Umstand, daß der Kaplan und Weber Hansen in ihrem Hause die Zusammenkünfte gehabt hatten, die die Einleitung zu dem großen Ereignis dieses Tages bildeten.

Gewissermaßen glaubte man sogar, Else das glückliche Zustandekommen dieser Angelegenheit zu verdanken. Da sie nämlich bei des Kaplans und Weber Hansens erstem Zusammentreffen in ihrem Hause nicht zugegen gewesen war, und da sie bei ihrer Heimkehr von dem unglücklichen Ausfall hörte, den es gehabt, hatte sie den Beschluß gefaßt, auf eigene Hand Herrn Hansted aufzusuchen, für den sie – trotz allem – eine ungeschwächte Zuneigung bewahrt hatte, seit sie sich zum erstenmal am Krankenbett der Tochter begegnet waren. Gleich am folgenden Sonntag ging sie nach dem Gottesdienst vor der Kirche auf ihn zu und bat ihn, doch gelegentlich seinen Besuch bei ihr zu wiederholen, »um dort gute Freunde zu treffen, die gern mit ihm reden wollten.« Herr Hansted hatte gleich und mit Freuden ihre Aufforderung angenommen, und da sie sich im voraus Weber Hansens und einiger anderer leitender Männer Gegenwart gesichert hatte, kam es dann endlich zu einem ernsten Meinungsaustausch zwischen dem Kaplan und der Gemeinde.

Anläßlich dieser wiederholten Besuche Hansteds in Anders Jörgens Haus, hatten Hansines Freundinnen sie oft mit dem Kaplan geneckt, zu dem sie schon seit dem erstenmal, als sie ihn gesehen, eine heimliche Liebe im Herzen getragen haben sollte. Freilich protestierte sie selbst eifrig, ja, mit Zorn gegen diese Beschuldigung, und es hatte den Anschein, als ob sie, um ihre Unschuld noch zu bekräftigen, heute – im Gegensatz zu den meisten jungen Mädchen in der Versammlung – ein ganz einfaches dunkelgrünes, eigengemachtes Kleid ohne jeglichen Schmuck oder Besatz angezogen hatte.

Trotzdem sah sie gut aus; – nicht umsonst zählte man sie zu den hübschen Mädchen des Dorfes, obwohl ein kleines Mißverhältnis zwischen dem oberen Teil des Gesichts mit den dunklen zusammengewachsenen Brauen über den tiefliegenden ernsten Augen und der kindlich unentwickelten Form des Untergesichts herrschte. Sie saß nun da mit ihrer fast unnatürlichen steifen Haltung, die ihrer kleinen, gedrungenen Gestalt ein Gepräge von Selbstbewußtsein und Kraft verlieh und nahm weder Teil an dem lebhaften Geschwätze, das zwischen den Frauen in ihrer Nähe geführt wurde, noch hörte sie überhaupt danach hin. Dieser Mangel an Teilnahme für das, was um sie her vorging, war so altgewohnt an ihr, daß er bei niemand mehr Verwunderung erregte. Schon als sie noch ein Kind war, hatte man sich über die possierlich mürrische Miene gewundert, mit der sie jede – freundliche wie unfreundliche – Annäherung von Fremden beantwortete. Namentlich aber war ihre Verschlossenheit auffällig geworden, nachdem sie vor einigen Jahren Zögling einer ländlichen Hochschule gewesen war und in dieser Eigenschaft an einer »Freundesversammlung« in Kopenhagen teilgenommen hatte, wo unter anderen der alte Grundtvig selber geredet hatte – zum letztenmal. Seit jener Zeit sah man sie nicht oft außerhalb ihres Vaters Hauses und Feldes und namentlich hielt sie sich den zu jener Zeit noch ziemlich freien Vergnügungen, mit denen sich die Jugend des Dorfes an Sonntagen und an hellen Sommerabenden die Zeit vertrieb, völlig fern. Dahingegen hörte man sie beständig bei ihrer Arbeit im Stall und in der Küche singen, wie auch wenn sie mit der Milchtracht den langen Weg über die Felder hinaufging. Unter den Bewohnern des Dorfes machte man sich ein wenig lustig über sie, beachtete aber im übrigen ihre Eigenheiten nicht sonderlich. Sie war ja noch ein halbes Kind, erst 19 Jahre alt, und außerdem kannte man sehr wohl dies aparte Wesen von anderen jungen Mädchen der Gegend, die die Hochschule besucht hatten. Man wußte, daß immer eine geraume Zeit vergehen mußte, ehe sich die jungen Leute wieder in den einfachen, täglichen Bauernverhältnissen zurechtfanden.

Indessen war die Uhr fünf geworden, und der Kaplan hatte sich noch nicht eingefunden. Unter der Schar von Männern, die sich mit Weber Hansen an der Spitze an der Eingangstür versammelt hatten, um ihn zu empfangen, machte sich bereits einige Besorgnis bemerkbar. Man wußte, daß in der letzten Zeit ein sehr gespanntes Verhältnis zwischen Propst Tönnesen und dem Kaplan geherrscht hatte, nachdem sein Verkehr mit Weber Hansen und anderen bekannten Skibberupern dem Propst zu Ohren gekommen war. Und jetzt ängstigte man sich, daß Tönnesen – trotz aller Vorsichtsmaßregeln – zur Unzeit auch von dieser Zusammenkunft erfahren und im letzten Augenblick Herrn Hansteds Erscheinen geradezu verboten haben könne.

* * *

Endlich gewahrte man eine einsame Gestalt oben auf den Strandhügeln. Es war Emanuel. Er trug einen hellen Sommerüberzieher über dem einen Arm und ging mit hastigen Schritten nach dem Dorf hinab. Als er die wartende Schar vor dem Versammlungshaus erblickte, beschleunigte er seinen Gang noch mehr, und ein paar Minuten später stand er an der Eingangstür. Sein Gesicht war bleich, trotz der Wärme und des schnellen Marsches; die Augen trugen das Gepräge nervöser Unruhe. Mit stummem Händedruck begrüßte er ziemlich geistesabwesend Weber Hansen und ein paar von den umherstehenden Männern, worauf er sogleich den Saal betrat.

Hier verstummte augenblicklich jede Unterhaltung. Rings umher an den Wänden reckte man die Hälse, um sehen zu können. Mit seinen langen, affenartigen Armen bahnte ihm Weber Hansen einen Weg durch die Menge und führte ihn nach dem oberen Ende des Saales, wo er ihn aufforderte, sich auf den Ehrenplatz, einem alten Korbstuhl mit durchlöchertem Sitz, zu setzen. Nachdem hier ein paar Worte zwischen ihnen gewechselt waren, bestieg der Weber die Rednertribüne und zog ein Liederbuch aus der hinteren Rocktasche. Das Buch in den Händen stand er einige Augenblicke gänzlich schweigend da und ließ den Blick langsam über die Versammlung gleiten, während sich auf seinem Gesicht ein verschmitzt triumphierendes, Propst Tönnesen gewidmetes Lächeln ausbreitete, das von den Männern an den Fenstern und am unteren Ende des Saales mit einer verständnisvollen Munterkeit beantwortet wurde. Endlich sagte er mit seiner unschuldigklingenden Stimme:

»Ja, dann müssen wir wohl mit einem Lied anfangen, guten Freunde! Herr Pastor Hansted hat keinen besonderen Wunsch nach der Richtung hin, da können wir wählen, was wir selbst mögen. Was wollen wir denn singen?«

Aus der Versammlung wurde der Wunsch nach verschiedenen Gesängen laut. Schließlich einigte man sich auf: »Vorwärts, Bauer, vorwärts!« »Ja, dann singen wir das,« sagte der Weber mit einem neuen Lächeln. »Das ist ein Lied, das für uns paßt!«

Er gab selbst mit gellender Fistel den Ton an. Und gleich darauf brachen die Stimmen ohrenbetäubend von allen Seiten los. Es war kein Singen. Es war ein wildes Schreien ohne Maß, ein Berauschen in der eigenen Lungenkraft, das die Trommelhäute zu sprengen drohte.

Emanuel hatte sich in den Korbstuhl gesetzt, wo er vornüber gebeugt mit gekreuzten Beinen saß und sich oft unruhig mit der Hand durch das Haar fuhr. Er nahm nicht Teil an dem Gesang und fühlte sich überhaupt nicht so recht behaglich. Der düstere, ungemütliche Saal, die forschenden Blicke, die ihm von allen Seiten begegneten, sobald er den Kopf erhob, Weber Hansens prosaische Einleitungsworte, und dieser lärmende unharmonische Gesang hatten ihn einen Augenblick ganz aus der Stimmung gebracht.

Außerdem peinigte ihn der Gedanke, daß er infolge eines unberechenbaren Zufalles keine Gelegenheit gehabt hatte, Propst Tönnesen von seinem Entschluß, hier zu reden, Mitteilung zu machen. Mit wohlüberlegter Absicht hatte er dies bis zum letzten Augenblick hinausgeschoben, wie er auch Weber Hansen ersucht hatte, das Abhalten der Versammlung nicht öffentlich bekannt zu machen, damit sie so wenig wie möglich den Charakter einer Herausforderung bekäme. Aber als er kurz, bevor er das Pfarrhaus verließ, den Propst in der obengenannten Absicht aufgesucht hatte, war dieser zufällig eine halbe Stunde zuvor ausgefahren, um einen benachbarten Geistlichen zu besuchen. Da hatte er es denn für das Richtigste gehalten, wenigstens Fräulein Ragnhild, die indessen viel weniger Verwunderung verriet, als er erwartet hatte, Mitteilung von seinem Vorhaben zu machen. Sie hatte nämlich durch die alte Magd des Pfarrhauses allerlei von dem gehört, was man sich rings in der Gemeinde von dem Kaplan erzählte; und außerdem hatten verschiedene von seinen eigenen Äußerungen in letzter Zeit sie ahnen lassen, was bevorstand. War aber Fräulein Ragnhild nicht erstaunt, so war es Emanuel seinerseits um so mehr – infolge der ungewöhnlich bestimmten Art und Weise, mit der das Fräulein bei dieser Gelegenheit ihm gegenüber das Blatt vom Munde genommen hatte.

»Sie sind doch bei all Ihrer Verzagtheit ein ungewöhnlich leichtsinniger Mensch,« hatte sie gesagt. »Da stürzen Sie sich blindlings in etwas hinein, von dem Sie gar nicht wissen, was es ist – nur weil Sie sich in den Verhältnissen, in denen Sie sich augenblicklich befinden, nicht zufrieden fühlen. Es ist sicher ganz töricht von mir, wenn ich den Versuch mache, Sie zur Vernunft zu bringen. Aber ich will es doch nicht unterlassen, Sie zu bitten, ernsthaft zu bedenken, Herr Hansted, welche Folgen ein solcher Schritt für Sie haben kann . . . und auch für uns. Wenn Sie wissen – und das wissen Sie – auf welche Weise dieser Weber Hansen und seine Nachbeter Vater gegenüber aufgetreten sind, sollte man eigentlich meinen, daß es überflüssig sei, Sie darauf aufmerksam zu machen, wie, gelinde gesprochen, sonderbar . . . ja, geradezu unpassend jede Annäherung in diesem Falle erscheinen muß . . . und in Wirklichkeit auch ist.«

Ohne ihm Zeit zu einer Entgegnung zu lassen, hatte sie ihm damit den Rücken gewendet und war aus dem Zimmer gegangen.

Diese Worte und namentlich der Ton, in dem sie gesprochen wurden, hatten die letzten Schuppen von Emanuels Augen weggeblasen. Er war zwar keineswegs blind dafür gewesen, welche Folgen sein Auftreten im Versammlungssaal für ihn im Pfarrhaus – und anderwärts – haben würde. Namentlich war er völlig darauf vorbereitet, daß seine Tage als Propst Tönnesens Kaplan fortan gezählt sein würden. Aber er hatte doch geglaubt, daß man wenigstens seine ernste Überzeugung respektieren würde – ja, er hatte sogar eine schwache Hoffnung, daß der Sturm mit einer gütlichen Übereinkunft enden könne, nicht ganz fahren lassen wollen. Jetzt begriff er, daß jeder Versuch, einander gegenüber zu einem Verständnis zu gelangen, fruchtlos war; und gerade deswegen war es ihm doppelt peinlich, daß er dem Propst, infolge eines Zufalls, seinen Entschluß auf eine Weise verschwiegen hatte, die ihm als Feigheit ausgelegt werden konnte. Deswegen empfand er aber auch jetzt eine gesteigerte Sehnsucht, allen Ernstes mit seiner Vergangenheit zu brechen, und sich freizumachen. Selbst in diesem Augenblick, wo die Ungemütlichkeit des dunklen Saals und die geringe Feierlichkeit der Versammlung ihn ganz aus der Stimmung gebracht hatten, brannte seine Ungeduld, zu einer Entscheidung zu gelangen, die Brücken hinter sich abzubrechen und den Schritt zu unternehmen, der sein Verhältnis über jede Zweideutigkeit erheben würde.

Sobald der Gesang verstummte, erhob er sich und bestieg die Rednertribüne.

* * *

Er hatte seinen Vortrag absichtlich vorher nicht ausgearbeitet. Er wollte einmal versuchen, sich auf die Eingebungen des Augenblicks zu verlassen und die Worte so fallen zu lassen, wie sie ihm das Herz jeden Augenblick zuflüsterte. Trotzdem war er nicht unvorbereitet. Das Thema, das er für seine Rede gewählt, hatte ihn im Gegenteil in der letzten Zeit täglich und auf eine besondere Weise beschäftigt. Er wollte nämlich der Anweisung folgen, die ihm Weber Hansen bei ihrer allerersten Unterredung gegeben hatte, und von sich selber reden. Er wollte versuchen, in großen Umrissen ein Bild von dem Leben eines Großstadtkinds während des Heranwachsens zu zeichnen und Rechenschaft von den Eindrücken abzulegen, denen ein solches Kind ausgesetzt war, um dadurch die Lebensbedingungen und Einflüsse ahnen zu lassen, die für seine eigene Entwicklung bestimmend gewesen waren und ihn schließlich an den Scheideweg geführt hatten, an dem er jetzt stand.

Er fing damit an, eine kleine Geschichte zu erzählen. Es war die Erzählung von der jungen Prinzessin, die eines Tages von einem Freier eine schöne Blume geschenkt bekam und anfänglich sehr entzückt davon war; sie wollte sie an den Busen stecken, entdeckte aber dabei, daß die Blume keine künstliche Nachbildung der Natur, aus Seidenstoff oder gefärbten Federn war, sondern eine echte, lebende Rose. Da warf sie sie beleidigt von sich und befahl ihrer Kammerzofe augenblicklich die häßliche Bauernblume wegzufegen.

Diese Erzählung – sagte er – scheine ihm, auf unsere Tage angewendet, eine tiefe und traurige Wahrheit zu enthalten. Es seien nämlich heutzutage nicht nur junge, verwöhnte Prinzessinnen, die also höhnisch die lebenden Blumen des Lebens verachteten . . . nein, die ganze sogenannte moderne Kultur, so wie sie namentlich in den großen Städten emporwachse, sei ein bewußtes Streben, Gottes irdische Gaben zu verfälschen, ein hochmütiger Versuch, Gottes Werk hier auf Erden umzubilden, oder – wie es heiße – »zu entwickeln und zu verbessern« und hier auf Erden eine Weltenordnung nach dem eigenen, armseligen Verstand der Menschen zu schaffen. Man brauche nur daran zu denken, wie sich die Menschen in den großen Weltstädten zu Hunderttausenden zusammendrängten und mit Kohlenstaub und hohen Häusern und Dampfschornstein des lieben Gottes Sonne und Luft ausschlössen . . . und man habe gleich ein Gefühl von der Naturwidrigkeit, mit der diese ganze Gesellschaftsordnung aufgebaut sei. Oder sähe man die Menschen an, die aufgeputzten Damen, die mit allerlei künstlichen Maschinen – Korsetts, Krinolinen, oder wie nur alle das Zeugs heiße – ihr Aussehen »verschönerten«; die jungen und die alten Herren, die sich nach der letzten Pariser Mode ausstaffierten und mit Hilfe von Wachs, Pomaden und warmen Eisen ihr Haar und ihren Bart jedes natürlichen Falls beraubten . . . im Großen wie im Kleinen merke man diese triumphierende Auflehnung gegen alle Gesetze der Natur.

Oder man gehe von der Straße in die Häuser hinein, man suche diese Leute bei ihrer Arbeit, bei ihren Zerstreuungen, in ihren Freuden und Sorgen auf . . . überall fühle man, wie die Zivilisation der Jetztzeit, indem sie die Menschen von ihrer ewigen Lebensquelle losgelöst habe, sie zu einer Scheinwelt und einem Scheindasein verdamme, das ihnen schließlich noch gar als das Einzigwahre und Vernünftige erscheine. Der müde Arbeiter, der am Abend die Schnapsschenke aufsuche, um beim Glase einen Augenblick künstlicher Lebensfreude hervorzurufen; die jungen Damen, die sich in der Dämmerstunde ans Klavier setzen, um mit Hilfe von Tönen Mondscheinstimmungen, Wellenbrausen und Lerchentriller in ihren vier Wänden hervorzuzaubern, alle die Menschen, die in die verpestete Luft der Theater hineinstürmten, um sich froh zu lachen oder Tränen zu vergießen über eine Schar bezahlter Gaukler, die zwischen bemalter Leinwand menschliche Sorgen und Leidenschaften erheuchelten; »der Kunstliebhaber«, der den Anblick der erregten See oder der blühenden Wiese am besten genoß, wenn er sie hinter Glas und Rahmen an seiner Wand hängen hatte . . . waren alle diese nicht genau so, wie die Prinzessin, die gefärbte Federn der lebenden, duftenden Rose vorzog?

»Und doch« – fuhr er fort – »dies ist trotzdem nur das Unwesentliche, die äußere Seite der Sache. Sehen wir tiefer in die modernen Verhältnisse hinein, suchen wir das innere Leben hinter dieser häßlichen Maske . . . was sehen wir da? Wir sehen die Menschheit durch eine ungeheure Kluft geteilt, die nicht die Guten von den Bösen, nicht Gotteskinder von den Sklaven der Sünde trennt – sondern die die Reichen von den Armen, die Genießenden von den Arbeitenden und Leidenden scheidet. Auf der einen Seite haben wir die große Menge in Arbeit und Armut; auf der anderen Seite einen auserwählten Kreis in Müßiggang und Überfluß. Hier herrschen Kälte, Finsternis und Unwissenheit; dort Licht, Pracht und geistige Übersättigung. So hat die Kultur unserer Zeit Christi Gesetz von Brüderschaft unter den Menschen durchgeführt! So hat sie das große Gesetz von der Nächstenliebe erfüllt! und je höher die Kultur in einer Gesellschaftsordnung steigt, um so entsetzlicher weitet sich die Kluft, um so schrecklicher ruft der Jammer hier, um so frecher tummelt sich die Leichtfertigkeit dort . . . bis wir in den großen Millionenstädten, den sogenannten Kulturzentren, die ganze Gesellschaftsordnung im wild-moralischen Auflösungszustand sehen und die Stimmen von beiden Seiten zu einem eintönigen Ruf: dem Schrei des Sterbenden nach Luft, verschmelzen hören!«

Er hatte sich schnell warm geredet. Er merkte sehr wohl, daß er sich kopfüber in einen Gedankengang hineingestürzt hatte, der lieber als Ergebnis seiner Nachweisungen hätte kommen sollen. Aber er hatte ein Bedürfnis gefühlt, seinen Zuhörern sofort seinen Standpunkt klarzumachen, ein Verlangen, rückhaltlos seine Lebensanschauung zu bekennen, die sich nach der Einsamkeit und Selbstvertiefung der letzten Monate in ihm festgewurzelt hatte. Als er erst in sein altes Kampfthema hineingeraten, war es, als wenn ein Sturm seine Gedanken packe; die Worte schwangen sich von seinen Lippen mit einem Flug und einer Wärme empor, die ihm selbst ganz überraschend war.

Er fühlte sehr wohl, daß es der Stachel in Fräulein Ragnhilds Worten war, der ihn noch ins Herz stach und seine Leidenschaft in Atem hielt; – daß ihre offene Herausforderung diese unverschleierte Antwort hervordrängte. Dazu kam noch die feierliche Stille rings um ihn her, diese langen Reihen gespannt lauschender Köpfe, die sich bis ganz in das Dunkel des fernen Hintergrundes erstreckten. Hier spürte er nicht – wie in der Kirche – eine eisige Schlucht zwischen sich und seinen Zuhörern. Zum ersten Male fühlte er die Berauschung, die in dem Bewußtsein liegt, die Gedanken von Hunderten mit der Macht seines Wortes fesseln, die Blicke von Hunderten an seine Lippen bannen zu können.

Er schlug nun einen etwas leichteren Ton an, indem er zu der eingehenden Schilderung des Lebens in einem wohlhabenden Großstadthause überging.

Er versuchte zuerst eine Vorstellung von der aufreibenden Unruhe zu geben, die von der Straße, aus dem Geschäftsleben, aus dem Café- und Gesellschaftstaumel, auch in die Familien hineindringe. Er sprach von dem flatternden Visitenleben, der eifrigen Jagd nach Genuß und der alles verschlingenden Geselligkeit. Während die Augen seiner Zuhörer immer größer und größer wurden, – wie die der Kinder, wenn Märchen erzählt werden – machte er eine lebhafte Schilderung von einem eleganten Gesellschaftssalon, erzählte von den dreistündigen Mahlzeiten an Tischen, die fast zusammenbrachen unter der Last des Silbers, des Kristalles, der Blumen und Früchte . . . Mahlzeiten bis zu einem Dutzend verschiedener Weine und zehn, zwölf Gerichten, deren französische Namen mit goldenen Buchstaben auf doppelflügeligen Karten gedruckt waren, »so wie die zehn Gebote auf Moses Gesetzestafeln«. Auch die Damen dieser Gesellschaften und ihre Toiletten besprach er mit großer Sachkenntnis und gab unter anderen ein ganzes Bild von einer Dame in Gesellschaftskleidung, beschrieb humoristisch ihre lange Schleppe, ihren Straußenfederfächer, ihre parfümduftenden Handschuhe – »so lang wie Strumpfschäfte« – ihre Spitzen und Diamanten, – »alles zuweilen zu Preisen, von denen eine Arbeiterfamilie mehrere Jahre sorgenfrei leben könnte«.

Dann redete er eine Weile über die Gespräche der Gäste, über die »Konversation«, worin die Unterhaltung zwischen den Männern und Frauen der Gesellschaft bestand. Von denjenigen, die das Talent besaßen, auf eine flotte und scherzende Weise mit allem zwischen Himmel und Erde Ball zu spielen, sagte man, sie hätten Konversationstalent, und allein hiernach wurde das Benehmen der Menschen in der geselligen Welt beurteilt. Ernsthaft über ernste Dinge zu sprechen, das innerste Sehnen, die tiefsten Gedanken der Menschen zu behandeln, werde als nicht passend betrachtet und Seminarismus genannt. Ebenso widerspreche es dem guten Ton von seinen eigenen Lebenszielen oder Hoffnungen zu sprechen, wohingegen es sehr geschätzt werde, wenn man über allerlei Stadtneuigkeiten, Tagesklatsch, über Kunst, Damenmoden und Theater reden könne.

»In dieser Fieberluft« – fuhr er fort – »wächst nun die Jugend auf. Zwischen dieser Leichtfertigkeit, diesem Hochmut und diesen Eitelkeiten empfangen die Kinder die ersten tiefen Eindrücke, die von einer so entscheidenden Bedeutung für das spätere Menschenleben sind. Schon, wenn sie noch ganz klein sind, werden sie in der geselligen Heuchelei angelernt, und in die Maskerade des Gesellschaftslebens eingeführt, werden nach Tische als eine Art Dessert serviert, wie Konditorengel geschmückt, mit steifen Röcken und künstlich arrangierten Locken. Es gilt, bei Zeiten die Jugend an die Uniform zu gewöhnen, und in der Disziplin zu üben. Da ist so unendlich viel, was unterdrückt werden, beschnitten, geknickt, abgeschliffen, poliert werden muß, ehe ein aus Gottes Werkstatt hervorgegangenes Kind ein präsentabler Salonmensch werden kann. Noch ehe man die Kinder gelehrt hat, ihr Vaterunser zu beten, unterrichtet man sie gewissenhaft in den geselligen Gebräuchen wie in einer Katechismuslehre . . . und die Schule geht hier Hand in Hand mit dem Hause. Das Modejournal ist die Bibel dieser Kreise geworden. Die gesellschaftliche Gewohnheit ist ihr höchstes Moralgesetz. Kann man sich da über die Ergebnisse wundern? Seht die Damen an, die den Ballsaal in ausgeschnittenen Kleidern betreten, die jede wirklich sittliche Frau vor Scham vergehen machen würde . . . und das nur, weil die Mode des Augenblicks eine solche unzüchtige Entblößung fordert. Das sind die Mütter und Schwestern, ja Tanten und Großmütter der heranwachsenden Generation, die da halbnackend in den Armen fremder Männer tanzen. Wahrlich, ein gutes Beispiel! So weit ist es nämlich gekommen, daß es auch für die tiefsten Gefühle des Herzens Moden gibt – ganz so wie für Stiefel und Hüte! Die Forderungen der Keuschheit, die Ansprüche der Schamhaftigkeit werden nicht mehr von Stimmen in der eigenen Brust des Menschen gestellt, sondern für die Saison von der Schneidergilde in Paris vorgeschrieben! . . . Oder seht die heranwachsenden Männer an, diese Jünglinge, deren künftige Bestimmung es ist, Lehrer, Leiter und Richter der großen Menge zu sein! Ehe sie das zwanzigste Jahr erreichen, haben die meisten von ihnen jedes höhere und edlere Streben aufgegeben, haben sie jeden Glauben an die wahren, tragenden Mächte des Lebens über Bord geworfen. Sie haben ja gelernt, daß die Gesellschaft von ihnen nur ein tadelloses Äußere, ein korrektes Auftreten, ein verbindliches Lächeln fordert, daß ein gesteiftes Manschettenhemd ein Schild ist, der sie im Kampf des Lebens unverwundbar macht; daß wohlfrisiertes Haar, gutsitzende Kleider und ein gedrehter Schnurrbart – die Mittel sind, deren sie in erster Linie bedürfen, um sich eine schöne, strahlende Zukunft zu sichern! »Ein hoffnungsvoller Jüngling« – so nennt man denjenigen, der sich gelehrig zeigt in der Heuchelei des geselligen Lebens, während »der Kummer der Familie« der Name für denjenigen ist, dessen ganze Natur sich gegen diese Gesellschaftsordnung auflehnt, und der sich mit Händen und Füßen gegen das Gift wehrt, das ihm das Leben um ihn täglich in Augen und Ohren träufelt!« – – –

Er hielt inne. Er fühlte, daß bittere Erinnerungen aus seinem Elternhause anfingen, seinen Gedanken die Herrschaft zu rauben, und er wollte einen Augenblick schweigen, um sich zur Ruhe zu zwingen. Als er nun aber seine Uhr hervorzog, entdeckte er zu seinem Schrecken, daß ihm die Zeit enteilt war. Er hatte bereits über fünf Viertelstunden geredet.

»Ja, dann muß ich wohl aufhören,« sagte er ein wenig verlegen; und obwohl man von allen Seiten der Versammlung lebhaft protestierte und ihn bat, fortzufahren, beschloß er dennoch abzubrechen.

»Ich glaube doch, daß es am besten ist, wenn ich hier schließe . . . ich kann heute doch nicht mit allem fertig werden, was ich Euch gern sagen möchte. Aber vielleicht einigen wir uns über einen anderen Sonntag, an dem wir uns hier versammeln werden, dann kann ich ja fortfahren.«

»Ja–a!« schallte es aus der ganzen Versammlung ihm entgegen.

»Ja, sagt mir nur Bescheid; ich werde stets bereit sein. – Aber bevor ich heute schließe, muß ich doch noch ein paar persönliche Bemerkungen hinzufügen. Wenn man – so wie ich – aus den Verhältnissen hervorgegangen ist, die ich hier zu schildern versucht habe, so empfindet man eine unsagbare Dankbarkeit gegen diejenigen, die in den Jugendjahren an unserer Seite standen und das Auge offen hielten für das Licht, das aus all der Finsternis herausführt und auf den Weg hinwiesen, der über alle Abgründe reicht. Diesem Wege bin ich gefolgt, und so bin ich zu Euch gelangt. Was für Werke ich unter Euch auszurichten vermag, weiß nur Gott allein. Aber ich empfinde das Bedürfnis, Euch auszusprechen, daß, wie auch immer sich meine Stellung hier in der Gemeinde künftig gestalten mag, – und möglicherweise wird vom heutigen Tage eine Änderung darin eintreten – ich den festen Glauben hege, daß, wenn wir uns erst ganz kennen und verstehen lernen, unser Zusammenleben sich auch zu Glück und Segen entwickeln wird. Wenn diese Stunden dazu beitragen können, so ist mein Zweck mit ihnen erreicht.«

Er machte eine leichte Verbeugung und stieg von der Rednertribüne herab.

* * *

Ein Sausen von Kleidern und verhaltenem Atem ging durch den Saal, als er geendet hatte. Man war hingerissen von Freude und Überraschung. Eine so freie Sprache hatten selbst die Hoffnungsvollsten nicht zu erwarten gewagt! Aber die Andeutungen, die in den letzten Worten des Kaplans lagen, warfen zugleich einen unbestimmten Ernst auf die Gemüter. Nur die wenigsten hatten daran gedacht, daß diese Versammlung möglicherweise weittragende Folgen haben könnte.

Alle sahen Weber Hansen an, der nun auch seine lange, schwankende Gestalt von einem Bankende in der vordersten Reihe erhob und langsam die Rednertribüne bestieg. Mit auffallend wenigen und trocknen Worten verlieh er dem Dank der Versammlung für den »belehrenden Vortrag« Ausdruck, worauf er – wie es in diesen Versammlungen Sitte war – die Zuhörer fragte, ob noch jemand eine Bemerkung an die gehaltene Rede zu knüpfen wünsche . . . »das heißt, wenn der Herr Pastor nichts dagegen hat,« fügte er hinzu, indem er sich lächelnd an Emanuel wandte, der stumm den Kopf schüttelte.

»Ja, dann ist das Wort frei!« sagte er, mit einer Handbewegung über die Versammlung hin und kroch wieder herunter.

Im selben Augenblick schoß auf einer der mittleren Bänke eine Gestalt in die Höhe – ein kleines, häßliches, ärmlich gekleidetes Frauenzimmer, dessen Erscheinen sofort allgemeine Unruhe im Saal hervorrief. Einige fingen sogar an zu zischen und zu rufen, sie solle sich setzen. Aber die Frau war augenscheinlich daran gewöhnt, sowohl öffentlich aufzutreten wie auch Widerstand bei ihrem Auftreten zu begegnen. Ohne sich im geringsten von den Rufen anfechten zu lassen, entblößte sie ein Paar fürchterliche, gänzlich zahnlose Gaumen und begann mit fast unhörbarer Stimme, die wie Katzenmiauen aus einem Sack klang, und mit vielen stoßweisen Gebärden ihrer klauenförmigen Hand, eine lange Reihe von Fragen an den Kaplan zu richten, den sie hartnäckig »den letzten geehrten Redner« titulierte.

All das, was der Kaplan hier heute gesagt habe – begann sie – könne am Ende sehr schön und richtig sein. Aber sie wollte doch den letzten geehrten Redner gern fragen, wie er über das Steuergesetz und die neue Schulordnung denke. Sie wollte auch gern fragen, wie sich der geehrte Redner zum Frauenwahlrecht stelle, und ob er finde, daß es richtig sei, wenn ein Mann, der selbst vierzehn Kühe habe, seinem Häusler nicht ein wenig Weide an einem Grabenrande gönnen wolle. Dann wollte sie auch gern des geehrten letzten Redners Ansicht über die Verdammungslehre wissen, und über die Friedenssache und die Altersversorgung . . .

Die Unruhe in der Versammlung steigerte sich. Aller Augen wandten sich wieder dem Weber zu, der indessen ganz davon in Anspruch genommen schien, etwas höchst Sonderbares unter seiner Stiefelsohle zu betrachten. Erst als das Zischen so allgemein wurde, daß es die Stimme der Sprecherin ganz übertäubte, sah er förmlich überrascht auf, lächelte darauf breit und erhob sich.

»Hör' nu mal, gute Schmiede-Maren – woll'n wir mit all dem nich' bis zu einem anderen Mal warten. Ich finde, wir sollten den schönen Eindruck von Herrn Pasters Rede nich' mit zuviel Reden hinterher verderben.«

»Sehr gut!« tönte es von allen Seiten.

Der Weber, der scheinbar noch etwas hatte hinzufügen wollen, hielt plötzlich inne und setzte sich. Gleichzeitig wurde Schmiede-Maren von einem halben Dutzend Hände von hinten am Kleiderrock gezogen, so daß sie mit einem Bums wie eine Holzpuppe auf die Bank niedersank.

Emanuel, der sich erhoben und mit verständnisloser Miene bald die Rednerin, bald die Zischenden betrachtet hatte, wurden von den Zunächststehenden ein paar erklärende Worte zugeflüstert, worauf er sich wieder hinsetzte.

Aber nun entstand eine Bewegung im Hintergrunde. Ein Mann stieg schnell auf die hinterste Bank und bat mit lauter Stimme um das Wort.

Es war die große, bärtige Wikingergestalt, der Emanuel bereits ein paarmal auf seinem Wege begegnet war – zum erstenmal als Wortführer der Schneeschaufler an jenem Winterabend auf der Schlittenfahrt nach Skibberup.

Mit einer Stimme, die durch die Halle gellte, wie eine Posaune, sagte er:

»Darf auch ich Herrn Pastor Hansted meinen Dank aussprechen für das, was wir heute von ihm gehört haben – am meisten aber dafür, daß er hier gewesen ist. Ich glaube, jetzt können wir alle sagen, daß wir den Mann gefunden haben, nach dem wir uns gesehnt haben, und daß wir nicht fehlgingen, wenn wir uns freuten, als wir hörten, wer unser Kaplan hier in der Gemeinde werden würde. Am Ende sind wir uns bis jetzt nich' so ganz klar darüber gewesen, – un da will ich man sagen, das muß Herr Kaplan uns nich' übel nehmen – aber heut' sind uns die Augen aufgegangen, wer er is' un' wir bedanken uns auch vielmals.«

»Sehr gut!« tönte es von den jungen Leuten in den dichtbesetzten Fenstern her und von den Männern an den Wänden, während die Frauen beifällig nickten.

»Und soll ich nu nich' bloß noch sagen, daß wenn der Herr Kaplan infolge von dies heute hier Unannehmlichkeiten und Scherereien haben sollt' – so is auch hier bei uns Platz für'n Geistlichen! Wenn Herr Hansted in Verlegenheit kommt – nich so, Freunde? – denn steh'n wir hier alle mit off'ne Arme parat und nehmen ihn mit lautes Hurra auf! Woll'n wir uns da das Wort auf geben?«

Ein donnerndes »Sehr gut!« überall von Fenstern und Wänden, ja, selbst aus den Reihen der Frauen, folgte diesen Worten. Hier hatte das Feuer die Mine erreicht. Ein Wogen und Brausen lief über die ganze Versammlung, und an einem der Fenster nahmen ein paar junge Burschen einen Anlauf zu kriegerischen Hochrufen für den Kaplan.

Emanuel hatte sich erhoben. Mit einem Ausdruck, der verriet, daß die Kriegsposaune des Wikingers auch in seinem Gemüt Wellen aufgewühlt hatte, stellte er sich neben die Rednertribüne – und gleich darauf wurde alles still. Einen Augenblick stand er da, als ringe er mit sich. Dann sagte er mit leiser, aber fester und deutlicher Stimme:

»Ich danke Euch für Euer Einverständnis, Freunde! Es hat mich froh und sicher gemacht. Niemand weiß, was die Zukunft bringen kann; aber ich hege keine Furcht mehr.« – Und mit erhobener Stimme fügte er hinzu, indem seine Wangen auf einmal glühten: »Jetzt kenne ich meine Berufung und sollte ich auch auf Widerstand, ja auf Kampf stoßen, – nichts soll mich hindern, ihr zu folgen. Seid überzeugt davon! . . . Und indem ich Euch jetzt alle für den heutigen Tag danke, bitte ich Euch, daß Ihr Euch mit mir in einem Gebet vereinigt. Und ich will Euch bitten, dies zu tun, indem wir unser altes, schönes Kirchenlied ›Alles steht in Gottes Vaterhand‹ miteinander singen.«

Der Gesang wurde gesungen und noch einer und hinterher baten mehrere noch um einen – da aber erhob sich Weber Hansen und erklärte kurz die Versammlung für geschlossen.

Die Uhr war auch schon weit über sieben. Im Saal war es fast ganz dunkel, und die Luft dadrinnen war zum Ersticken. Ein wenig heller wurde es, als die jungen Burschen nun von den Fenstern herabsprangen, – einige hinaus, andere hinein. In dem rötlichen Schimmer der untergehenden Sonne brach die Versammlung auf, und drängte sich dem Ausgang zu.

Auf seinem Wege aus dem Saal wurde Emanuel überall von Leuten umringt, die ihm die Hand drücken und ihm danken wollten. Er fühlte sich förmlich getragen von Dankbarkeit und Huldigung. Es summte um ihn her von Ausdrücken der Freude und Bewunderung: »Na, na, 'n schönen jungen Mann!« – »Ja, er sieht doch leibhaftig aus wie ein Kind Gottes!« – »So fromm und gut!« – »Und er soll jawoll seiner selgen Mutter gleichen.«

Vor dem Eingang kam auch Else auf ihn zu und ergriff gerührt seine Hand, während ihr Freudentränen in den hellen Augen standen. Er sagte lächelnd: »Ich hab' zu danken, Else!« und sah sich dabei nach Hansine um.

Sie war nicht da.

Er zweifelte jedoch nicht daran, daß sie zugegen sei; und es war ihm inmitten der Freude eine kleine Enttäuschung, daß er keine Gelegenheit fand, in dieser bedeutungsvollen Stunde auch ihr die Hand zu drücken.

* * *

Im selben Augenblick kam der »Wikinger« auf ihn zu und stellte sich selbst als Zimmermann Nielsen vor. Mit einem starken Händedruck und einem offenen Lächeln, das seine schimmernden, weißen Zahnreihen entblößte, sagte er, nachdem ihm Emanuel mit ein paar Worten für seine Ansprache gedankt hatte:

»Würd' es Herrn Paster am End' Vergnügen machen, mit uns an den Strand zu gehen? Wir versammeln uns da gewöhnlich nach den Zusammenkünften und singen so ein bischen und plaudern in aller Einfachheit zusammen, wenn das Wetter danach is'– Und heut' Abend haben wir ja das schönste Herrgotts-Sommerwetter wie wir es nennen, un' wir würden uns ja so freuen, wenn Herr Paster uns mit seine Gegenwart beehren wollt'.«

Emanuel nahm die Einladung mit Freuden an. Er empfand keine Lust, seine neuen Freunde schon jetzt zu verlassen und in das Pfarrhaus zurückzukehren.

Sofort flüsterte man sich von einer Gruppe zur anderen zu, daß der Herr Kaplan mit an den Strand kommen wolle. Die Nachricht erregte Geschäftigkeit bei denen, die zu Hause noch etwas zu verrichten hatten, die entweder Kinder stillen oder Vieh füttern mußten, ehe sie fort konnten. Sogar den »alten Erich« sah man auf seiner Sonntagskrücke zu seiner Katze nach Hause humpeln, ganz nach der anderen Seite des großen Dorfteiches, über dem ein Feuerhimmel flammte.

Eine Schar junger Leute – Mädchen und Burschen – hatten sich schon auf den Weg gemacht nach dem Versammlungsplatz am nördlichen Strand – die Mädchen voran, Arm in Arm, eine Melodie vor sich hinsummend; die Burschen haufenweise hinterher mit brennenden Pfeifen und Zigarren. Bald folgten auch die älteren Leute – meist paarweise, sich schwer den steilen Pfad hinanarbeitend, der über die hohen Strandhügel führte.

An Emanuel hatten sich ein paar von den älteren Männern des Dorfes angeschlossen, zwei kleine lebhafte Gestalten von dem Skibberuper Typus: mit langen, nach vorn überhängenden Armen und krummen Beinen, die beim Gehen hoch in die Höhe gehoben wurden. Sie gehörten beide zu den leitenden Persönlichkeiten von Skibberup und suchten auf vielen Umwegen und unter vielem vorsichtigem Hüsteln und Räuspern Emanuel zu bewegen, sich näher darüber zu äußern, was er wohl meine, daß der Propst zu »diese Geschicht« sagen würde, und wie er glaube, daß sich in Zukunft das ganze entwickeln würde.

Aber Emanuel schweifte beständig von dem Thema ab. Er hatte das Bedürfnis, eine Weile Sinne und Gedanken ruhen zu lassen und in diesen kurzen Stunden sein Glück und sein Freiheitsgefühl unbeschnitten zu genießen. Auch schien ihm der Abend zu schön, um kriegerische Zukunftspläne zu machen. Es war, als wenn die Natur selber jetzt eine Weile zu Frieden und Versöhnung mahnen wolle. Oft blieb er stehen und zwang die Männer zum Schweigen, indem er sich mit einem Ausruf des Entzückens in der lenzgrünenden Landschaft umsah. Lauter Farbenharmonie über dem Himmel, lauter träumende Hingebung in der Erde tiefem Empfängniserröten! Und kein Lufthauch, kein Laut! – Ja! . . . Hoch, hoch oben unter dem flammenden Himmel läutete eine unsichtbare Lerche die Sonne zur Ruh . . . ein Lichtpunkt inmitten der unendlichen Stille, ein einziger, zitternder Ton, zugleich fern und eigentümlich nahe, an das Glitzern eines einsamen Sterns erinnernd.

Als sie den Gipfel des Hügels erreichten, sahen sie – nur ein paar hundert Schritte entfernt – die Karawane der Jugend, die ihr Lager auf einem blumenbunten Rain am Wegesrande aufgeschlagen hatte, jetzt aber wieder aufbrach und weiterzog – die Vordersten singend.

Emanuel durchzuckte es auf einmal leise. Unter den Nachzüglern hatte er diejenige erblickt, nach der er während der ganzen Zeit gespäht hatte – Hansine.

Sie ging Arm in Arm mit einem großen, kräftigen, rothaarigen Mädchen, in dem er die Pflegetochter des Holzwärters, Ane, Hansinens beste Freundin erkannte; in der Kirche hatte er sie immer in Hansinens Gesellschaft gesehen. An dem anderen Arm dieses Mädchens hing eine kleine, dünne, armselige Gestalt, deren vielzulanges schwarzes Kleid und knabenhafte Schritte sie als Konfirmandin kennzeichneten. Ane trug auf ihrem ziegelsteinroten Haar einen winzig kleinen, hellen Strohhut mit schottischem Band, der für ein Kind bestimmt zu sein schien; dazu hatte sie ein dunkelgrünes, eigengemachtes Kleid an, das Hansinens glich und ein brandgelbes Halstuch, das mit einer dreieckigen Schnippe im Rücken herunterhing. Hansine trug einen niedrigen, breitrandigen, braunen Strohhut und es hing ihr keine Tuchschnippe im Rücken hinab, dahingegen reichte ihr schwarzes Hutband fast bis in die Taille hinunter, die ein blanker Ledergürtel umschloß, das Kennzeichen der Schülerinnen der ländlichen Hochschule. Die Konfirmandin hatte einen schwarzen Schal mit Fransen um und einen Winterhut mit grünen Weintrauben auf dem Kopf.

Es sah so aus, als wenn die Tochter des Holzwärters die beiden anderen zurückgehalten habe, um ihnen eine wichtige Neuigkeit anzuvertrauen. Die Konfirmandin bog den Oberkörper vor, so daß er fast einen rechten Winkel mit den Beinen bildete und sah zu der Freundin auf, als sauge sie begehrlich die Worte mit ihrem Blick ein. Hansine dahingegen schien nur mit dem einen Ohr zuzuhören. Sie ging und sah vor sich nieder, ein wenig zur Seite, als wolle sie vor den anderen verbergen, daß sie nicht aufmerksam war. Wenn sie an einer Blume am Wegesrande vorüberkam, die sie erreichen konnte, ohne den Arm der Freundin loszulassen, beugte sie sich hinab und pflückte sie.

Emanuel wollte sich nicht recht eingestehen, wie eingenommen er von diesem jungen Mädchen war, obwohl er sie bisher noch so wenig kannte. Er hatte nur ein paarmal mit ihr gesprochen und es befiel sie stets eine undurchdringliche Wortkargheit in seiner Gegenwart; sie antwortete ihm nur eben auf das, wonach er sie fragte, und auf das kaum. Aber es lag in dieser halb scheuen, halb stolzen Unzugänglichkeit etwas, das seine Phantasie in Bewegung setzte und ihm Ahnungen von einem Seelenadel, von einer Tiefe und Ursprünglichkeit der Gefühle einflößte, die sie in seinen Augen jedesmal, wenn er sie wiedersah, gleichsam hatte wachsen lassen. So hatte sie denn auch schon größeren Einfluß auf ihn gehabt, als weder er noch sonst irgend jemand eigentlich wußte. Eines Abends, als er sie und die Mutter zufällig auf der Skibberuper Dorfstraße getroffen und sie eine Strecke über die Felder begleitet hatte, war die Unterhaltung auf ihren Aufenthalt in der Hochschule gekommen. Mit Verwunderung hatte er ihren Äußerungen über diese eigentümlichen Unterrichtsanstalten gelauscht, die in den letzten Jahren eine so weite Verbreitung auf dem Lande gefunden hatten und über die er in Kopenhagen und im Pfarrhause so oft hatte spötteln hören. Namentlich hatte die – fast herausfordernde – Wärme und Begeisterung, die Hansine in all ihrer Wortkargheit an den Tag legte, einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht und in Wirklichkeit reichlich soviel beigetragen zu der großen Entscheidung, die jetzt ihren Ausdruck in seinem Erscheinen im Versammlungssaal gefunden, als der Mutter sanfte Überredung und Weber Hansens schlaues Ränkespiel.

Er suchte nun den Gang seiner Begleiter zu beschleunigen, um sie begrüßen und wenn möglich in ihrem Gesicht lesen zu können, welchen Eindruck seine Rede auf sie gemacht hatte. Aber die beiden alten Bauern, denen sich allmählich mehrere andere von der Gesellschaft interessiert zugesellt hatten, waren schwer über einen sehr besonnenen Schrittgang hinaus zu bewegen, und ehe man die drei jungen Mädchen erreicht hatte, verschwanden sie den letzten, steilen Hügelabhang hinab, der zum Strande führte.

Wenige Augenblicke später befanden sich auch Emanuel und seine Begleiter auf dem Sammelplatz.

Es war dies ein sandiger Fleck unmittelbar am Wasser, eine halbrunde Erweiterung des sonst schmalen Ufers, das sich hier zwischen ein paar hohe, steile Abhänge hineinschob. »Die Kirche« hieß der Platz im Munde der Leute, weil sie behaupteten, daß er sie an eine Chorrundung erinnere. Ein altes, schwarzgeteertes Boot war auf den Strand hinaufgeschoben, und hierin hatten schon alle Mädchen auf den Ruderbänken und längs der Reling Platz genommen, während sich die Burschen in dem weißen Sande lagerten. Hansine und ihre Freundinnen hatten sich in das äußerste Ende des Vorderstevens gesetzt, das dem Fjord zugekehrt war, auf dem sich nach dem Gewitter des vorhergehenden Tages noch ein wenig Seegang bemerkbar machte. Ihre Gestalten zeichneten sich mit scharfen Umrissen gegen das plätschernde Wasser ab, das im Sonnenuntergang einen stets tieferen Purpurschimmer auf seinen dunkelblauen, gleichsam blutvermischten Wellen wiegte.

Allmählich kam nun auch die übrige Gesellschaft und nahm rings umher an den Abhängen Platz. Zu allerletzt – und mit Jubel empfangen – erschien der »alte Erik« an seiner Krücke, mit seinem krummen Bein und dem kranken Fuß, der mit den vielen umhüllenden Lappen einem Wickelkinde glich, glückselig den Steig hinabhumpelnd.

Dieser alte Mann, der Stolz und der Verzug des Dorfes, hatte eine Geschichte, die in kurzen Zügen die der ganzen Gemeinde war. Bis zu seinem fünfundsechzigsten Jahre war der alte Erik der berüchtigste Rauf- und Zechbruder der Gegend gewesen, der in der Regel betrunken in den Landstraßengräben lag und hauptsächlich von dem lebte, was er während der Nacht rings umher auf den Höfen stahl oder raubte. Aber seit hier durch Weber Hansen ein neues, geistiges Leben wachgerufen war – vielleicht auch infolge der Verstümmelung, die ihn gleichzeitig bei einem Saufgelage zum Krüppel gemacht hatte – war er auf einmal zu einem ganz neuen Menschen geworden, der jetzt in friedlicher Gemeinschaft mit seiner roten Katze lebte, überall empfangen und hochgehalten als lebender Beweis für die wundertätige Macht des neuen Wortes.

Emanuel hatte sich von seinen Begleitern getrennt und sich auf einen höher am Abhang gelegenen Absatz gesetzt. Er hatte das Bedürfnis, einen Augenblick mit seinen Gedanken allein zu sein.

Und wie er nun da saß und zusah, wie ein Paar nach dem anderen langsam an den Strand hinabstieg – immer Frau und Frau und Mann und Mann; sah, wie sie alle einen Augenblick am Fuße des Steiges stehen blieben, gleichsam überwältigt von dem Schein von Himmel und Meer, und sich dann Sitzplätze an den Abhängen suchten – da fiel ihm der Name »Kirche« ein, mit der die Bevölkerung diesen Platz getauft hatte. Es überkam ihn in diesem Augenblick selber ein Gefühl, als sei er Zeuge eines Kirchgangs, feierlicher als irgendeiner, dem er jemals beigewohnt hatte. In langen Reihen saß schließlich die ganze Gemeinde um ihn herum auf den terrassenförmigen Abhängen – die Frauen zu unterst, die Kleiderröcke im Schoß zusammengerafft, das Taschentuch zwischen den Händen, einige in großen, schwarzen Kirchenhüten, andere in ihren prachtvollen goldgestickten Mützen, die im schwindenden Tageslicht wie Heiligenschein um ihre Köpfe strahlten. In den Reihen über ihnen saßen die Männer, die Arme schwer auf die in die Höhe gezogenen Knie gestützt. Und ganz oben sah man eine Gruppe Kinder, die, die Hand unterm Kinn, dalagen und herabsahen – ähnlich den ruhenden Engeln zwischen den Wolken auf alten Altarbildern.

Dieser Eindruck einer Kirche wurde noch verstärkt, als es jetzt ringsumher auf den Abhängen ganz still ward. Die jungen Mädchen im Boot hatten angefangen zu singen. Die Arme gegenseitig um ihre Taille gelegt, die Gesichter der See zugewandt, sangen sie ein altes, frommes Abendlied:

Jetzt ziehet der Bauer sein Pferd in den Stall
Und schweigend ruhen die Wälder,
Die Vögelein schlafen in ihrem Nest,
Verlassen liegen die Felder.

Am westlichen Himmel da ragt eine Burg
Rot auf mit goldenen Zinnen,
Und dorthin wandern in Gottes Schoß
Die Menschen mit tagmüden Sinnen.

Du Zweiflerseel', die auf wirrem Pfad,
Der Finsternis suchst zu entkommen,
An des Himmelreichs Tür gehst du zagend vorbei
Voll Angst weil das Taglicht verglommen.

Der Gott, der für jedes Vögelchen sorgt,
Daß ihm ein Daunenbettlein nicht fehle,
Er hält auch bereit einen Gnadenhort
Für die heimatlose Menschenseele.

Nein, poch nur getrost an des Himmels Burg,
Die Engelein harren schon dein,
Sie nehmen deine Bürde, deine Angst, deine Sorg'
Und führen zum Vater dich ein.

* * *

Der Gesang klang schön an dem hellen stillen Frühlingsabend. Die Stimmen hatten hier im Freien nicht den schnarrenden Klang wie unter der niedrigen Decke des Versammlungssaales. Es war, als gäbe der weite Raum ihnen Fülle; als ob Himmel und Erde ihnen ihre Farben liehen. Hinterher sang man noch ein paar patriotische Lieder, in die die ganze Versammlung allmählich einstimmte, und dann rief eine kräftige Männerstimme: »Herrn Bures Tod.«

»Herrn Bures Tod!« – »Herrn Bures Tod!« wiederholten ringsumher eifrige Stimmen, während sich alle Burschen aus ihren halbliegenden Stellungen aufrichteten.

Ane, – Hansinens rothaarige Freundin – ward von den Mädchen zur Vorsängerin erwählt. Sie saß ganz am äußersten Ende des Bootes, wie eine Gallionfigur und begann sofort mit einer lauten, kräftigen Stimme zu singen, deren heller Klang an die Farbe ihrer Haare erinnerte. Die ganze übrige Versammlung sang den Refrain, indem die Mädchen mit der zweiten Stimme einfielen:

Und es war zur frühen Morgenstund',
Die Sonne ging auf!
Herr Bure, er küßt Frau Ingers Mund,
Ho! ha! so frisch war der Morgen!

Herr Bure, er sattelt sein Roß so grau,
Apfelgrau!
Vom Söller herab schaut die minnige Frau,
Ho! ha! wie ist doch der Wald so grün!

Er hißt das Segel unter der breiten Rah,
Seidensegel!
Das Schiff auf den Wellen sich wiegen sie sah,
Ho! ha! wie ist so schwer das Scheiden!

Es waren im ganzen einige zwanzig Verse. Als die letzten gesungen waren, sprangen die Mädchen aus dem Boot, während die Männer in die Hände klatschten.

Währenddessen waren im Hintergrund bei den Frauen die Vorratskörbe zum Vorschein gekommen. Einige von den Mädchen reichten Butterbrot auf Korbdeckeln und großen Klettenblättern herum, während andere mit Milch in Flaschen umhergingen. Zimmermeister Nielsen stand dem Ausschank einer Kruke sogenannten »Dünnbiers« vor und trat überhaupt als Zeremonienmeister auf, wohingegen Weber Hansen in erhabener Zurückgezogenheit oben auf einem Erdhügel saß und mit einigen alten Frauen plauderte.

Allmählich konzentrierte sich die Aufmerksamkeit auf einige junge Burschen, die draußen am Meeresrande standen und unter großer Heiterkeit zu einer mächtigen Wolke emporstarrten; sie behaupteten, sie gleiche leibhaftig einem dicken, versoffenen Weibe. Der Kopf »des Weibes« wurde von dem letzten schwachen Sonnenschimmer rot gefärbt und hatte mitten auf der Stirn ein himmelblaues Auge; der Oberkörper war wollgrau und üppig, wohingegen der Kleiderrock violett gefärbt war und wie ein Sack über dem östlichen Horizont hing, wo er Virslev, Gimminge, Brunkeby und noch ein paar von den gegenüberliegenden Kirchdörfern auf seiner Schleppe trug. Auf einmal brach die ganze Versammlung in ein schallendes Gelächter aus; der Kopf der Wolkenfrau hatte sich vom Rumpf getrennt und steuerte fröhlich seinen eigenen Kurs über den Himmel hin. Gleichzeitig schob er etwas, das einer langen Nase glich, nach der einen Seite vor und sperrte das blaue Auge weiter und weiter auf, während der übrige Körper langsam, wie in hoffnungsloser Verzweiflung zusammensank.

Dies amüsierte die jungen Leute, so daß sie gleich anfingen, auch in den übrigen Sonnenuntergangswolken am Horizont Bilder zu suchen. In kleinen Gruppen stellten sie sich am Strande entlang auf, und schnell entwickelte sich nun ein lebhafter Wettstreit, wer am meisten sehen konnte.

Einige behaupteten, in den Umrissen der Wolken Schlösser und Kirchen mit rubinroten Kuppeln und goldenen Zinnen zu sehen. Andere gewahrten »ganz deutlich« Tiergestalten, Reiter und bekannte Menschengesichter. Einer sogar eine Kutsche mit Pferden davor, mit zwei Lakaien hinten auf und einer Braut im Wagen. Aber damit war auch der Schaum vom Krug gezapft und man zerstreute sich wieder unter Lachen.

Doch die Heiterkeit war jetzt entfacht. Vier junge Mädchen faßten sich bei den Händen und drehten sich herum, so daß die Röcke sausten. Andere Mädchen kamen herzu . . . ein großer Kreis bildete sich unter Gesang. Da näherten sich auch die Burschen und wollten mit dabei sein. Aber hiergegen lehnten sich die Mädchen einstimmig auf; tapfer wehrten sie sich gegen jeden Burschen, der den Ring zu durchbrechen oder ihnen unter den Armen hindurch zu schlüpfen suchte . . . bis einer von ihnen, ein kleiner, teckelartiger Dicksack hinterlistigerweise ganz vom Meeresrande aus einen Anlauf nahm und – ehe jemand es ahnte – über die Hände zweier Mädchen hinweg, in den Kreis sprang. Da war der Friede geschlossen und die Festung geöffnet.

Es war mehr Spiel als Tanz. Man stellte sich in zwei großen Rundkreisen auf, die Burschen nach innen, die Mädchen nach außen, die Gesichter einander zugewandt. Unter ständigem Gesang bewegten sich die Paare während der ganzen Zeit auf demselben Fleck, während sie bald in die Hände klatschten, bald mit dem Fuße stampften, bald andere Gebärden machten, die sie den Worten des Liedes anpaßten:

Und der Fuchs sprang schnell über das Eis dahin,
Und der Fuchs sprang schnell über das Eis dahin, –
So wollen wir, so wollen wir
Nun singen der Könige Weise.
Hier sehen wir die Könige, wie sie gehen,
Und wie sie sitzen und wie sie stehen,
Und wie sich drehen im Tanze.

Bei diesen letzten Worten umfaßten sich Burschen und Mädchen und drehten sich herum. Dann wurde derselbe Vers wiederholt, nur mit der Veränderung, daß es diesmal der »Königinnen Weise«, wie es auch das Wesen einer Königin war, das man beim Tanz nachzuahmen suchte; worauf in gleicher Weise die Reihe an den Edelmann, den Pastor, den Advokaten, den Bauer, den Schmied, den Tischler und andere Handwerker kam.

Es waren namentlich unter den Knechten nicht wenige, die die Gabe besaßen, in ganz witziger Weise die eigenartigen Gebärden der verschiedenen Beschäftigungen nachzuahmen. Namentlich erregte es stürmische Munterkeit unter den Zuschauern auf den Abhängen, als man schließlich an »des Schneiders Weise« gelangte, und sich alle Burschen mit gekreuzten Beinen in den Sand setzten und anfingen, mit langen Stichen in der Luft zu nähen.

Emanuel saß da, die Wange in die eine Hand gestützt, und sah mit einem bewegten, halb abwesenden Lächeln auf diese Szene hinab. Die fröhlichen Töne der Jugend führten seine Gedanken über das Wasser . . . und weiter fort.

Er mußte an das Heim seiner Kindheit denken, an seine eigene freudlose Jugend, an alles, was er in seiner Einsamkeit gedichtet und geträumt hatte. Und seine Augen betauten sich mit Tränen der Dankbarkeit. Er fühlte es jetzt – hier saß er mitten in seinem verwirklichten Traum. Dies war das kinderfrohe Lebensfest, das er dunkel geahnt. Hier war das gelobte Land, nach dessen Milch und Honig er geschmachtet hatte.

Seine Augen suchten Hansine; er hatte sie nicht unter den Tanzenden entdecken können. Erst nach einigem Suchen fand er sie neben dem Boot, wo sie einsam stand, die Ellbogen gegen die Reling gestützt, den Kopf halb abgewendet und den Blick unbeweglich auf einen fernen Punkt draußen über dem Wasser gerichtet, als ob die Töne des Gesanges auch ihre Gedanken auf weite Reisen führten. Die Dämmerung war bereits so weit vorgeschritten, daß Emanuel in der Entfernung, in der er sich befand, die Auge des Gesichts nicht unterscheiden konnte.

Um so deutlicher aber hoben sich die Umrisse ihres Körpers von der jetzt fast einfarbigen pflaumenroten Meeresfläche ab. Und plötzlich erfaßte ihn eine dumpfe Unruhe. Er begriff nicht, warum sie ihn den ganzen Tag gemieden, warum sie ihm nicht Guten Tag gesagt, ihn nicht willkommen geheißen hatte. Konnte er sie durch seine Rede enttäuscht haben? . . . Er hatte doch die ganze Zeit gerade mit dem Gedanken an sie geredet, hatte vor allen Dingen gewünscht, daß sie ihn verstehen möge.

Seine plötzlich unruhige Miene wurde von einigen Umsitzenden bemerkt, die sofort eine Mitteilung darüber zu den anderen weitergehen ließen. Da man infolgedessen zu der Annahme gelangte, daß der Kaplan möglicherweise den Tanz der Jugend mißbillige, gab man ein Zeichen, daß er aufhören solle. Der Abend war nun auch so weit vorgeschritten, daß es Zeit wurde, an den Aufbruch zu denken. Kalte Nebeldünste fingen an, aus der Erde aufzusteigen, und die Sterne im Westen waren vollzählig angezündet.

Ein paar alte Leute erhoben sich und begannen Abschied zu nehmen. Gleich darauf folgten andere dem Beispiel.

Übrigens war man ein wenig enttäuscht, weil man erwartet hatte, daß Emanuel noch einmal reden, ein Märchen oder dergleichen erzählen würde. Der alte Erik, der gerade unter ihm Platz genommen hatte – wie ein Jünger zu den Füßen seines Meisters – hatte sich alle Augenblicke, wenn in der Versammlung ein kleines Schweigen entstand, auf den Arm gestützt und ihn mit glückseliger, gespannter Miene angestarrt, wie ein Kind, das erwartet, daß sich die ganze Märchenwelt vor seinen Augen aufrollen wird.

Trotzdem gingen sie alle noch einmal an ihn heran und gaben ihm die Hand mit einem herzlichen »Danke, Herr Pastor«.

Nur Hansine nahm gleich, als der Aufbruch begann, ihre rothaarige Freundin unter den Arm und entfernte sich mit ihr am Strande entlang, um ihr auf dem Heimwege nach dem einsam gelegenen Holzwärterhäuschen draußen am »Gehölz« das Geleite zu geben.

* * *

Wenige Minuten später stand Emanuel oben auf einem Hügelrücken, über den sich ein Pfad nordwärts nach Vejlby hinzog. Er hatte seinen breiten Flauschhut vom Kopf genommen und die Hand auf die Stirn gelegt, während er dem schon fernen Geräusch des langen Menschenzuges lauschte, der singend nach Skibberup heimzog.

Die letzten Töne erstarben. Er war allein.

Rings um ihn her dehnte sich die wüstenstille Erde aus. Über seinem Haupte wölbte sich die kalte, weißblaue Himmelskuppel mit bleichen fernschimmernden Sternen . . . Er hatte ein Gefühl, als sei er aus einem Paradies ausgeschlossen. Zögernd wandte er den Blick nach der Richtung von Vejlby, wo in der Ferne der hochragende Pfarrhauspark sichtbar wurde, der sich wie eine dunkle drohende Wolkenbank von dem letzten schwachen Lichtschimmer des Horizonts abhob. Dort erwartete ihn nun die Entscheidung, der Kampf, die Ächtung!

Er fühlte sich plötzlich so matt und schwer; die Beklommenheit, die er den ganzen Abend durch einen Machtspruch niedergehalten hatte, überfiel ihn jetzt hier in der Einsamkeit mit erdrückender Gewalt. Langsam schritt er eine Strecke vorwärts, blieb dann wieder stehen und setzte sich auf einen großen Stein, der an der Seite des Weges lag.

Den Kopf in die Hände gestützt, atmete er ein paarmal tief auf und versank in Gedanken. Nicht, daß er jetzt irgendwie den Schritt bereute, den er getan hatte – er fühlte sich nur so bitterlich allein.

Er saß da und dachte daran, daß, wenn er jetzt ein eignes Heim gehabt hätte, wo er Frieden und Geborgenheit in dem bevorstehenden Kampfe finden konnte, eine fromme und treue Frau, die seinen Sieg und seine Niederlage mit ihm teilen wollte . . . da würde es eine wahre Lebenslust gewesen sein, für die Sache der Wahrheit zu kämpfen und zu leiden. Aber dies war wie ein Kampf auf kahler Heide und mit leeren Händen. Niemals Ruhe, nirgends eine Zuflucht!

Er saß eine Weile da und starrte vor sich hin, während ihm ein Name auf den Lippen schwebte . . . Hansinens. Wunderbar! Beständig kam ihm das junge Mädchen in den Sinn, er mochte niedergedrückt oder froh sein! Pochenden Herzens fragte er sich selbst, ob er denn bei ihr würde finden können, was er entbehrte. Da aber entsann er sich ihres Benehmens ihm gegenüber an diesem Abend und riß sich mit Macht von seinen Gedanken los.

»Träume!« sagte er halblaut und erhob sich. »Ich bin und bleibe ein Flüchtling hier auf Erden . . . ein Fremdling in meiner eigenen Familie, ein beargwöhnter Gast unter Fremden!«

Plötzlich faltete er die Hände vor seiner Brust, erhob in Ekstase den Blick zum Sternenhimmel und betete:

»O, mein Vater in der Höhe . . . du . . . du allein verstößt mich nicht! Du bist meine Zuflucht und mein Trost . . . meine Hoffnung und meine Liebe! Siehe, ich fürchte nicht! Laß nur die Stürme rasen, zu deinen Füßen ist Friede! O, laß den Kampf meines einsamen Erdenlebens einen Lobgesang zu deiner Ehre sein, ich verlange ja nichts weiter. Schenke du mir deine Gnade; sättige du meine hungernde Seele mit deinem Segen. Da will ich fröhlich sein. – Amen!«

Er neigte den Kopf, blieb eine Weile schweigend stehen und setzte dann langsam seinen Gang fort.

Aber noch immer pochte sein Herz. Er konnte doch den Gedanken an Hansine nicht los werden. Es war, als wenn alle seine Unruhe sich schließlich in dieser einen Frage vereine: Warum flieht sie mich? Womit stoße ich sie ab? . . . Es erschien ihm mehr und mehr, als wenn die Antwort hierauf eine Vorbedeutung für seine ganze Zukunft enthalte. Er fühlte, daß er nicht in Wahrheit den Kampf im Namen der Gemeinde aufnehmen konnte, so lange er nicht wußte, ob diejenige, die er von allen am liebsten auf seiner Seite haben wollte, für oder wider ihn war.

Er blieb stehen.

Er mußte noch heute abend Klarheit haben. Er hatte Hansine den Versammlungsplatz am Strand entlang mit ihrer Freundin verlassen sehen und nahm an, daß sie denselben Weg zurückkommen mußte, da sie so spät am Abend kaum den Richtweg über das Moor und den Bach einzuschlagen wagte.

So kehrte er denn um, und nach wenigen Minuten befand er sich wieder bei der »Kirche«. Von hier aus ging er weiter am Wasser entlang, hatte aber noch nicht viele Schritte getan, als er jäh stehen blieb . . . Da kam sie ihm wirklich entgegen, keine hundert Ellen entfernt, wunderlich groß zu sehen in der Dämmerung, gegen den nebelverschleierten Fjord wie ein Schatten zerfließend.

Sie ging hart am Rande des Meeres. Ganz langsam ging sie – wie jemand, der sich nach Einsamkeit gesehnt hat – und sang mit halblauter Stimme.

Plötzlich stand sie still, und ihre beiden Hände griffen unter das Herz. Sie hatte ihn gesehen.

»Erschrecken Sie nicht . . . wie Sie sehen, bin ich es ja nur,« sagte er, nachdem er sich genähert hatte, und lüftete den Hut. »Ich hoffe, daß ich Sie nicht störe.«

Die letzten Worte entschlüpften unwillkürlich seinem Munde beim Anblick ihres Schreckens; sie stand wie gelähmt da und antwortete nicht. In seiner hierdurch hervorgerufenen Verlegenheit fing er an, eine umständliche Erklärung für sein Kommen zu geben, er erzählte, daß er sie ihrer Freundin das Geleite haben geben sehen, und da er den ganzen Abend keine Gelegenheit gefunden, mit ihr zu sprechen, sei er ihr entgegengegangen, um sie zu begrüßen.

Aber sie stand noch immer stumm da und starrte ihn unbeweglich mit einem halb drohenden, halb flehenden Blick an, der an den eines zu Tode verwundeten Tiers erinnerte.

»Aber, beste Hansine!« rief er aus. »Sie zürnen mir doch nicht, weil ich Sie angeredet habe? Ich versichere Sie, Sie brauchen keinerlei Angst vor mir zu haben. Ich wollte, wie gesagt, nicht gern nach Hause zurückkehren, ohne Sie begrüßt zu haben . . . Dies ist ja ein sehr bedeutungsvoller Tag für mich gewesen, wie Sie sich wohl denken können, und –«

Sie verharrte noch immer in ihrem Schweigen.

Das Blut schoß Emanuel in die Wangen. Sollte sie ihm wirklich im Ernst mißtrauen? Der Gedanke erschien ihm zu unglaublich, und doch sah er jetzt ein, daß er sich wirklich ein wenig unbesonnen benommen hatte, indem er sie zu dieser Zeit und in dieser Einsamkeit aufsuchte. Er bemühte sich deswegen jetzt, die Sache ins Scherzhafte hinüberzuspielen.

Und doch lag ein gut Teil Bitterkeit in seinem Ton, als er sagte:

»Ich scheine aber in der Tat ungelegen gekommen zu sein . . . Sie müssen mich entschuldigen . . . Es war wirklich nicht meine Absicht. Offen gestanden habe ich gar nicht daran gedacht, daß Zeit und Stunde vielleicht ein wenig unpassend gewählt waren. Nun denn – Gute Nacht! Ja, Ihre Hand werden Sie mir doch wohl zum Abschied geben können?«

Sie stand noch eine Weile da, reichte ihm dann zögernd die Hand und wandte sich mit einem geflüsterten »Gute Nacht« um. Dann ging sie langsam denselben Weg zurück, den sie gekommen war.

Emanuel blieb stehen, ganz verwirrt vor Überraschung. Er hatte gefühlt, wie kalt ihre Hand war, und wie sie zitterte.

»Hansine,« rief er, als sie schon eine ganze Strecke entfernt war. Sie tat, als höre sie ihn nicht und setzte ihren Weg fort.

»Hansine!« – rief er wieder und diesmal mit der ganzen Kraft seiner Stimme, – und da blieb sie stehen, gleichsam wie gebannt.

Er ging zu ihr hin und sagte:

»Was fehlt Ihnen nur einmal, Hansine? Und warum sind Sie so gegen mich?«

Der Klang seiner Stimme schien sie zu erwecken. Sie wandte ihr Antlitz ab und wollte wieder gehen. Da aber hielt er sie am Arm zurück und rief ganz entsetzt aus:

»Nein, nein – so dürfen Sie nicht weggehen. Was fehlt Ihnen nur einmal, Hansine? Habe ich Ihnen etwas zuleide getan? Oder sonst jemand? . . . Wollen Sie sich mir nicht anvertrauen? Ich versichere Sie, ich bin Ihr Freund!«

Sie suchte sich mit Macht von ihm loszureißen; er aber hielt fest.

»Ich gebe Sie nicht frei, eh' Sie mit mir gesprochen haben. Um Himmels willen. Hansine – was habe ich Ihnen getan?«

»Lassen Sie mich gehen!« sagte sie heiser, und es lag Entsetzen und Flehen zugleich in ihrer Stimme.

Er wurde bange und wagte nicht, sie länger festzuhalten. Und doch floh sie nicht. Sie tat nur ein paar Schritte, blieb dann stehen, den Arm vor die Augen gepreßt, als schwindele es ihr.

Emanuel stand ganz ratlos da. War sie krank? . . . Sein eigenes Gemüt war in einer solchen Erregung, daß er sich kaum zu beherrschen vermochte. Denn gerade in diesem Augenblick gelangte er zur vollen Klarheit über seine Gefühle zu diesem jungen Mädchen. Er wußte es jetzt – er liebte sie! Zum erstenmal in seinem Leben fühlte er die Liebe im Herzen aufflammen und Gemüt und Sinne überwältigen. Er liebte sie! Ja, er sah es jetzt – sie war es, die seine Jugendträume ihm offenbart hatten, sie, nach der er sich sein ganzes Lebenlang gesehnt hatte!

»Hansine!« sagte er mit einer Stimme, die beruhigend wirken sollte, die aber vergeblich bemüht war, seine eigene leidenschaftliche Gemütsbewegung zu verbergen. »Haben Sie denn gar kein Vertrauen zu mir? Sind Sie böse auf mich? . . . Sie müssen es mir sagen, denn ich habe heute den ganzen Tag so viel an Sie gedacht . . . Und ich habe mich so danach gesehnt, mit Ihnen zu sprechen,« fuhr er fort, indem er in seiner Benommenheit abermals ihre Hand ergriff, obwohl sie ihm noch immer den Rücken wandte. »Wollen Sie mir nur diese eine Frage beantworten? Hören Sie, Hansine? Sie dürfen nicht gehen, ehe Sie es mir gesagt haben. Sind Sie böse auf mich?«

»Nein.«

Etwas in dieser kurzen Antwort und in dem wilden Pochen ihres Herzens, das er bis in ihre Hand hinein spüren konnte, zündete ihm plötzlich ein Licht an. Konnte es möglich sein? . . . durfte er wirklich glauben? . . . Die Gedanken brausten ihm wie ein Sturmwind durch den Kopf . . . Ach Gott! Konnte es wirklich wahr sein? . . .

Um sie nicht einzuschüchtern, zwang er sich mit Aufbietung seiner ganzen Willenskraft, ruhig zu sein. Zitternd beugte er sich über sie und stammelte:

»Hansine, Sie müssen mir nun noch auf eins Antwort geben. Sagen Sie mir . . . irre ich nicht, wenn ich fühle, daß Gott selbst uns hier heute abend zusammengeführt hat? . . . Nein, nein! Gehen Sie nicht fort! Sie dürfen mir nichts verbergen. Haben Sie mich ein wenig lieb? Sagen Sie es mir . . . haben Sie mich nur ein ganz klein wenig lieb?«

Sie riß ihre Hand mit verzweifelter Kraft an sich, um loszukommen. Aber jetzt lagen seine beiden Arme um sie geschlungen und er zog sie mit unbeherrschter Leidenschaft an sich.

»Hansine . . . liebe, liebe Hansine . . .«

Aber sie hörte nicht mehr. Sie war machtlos in seinen Armen zusammengesunken. Ein verzweifeltes, krampfhaftes Weinen quoll hervor. Es sah so aus, als wünsche sie nur, daß die Erde sich öffnen und sie verschlingen möge.

Im selben Augenblick erscholl ein munteres Pfeifen irgendwo in der Nähe. Emanuel wandte sich um und war unangenehm überrascht, als er einen Mann erblickte, der am Strande entlang gegangen kam und seinen Stock schwenkte. Augenblicklich gab er Hansine frei und wurde dunkelrot. Er hatte den jungen Hilfslehrer Johansen erkannt, der seiner Gewohnheit gemäß hier zwischen den Hügeln nach alleingehenden Mädchen umherschnüffelte.

»Komm, laß uns gehen,« sagte er schnell.

Aber der Hilfslehrer hatte ihn trotz der Dämmerung schon entdeckt und erkannt. Er blieb stehen, lüftete dann mit ausgesuchter Ehrerbietung den Hut und verneigte sich, als wolle er sagen: »Welche Überraschung! . . . Ich habe die Ehre zu gratulieren.«

»Laß uns gehen!« wiederholte Emanuel. Aber als er sich umwandte, war Hansine verschwunden.

* * *

Ueber dem Vejlbyer Pfarrhaus ruhte am nächsten Morgen gleichsam schwüle Gewitterluft. Als Emanuel – ein wenig später als gewöhnlich – an den Teetisch hinabkam, fand er weder den Propst noch Fräulein Ragnhild vor. Die alte Magd, die aus der Küche kam, schenkte ihm schweigend den Tee ein und schob ihn ihm vorsichtig von der andern Seite des Tisches hinüber mit einer Miene, in der er bereits sein Todesurteil las.

Draußen in der langen Haselallee des Gartens wanderte Propst Tönnesen rastlos auf und nieder. Schwere Tabakwolken, die sich mit einer förmlich ängstlichen Hast in den Haselhecken verkrochen, verrieten deutlich seine Gemütsstimmung; – so dampfte Propst Tönnesen nur, wenn sein Sinn sich in höchster Erregung befand. Gleich beim Morgentee hatte ihm Fräulein Ragnhild von dem Auftreten des Kaplans im Versammlungshause erzählt; aber schon vorher hatte er von der Sache gehört durch eine Lumpensammlerin, die früh am Morgen bei Lone in der Küche gewesen war und dort wiedererzählt hatte, was sie ringsumher im Dorf über Herrn Hansteds Vortrag hatte erzählen hören. Der Propst, der sich noch in seinem Schlafzimmer befunden, hatte von hier aus einzelne Worte der Alten aufgeschnappt, so daß die Mitteilung der Tochter insofern nur eine Bestätigung von dem war, was er bereits geahnt hatte.

Vom Ende der Allee her näherte sich eine Person in hellem Sommerüberzieher und mit steifem Strohhut – Hilfslehrer Johansen.

Als der Propst ihn erblickte, blieb er stehen und rief ihm ungeduldig entgegen:

»Nun, was ist denn jetzt los?«

Herr Johansen entblößte seinen Lockenkopf, blieb in einer Entfernung von vier Schritten stehen, verbeugte sich und sagte:

»Entschuldigen, Hochehrwürden – ich habe eine Geburt für das Kirchenbuch zu melden.«

»Ach, nichts weiter! warum kommen Sie denn so angeschlichen, als sei ein Unglück geschehen . . . wessen Kind ist es denn?«

»Des Mädchens Mette Andersen.«

»So, so. Wieder ein Mädchen! . . . ja, natürlich! Leichtfertigkeit und Ausschweifungen an allen Ecken und Enden! Befreiung von allen Banden – das ist ja die Lösung der Zeit!«

Hilfslehrer Johansen sah nieder und dann mit einem unruhigen Blicke nach der Seite. Er war nicht ganz sicher, auf wen diese Worte hinzielten; und er hatte zurzeit selbst ein etwas belastetes Gewissen in bezug auf den berührten Punkt.

»Ich hoffe,« – fuhr der Propst strenge fort, – »daß Sie, Herr Johansen, die Schulkinder ernstlich zu dem Gebot der Pflicht erziehen. Das ist heutzutage, wo die Zügellosigkeit auf allen Märkten gepredigt wird, notwendiger denn je. Sehen Sie ihnen nichts durch die Finger! die bösen Geister müssen gezähmt werden!«

»Ich glaube, Hochehrwürden, versichern zu können, daß ich mich nach dieser Richtung hin aufs äußerste angestrengt habe. Ich bin gerade besonders sorgfältig bemüht gewesen, den Kindern die Gebote der Pflicht einzuschärfen. Aber – – hm! . . . Hier kommt es ja in erster Linie auf das gute Beispiel an! Die Macht des schlechten Beispiels ist leider gerade in diesem Punkt so außerordentlich groß.«

»Freilich – ja, natürlich!« entgegnete der Propst und betrachtete Herrn Johansen mit leichter Überraschung. »Aber woran denken Sie hier im Grunde? Haben Sie da bestimmte Personen im Auge, die der Gemeinde ein schlechtes Beispiel geben?«

»Gott bewahre, Hochwürden! . . . es war keineswegs meine Absicht, einen Bestimmten anzuklagen. Ich meine nur so ganz im allgemeinen –«

»Unsinn! Behalten Sie die Umschweife für sich und sprechen Sie sich ordentlich aus! Wen meinen Sie damit? Wen halten Sie für die besonders schädlichen Elemente in der Gemeinde? . . . Nun, so reden Sie doch!«

»Hm, Hochwürden haben mich wirklich mißverstanden. Ich meinte nur – so ganz im allgemeinen –«

»Keine Umschweife, sage ich noch einmal! Antworten Sie auf das, was ich frage!«

»Ich versichre Hochwürden, ich meinte nur, daß . . . daß, zum Beispiel ein Mann wie der Herr Kaplan vielleicht im Interesse der Gemeinde etwas vorsichtiger in seinem Benehmen sein sollte . . . Die Leute auf dem Lande sind so geneigt, alles verkehrt aufzufassen.«

»Der Kaplan!« rief der Pfarrer mit gerunzelter Stirn aus und maß den Hilfslehrer dreimal vom Scheitel bis zur Sohle. »Wie kommen Sie nur darauf, Herrn Hansted in diesem Zusammenhang zu nennen? Sie werden doch Pastor Hansted nicht etwa beschuldigen, Schamlosigkeiten zu begehen? . . . Nun, so reden Sie doch und erklären Sie sich, Mensch!« brüllte er und stampfte mit dem Fuß.

Herr Johansen wand sich wie ein Wurm. Er war dem Kaplan schon lange feindlich gesonnen, weil ihm der stets ganz offen seine Geringschätzung zu erkennen gegeben hatte, und es war nun seine Absicht gewesen, sich an ihm zu rächen und sich gleichzeitig bei dem Propst einzuschmeicheln, indem er sich den kleinen Einblick in das Privatleben des Kaplans zunutze machte, den ihm der Zufall am gestrigen Abend gewährt hatte. Doch war es nur seine Absicht gewesen, dem Propst vorläufig einen kleinen Verdacht in bezug auf den Kaplan beizubringen, nicht aber als sein eigentlicher Angeber aufzutreten. Nun saß er indessen in der Schlinge fest und begriff, daß er in seinem eigenen Interesse wohl daran tat, Herrn Hansted auf Gnade und Ungnade auszuliefern. Er richtete sich stramm auf, schob den Hals mit einer Bewegung vor, als schlucke er sein letztes Bedenken herunter und sagte:

»Ja, ich gestehe . . . ich bin wirklich der Ansicht, daß es kein gutes Beispiel für die Gemeinde ist, wenn man Herrn Kaplan Hansted spät am Abend auf einsamen Pfaden in besonders zärtlicher Berührung mit einem der jungen Mädchen der Gegend treffen kann.«

Propst Tönnesens Gesicht wurde aschgrau. Wieder maß er den Hilfslehrer langsam seiner ganzen Größe nach und sagte endlich:

»Wer hat das gesehen? . . . reden Sie!«

»Ich selbst. Hochwürden!«

»Sie? . . . und spät am Abend, sagen Sie!«

»Zwischen zehn und elf!«

»Und wo?«

»Draußen an der Hammer Bucht . . . bei der ›Kirche‹, wie die Bevölkerung den Ort nennt.«

»Und Sie sind ganz sicher, daß Sie nicht irren? . . . in keiner Hinsicht?«

Herr Johansen senkte den Kopf und sah verschämt zur Seite.

»Es war wirklich nicht möglich, da zu irren, Hochwürden!«

Es entstand eine kleine Pause. Dann sagte der Propst:

»Können Sie ungefähr angeben, zu welcher Zeit . . . ich meine, an welchem Abend Sie Herrn Hansted in der erwähnten Lage sahen?«

»Das ist nicht schwer, denn es war erst gestern abend.«

»Gestern?! Nach der Versammlung! Da also haben wir die Erklärung«, rief er aus, ohne zu wissen, daß er laut dachte.

Dann sah er den Hilfslehrer wieder strenge an und sagte:

»Was Sie mir da erzählt haben, bleibt vorläufig unter uns. Verstanden?«

Herr Johansen verbeugte sich demütig.

»Ich werde die Sache jetzt untersuchen lassen, und das will ich Ihnen sagen, es wird Ihnen teuer zu stehen kommen, wenn Sie sich auch nur in einem einzigen Punkt unzuverlässig gezeigt haben! . . .

Die Geburt, von der Sie sprachen, werde ich eintragen. Haben Sie die Papiere da? Gut! Ja, dann ist da nichts mehr für heute.«

Als Propst Tönnesen bald darauf von der Veranda durch die leere Eßstube kam, stieß er die Tür zur Küche auf und rief, so daß es durch das ganze Haus schallte:

»Ist Lone da?«

»Ja!« tönte es halberstickt irgendwo aus dem Keller heraus.

»Geh zum Kaplan hinauf und sage ihm, daß ich ihn zu sprechen wünsche. Ich bin in meinem Zimmer. Sag aber, daß er sofort kommen soll. Ich warte!«

* * *

Propst Tönnesen ging, die Hände auf dem Rücken, in seinem Studierzimmer auf und nieder, als Emanuel an die Tür klopfte und eintrat.

»Der Herr Propst wünschen mit mir zu reden.« Tönnesen antwortete nicht und unterbrach auch nicht seinen Gang, sondern lud ihn mit einer kurzen Handbewegung ein, sich zu setzen.

Emanuel nahm Platz auf einem Stuhl. Er hielt den Kopf erhoben, kreuzte die Beine übereinander und steckte die rechte Hand hinter den Aufschlag seines langen schwarzen, festzugeknöpften Rockes. Seine kampfbereite Haltung und Miene bemäntelte indes nur unzureichend eine heftige innere Unruhe. Auf den Wangen kamen und schwanden kleine rote Fieberflecke in schnellem Wechsel. Die Augen waren matt und farblos, wie nach einer schlaflosen Nacht.

Als der Propst noch immer schwieg, rief Emanuel endlich in nervöser Ungeduld aus:

»Ich kann mir denken, daß der Herr Propst mit mir über meinen Vortrag gestern reden will. Ich bedaure natürlich, daß ich keine Gelegenheit fand, Sie vorher davon zu unterrichten. Es war meine Absicht, es zu tun, jedoch –«

Ein Blitzstrahl aus Propst Tönnesens Augen, der endlich am entgegengesetzten Ende des Zimmers stillstand, machte ihn verstummen.

»Von der Sache werden wir später reden. Daß Sie es passend gefunden haben – trotz der Stellung, die Sie bei mir einnehmen – eine Gastrolle in Weber Hansens Zirkus zu geben, habe ich freilich schon erfahren, und hierüber sollen Sie mir bei einer andern Gelegenheit Rechenschaft ablegen. Vorläufig ist da indessen noch eine andere Sache, über die ich eine Äußerung von Ihnen fordere. Es ist mir nämlich zu Ohren gekommen,« fuhr er fort, indem er jetzt langsam durch das Zimmer herankam, die Hände auf dem Rücken und die funkelnden Augen starr auf Emanuel gerichtet, »es ist mir zu Ohren gekommen, Herr Kaplan, daß Sie in einem Punkt, in dem Sie mehr als in jedem andern ein nacheifrungswürdiges Beispiel für die Jugend der Gegend sein sollten, durch Ihr Benehmen geradezu Ärgernis in der Gemeinde erregt haben. Kurz und gut – ist es wahr, Herr Hansted, daß Sie nächtliche Zusammenkünfte mit gewissen jungen Mädchen hier in der Gegend haben?«

Emanuel hatte sich erhoben. Die Fieberflecken seiner Wangen hatten sich in einem Nu über Stirn und Schläfen verbreitet; sein ganzes Gesicht flammte.

»Wer hat das gesagt?«

»Das kann Ihnen einerlei sein«, schrie ihm der Propst jetzt gerade ins Gesicht. »Wie verhält sich die Sache? Ich wünsche eine kurze, unzweideutige Antwort, Herr Kaplan. Also – ja oder nein.«

Emanuel biß die Lippen zusammen. Nur mit der äußersten Anstrengung enthielt er sich, dem Propst eine Beleidigung ins Gesicht zu schleudern. Endlich sagte er:

»Falls mit gewissen jungen Mädchen Anders Jörgens Tochter gemeint ist – und von andern kann hier keine Rede sein – so ist es halbwegs wahr.«

»So, Sie gestehen also!«

»Ja; – sie ist nämlich meine Braut. Ein weiteres Ärgernis kann dies Verhältnis indessen bisher unmöglich in der Gemeinde erregt haben, da es gestern abend das erstemal war, daß ich mit ihr allein gesprochen habe. Und dies geschah sogar – soweit ich jetzt verstehe – nicht ohne Zeugen. Herr Hilfslehrer Johansen kam nämlich darüber zu.«

Propst Tönnesen war erst einen, dann noch einen schweren Schritt zurückgewichen. Seine Hände fielen vom Rücken schlaff an den Seiten herab und er starrte seinen Kaplan mit einem Blick an, der im Laufe einer halben Minute eine Skala der widerstrebendsten Gefühle zum Ausdruck brachte und sich schließlich gleichsam zu einem mitleidgemischten Entsetzen versteinerte.

Es war nun auch in diesem Augenblick gerade nicht die Glückseligkeit eines Neuverlobten, die sich in Emanuels Gesicht widerspiegelte. Seine übernächtigen Züge und rotgeränderten Augen verrieten deutlich den Kampf, den er in einsamen nächtlichen Stunden mit aufsteigenden Besorgnissen zu bestehen gehabt, weil er in einer der allerwichtigsten Angelegenheiten des Lebens in Übereilung gehandelt hatte, ohne sich hinreichend mit Gott und seinem Gewissen zu beraten.

Nach einem kurzen Schweigen trat der Propst abermals ganz nahe an ihn heran und legte vorsichtig die Hand auf seine Schulter.

»Herr Hansted!« sagte er ganz bewegt. »Ich muß ein Wort mit Ihnen reden . . . Nicht als Ihr Vorgesetzter, sondern als ein wahrer und aufrichtiger, väterlicher Freund. Vielleicht können Sie in der Gemütsverfassung, in der Sie sich augenblicklich befinden, mich nur schwer als solchen erkennen – und doch versichere ich Sie, ich bin Ihr Freund, und ich denke hier nur an Ihr Bestes. – Nein, nein, jetzt dürfen Sie mich nicht unterbrechen. Jetzt muß ich einmal zu Ende reden dürfen. Ich muß es – hören Sie? Sie wissen in dieser Zeit selbst nicht, was Sie tun. Sie sind krank, beredet, verlockt . . . Ich weiß nicht was; aber ich bitte Sie mit all der Macht, die ich über Sie besitze, machen Sie diesen Schritt rückgängig, ehe ein größerer Schaden daraus entsteht. Hören Sie? Sie müssen es – Sie sollen es! Du großer Gott, wie ist dies denn nur einmal gekommen? Wo haben Sie denn nur Ihre Vernunft gehabt? Was, denken Sie, wird Ihre Familie, was werden Ihre Freunde, Ihr ganzer Bekanntenkreis dazu sagen? Gehen Sie doch in sich, Herr Hansted . . . Bedenken Sie, worauf Sie sich einlassen; sehen Sie doch ein, was Sie aufs Spiel setzen –!«

Emanuel trat einen Schritt zurück, um seine Schulter von der Hand des Propstes zu befreien und rief aus:

»Ich kann Ihnen nicht erlauben, so zu reden. Zum Verständnis dieses meines Verhältnisses . . . meiner Freude und meines Glückes – fehlt Ihnen jegliche Voraussetzung und es nützt nicht, daß wir noch weiter darüber reden.«

Der Propst biß sich in die Lippe und betrachtete ihn mit einem finstern, unschlüssigen Blick. Seine breite Brust wogte. Das Gesicht war hochrot; es sah aus, als ob ein Schwall von heftigen Worten ihm in der Kehle koche.

Dann wandte er sich auf einmal ab und trat langsam an das Fenster, wo er schweigend stehen blieb und hinausstarrte.

Mehr als zwei Minuten lang herrschte Todesstille im Zimmer.

Endlich sagte Emanuel:

»Hat der Herr Propst mir noch mehr zu sagen?«

Tönnesen wandte sich um.

»Ja, Herr Hansted,« erwiderte er mit erkämpfter Ruhe. »Ich halte es für meine Pflicht, Sie noch einmal auf das allereindringlichste vor dem verhängnisvollen Schritt zu warnen, den Sie vorzunehmen im Begriff stehen. Ich habe Sie in mein Haus aufgenommen und ich kann es nicht ruhig mit ansehen, daß Sie auf diese Weise sich selbst unglücklich machen – und andere mit Ihnen. Natürlich zweifle ich nicht daran, daß Sie in dem besten Glauben handeln«, fuhr er fort, indem er wieder langsam durch das Zimmer herankam. »Natürlich meinen Sie selbst, daß dies für Sie wie auch für das junge Mädchen ein Glück werden wird. Aber Sie sind ein Träumer, ein Schwärmer, Herr Hansted, das habe ich schon lange bemerkt; Phantasterei liegt Ihnen als unglückseliges mütterliches Erbe im Blut und führt Sie wie einen geblendeten Mann auf verworrenem Pfade. Sehen Sie doch in Ihr wahres Ich hinein. Reißen Sie diese Traumbinde von den Augen und Sie werden selbst erschrecken über den Abgrund, an den man Sie hinausgelockt hat. Wie ist es doch nur zugegangen, daß Sie mit Ihren Kenntnissen und Ihrem Verstand sich bis zu diesem Maße verblenden lassen konnten? Was soll man von Ihnen glauben, was soll man von Ihnen denken, Herr Hansted?«

»Darüber werde ich mich nicht äußern. Ich weiß nur, daß ich Ihrem Wunsche, meine Handlungen zu bereuen – weder die eine noch die andere – nicht nachkommen kann.

Wenn ich gestern im Skibberuper Versammlungshaus geredet habe, so geschah das nach reiflicher Überlegung, ich habe keinen Grund, es ungeschehen zu machen. Ich fühle, daß ich gestern zum erstenmal in Wahrheit mit der Gemeinde zusammen war – wenn der Herr Propst zugegen gewesen wäre, er hätte sicherlich selber einräumen müssen, daß die Freude hierüber gegenseitig war.«

»Das glaube ich herzlich gern!« brauste Tönnesen auf. »Wenn man Kindern und Bauern Märchen erzählt und ihnen daneben ein wenig schmeichelt, so sind sie seelenvergnügt. Wenn das die große Entdeckung ist, die Sie gemacht haben, so haben Sie freilich ein wenig lange dazu gebraucht. Über die Weisheit hätte ich Sie schon lange belehren können!«

»Der Herr Propst irrt sehr«, erwiderte Emanuel beherrscht und mit einem Gepräge von Würde. »Es waren weder Märchen noch Schmeicheleien, die den Zuhörern die Ohren auftaten, sondern allein der Umstand, daß ich mit meinem Zeugnis als Mensch unter Menschen auftrat, nicht als Richter unter Sündern. Das ist meine große Entdeckung – wenn dem Herrn Propst wirklich daran gelegen ist, sie zu kennen – daß man als Geistlicher auch noch eine andere Aufgabe haben kann als die, beständig als Steuereinnehmer des Himmels umherzugehen und die Sündenschuld der Menschen einzukassieren – und hierfür habe ich gerade gestern die gewünschte Bestätigung erhalten.«

»Ah – Ha! So weit also ist es mit Ihnen gekommen! So verstockt sind Sie also schon, daß ich alle Weber Hansens Redensarten aus Ihrem Munde hören muß! Wahrlich, Sie sind ein lernbegieriger Schüler gewesen, Herr Hansted! Steht es so mit Ihnen, dann begreife ich, daß ich mir die Mühe sparen kann, zu versuchen, Sie zu Verstand zu bringen . . . Aber dann sind Sie wohl auch darauf vorbereitet,« fuhr er mit erhobener Stimme fort und ging jetzt Emanuel ganz scharf zu Leibe – »dann sind Sie wohl auch auf die Schritte vorbereitet, die ich, nach dem Geschehenen, vorzunehmen gedenke? Kurz und gut, Herr Kaplan! Sie haben jetzt zu wählen – ich oder Weber Hansen!«

»In dem Fall . . . ist die Wahl getroffen!«

»So, also! Nun gut! Sie reden sehr kühn! . . . Verstehen Sie nun aber auch wirklich, was das bedeutet? Sind Sie sich klar darüber, daß dies heißt, daß Ihre Zeit hier bei mir dann vorbei ist . . . unwiderruflich vorbei, verstehen Sie?«

»Das habe ich mir bereits gedacht, aber ich habe von nun an meinen eigenen Beruf hier in der Gemeinde – und der bleibt ganz unbeeinflußt davon, ob ich Kaplan des Propstes bin oder nicht.«

»Was Sie sagen! Also ein vorbereiteter Angriff! Eine förmliche Kriegserklärung! Sie wollen einen offenen Kampf in meiner Gemeinde entfachen!«

»Nein, keineswegs. Ich für mein Teil wünsche nur das Gute, was ich vermag, in Frieden ausrichten zu dürfen zu meiner Entwicklung und zu der der andern. Damit bin ich zufrieden.«

»Ich aber nicht. So leichtes Spiel werden Sie hier nicht haben – verlassen Sie sich darauf! Auf eine Kraftprobe kommt es hier an, ihr guten Leute, und ihr sollt nicht zu ruhig in bezug auf den Ausfall sein! . . . Ja, sehen Sie mich nur an, messen Sie sich nur mit mir, mein junger Herr! das könnte Sie doch am Ende noch ein wenig zur Vernunft bringen. Die alten Bäume fallen nicht auf den ersten Hieb – das ist aber bei den jungen zuweilen der Fall; und das sollen Sie erfahren! Gestern haben Sie geredet, Herr Hansted! jetzt habe ich das Wort!«

* * *

Als Propst Tönnesen einen Augenblick später mit Gepolter die Tür zum Wohnzimmer öffnete, kam Fräulein Ragnhild im selben Augenblick aus dem Eßzimmer, eine Porzellanschale voll gelber Blumen in den Händen. Sie trug einen leichten Morgenrock, der um die Taille von einer dicken Schnur mit langen Enden und Quasten zusammengehalten wurde. Auf ihrem Kopf saß ein flacher, hellgrauer Filzhut ohne weiteren Schmuck als einen weißen Schleier, der ihr im Rücken herabhing. Sie war bleich, wie immer, aber unter ihr Kinn warfen die Blumen einen prachtvollen, rotgelben Schimmer, als trüge sie eine Schale voll flammenden Sonnenlichts.

»Was ist geschehen?« fragte sie sofort beim Anblick des erregten Aussehens des Vaters und blieb erschreckt vor dem schweren Mahagonitisch in der Mitte des Zimmers stehen.

»Ja, das fragst du wohl! Ich glaube wahrhaftig, die Welt ist in der letzten Zeit aus den Fugen gegangen! Die Leute sind behext, vollständig verrückt!«

»Was ist denn geschehen?«

»Ach – nicht mehr und nicht weniger, als daß unser Freund, Herr Hansted, sich verlobt hat!«

Fräulein Ragnhild setzte die Schale mit einer so hastigen Bewegung auf den Tisch, daß etwas von dem Wasser über die ausgelegten Prachtwerke verschüttet wurde. Ihre Wangen färbten sich rosenrot bis ganz an die Schläfen hinan.

»Was sagst du . . . Herr Hansted?«

»Ja, weiß Gott! . . . aber du wirst kaum erraten können, wer die Auserkorene ist!«

»Ist es . . . ist es eine Dame hier aus der Gegend?«

»Ja, hier aus der Gegend ist sie freilich; aber eine Dame kann man sie gerade nicht nennen. Es ist nämlich Anders Jörgens' Tochter in Skibberup. Was sagst du dazu?«

»Ach, Unsinn! Das ist nicht möglich!«

»Ja, das sagst du wohl! Man weiß wirklich schließlich nicht mehr, was man von dieser Zeit der Tollheiten denken soll, in der wir leben. Es ist fast, als wenn alle gesunde Vernunft im Begriff sei, die Welt zu verlassen! . . . Und überall diese jammervolle Katzenbuckelei vor dem Volke, diese wahnsinnige Bauernvergötterung, die heutzutage wie eine Pest in der Luft zu liegen scheint. Ich weiß sonst wahrhaftig nicht mehr, wie man es erklären soll, daß bisher ganz vernünftige Menschen auf einmal und scheinbar ohne alle Veranlassung wie besessen werden . . . Daß es sogar unter meinen eigenen Studiengenossen Männer gibt, die in ihren alten Tagen plötzlich anfangen, sich zum Narren zu machen, sich in Beiderwandröcke kleiden, bäurisch sprechen und ihre Töchter Kühe melken lassen!«

»Und nun gar dies! Dies ist ja der reinste Wahnsinn! Und du sollst sehen, Ragnhild – es bleibt nicht dabei allein! Dies ist nur das erste Ergebnis der Tollheit. Es werden noch andere nachfolgen! Herr Hansted hat schon in dem Grade allen gesunden Menschenverstand eingebüßt, daß er wie alle beschränkten Personen, die von etwas Neuem gepackt werden, die Idee von sich hat, daß er hier eine Mission auszuführen habe. Er will der Prophet der neuen Zeit hier bei uns sein, ein Parteistifter, Aufzüge veranstalten, kurz und gut . . . so wie es heutzutage Mode ist!«

Fräulein Ragnhild hatte mit der mechanischen Bewegung einer Nachtwandlerin den Hut von ihrem Kopf gelöst und war an das Fenster getreten. Wie überwältigt von Müdigkeit hatte sie sich hier auf einen Stuhl gesetzt und angefangen, die Hühnerschar auf dem Hofe zu beobachten.

»Nun ja –« rief sie in gleichgültigem Tone aus, als sie merkte, daß der Vater sie zu beobachten begann. »Gewissermaßen ist dies wohl nichts weiter, als was man erwarten mußte bei der Richtung, die Herrn Hansteds ganze Entwicklung in der letzten Zeit eingeschlagen hatte. Es war ihm ja schon lange anzumerken, daß so etwas kommen mußte!«

»Ja, das ist gerade der Vorwurf, von dem ich mich nicht ganz freisprechen kann, Ragnhild! Ich hätte ihn gleich von Anfang an mit festerer Hand anfassen sollen. Wer weiß, – vielleicht wäre er da zu retten gewesen. Ich faßte ja sehr bald Verdacht . . . aber er war doch ein erwachsener Mensch, und es ist wirklich schwer, einen Mann als Kranken zu behandeln, ehe man ganz sichere Beweise für die Krankheit in Händen hat. Aber nun herrscht für mich kein Zweifel mehr . . . er ist verrückt, komplett verschroben! Wenn ich zurückdenke, kann ich ja die Entwicklung der Krankheit Schritt für Schritt verfolgen von dem Augenblick an, als er unser Haus betrat. Es ist der Wahnsinn der Mutter, der bei dem Sohn wieder zum Ausbruch kommt. Sie hatte, wie ich gehört habe, in ihrer Jugend einen ganz ähnlichen Anfall des Gleichheitsraptus von achtundvierzig und machte einmal geradezu Skandal auf einer öffentlichen Versammlung durch eine völlig revolutionäre Rede. Und – ja, ist das nun nicht sonderbar? – drüben bei Pastor Petersens, von denen ich überhaupt das meiste von dem habe, was ich über sie weiß, erzählte man mir neulich, daß sie gerade hier – in unserer nächsten Nähe – ihrer Zeit ihre wilden Ideen ins Praktische zu übertragen suchte. Sie soll nämlich den eigentlichen Anlaß zu der Hochschule drüben in Sandinge gegeben haben, der ja auch wir in der Hauptsache alle unsere Unruhe in der Gemeinde verdanken. In dem Falle kann man mit Wahrheit sagen, daß Herr Hansted jetzt ein Opfer der Jugendtorheiten seiner Mutter geworden ist. Aber so geht es!«

Fräulein Ragnhild hörte nicht mehr des Vaters Worte, ja sie merkte es kaum, als er endlich seinen Redestrom anhielt und das Zimmer verließ. Sie begriff es eigentlich nicht, daß diese Verlobung einen so starken Eindruck auf sie machen konnte, insofern, als sie sich bewußt war, selbst keine Enttäuschung dadurch zu erleiden. Ihr Interesse für Herrn Hansted war im Gegenteil in der letzten Zeit stark in der Abnahme begriffen gewesen, und es diente ihm in ihren Augen gerade nicht als Empfehlung, daß er sich in ein Bauernmädchen verliebt hatte. Und doch war es, als ob infolge dieses Ereignisses noch ein Licht in ihrem Dasein ausgelöscht, als ob inwendig in ihr noch ein leerer Raum entstanden sei. Sie verlor mit dem Kaplan ja doch einen Genossen, der gewissermaßen ihr einziger war; einen verständnisvollen Leidensgefährten in ihrer Wüsteneinsamkeit und Melancholie . . . War da noch mehr?

. . . Währenddes befand sich Emanuel auf dem Wege nach Skibberup. Die Sonne schien und er schritt flott vorwärts mit festen, entschlossenen Schritten. Die stürmische Unterredung mit dem Propst und hinterher der Anblick der sonnenbestrahlten Frühlingslandschaft hatten den Selbstanklagen, mit denen er sich in der langen schlaflosen Nacht gequält hatte, ein jähes Ende bereitet. Er fühlte sich wieder stolz und glücklich in dem sichern Bewußtsein, mit seiner jungen Liebe den letzten Rest alten Vorurteils überwunden zu haben. Es schien ihm denn auch, als wenn ihm die Sonne und die wilden Blumen der Wiesen zulächelten, ja, daß selbst die Kühe auf dem Felde ihm im Vorbeifahren ein »Viel Glück!« zunickten.

* * *

Auch Hansine hatte die ganze Nacht kein Auge geschlossen. In halb verwirrtem Zustand war sie am Abend zu Hause angelangt, wo ihre Eltern sich glücklicherweise schon zur Ruhe begeben hatten, so daß sie in ihre Kammer schleichen und sich entkleiden konnte, ohne daß jemand sie sah. Obwohl der Gedanke, daß ein junger Geistlicher oder Volksredner eines schönen Tages – so wie der Prinz in dem Märchen – ihren Weg kreuzen, in Liebe zu ihr entbrennen und sie als seine Frau über das erdgebundene Leben der Bauern zu einem Fluge nach den lichten Höhen des Geistes emporheben würde, ihr keineswegs fremd war, indem er seit dem allerersten Mal, da sie als halberwachsenes Mädchen bei einer der großen Freundeszusammenkünfte drüben in Sandinge zugegen gewesen, wieder und wieder in ihren Träumen auftauchte, und obwohl es wirklich stimmte, was ihre Freundinnen behaupteten, nämlich, daß dieser Held ihrer Träume im Laufe des Winters mehr und mehr die Gestalt des Kaplans angenommen, so hatte sie während der Begegnung mit Emanuel doch keinen Augenblick geglaubt, daß seine Worte etwas anderes sein könnten, als ein Ausdruck des Mitleids, ein Versuch, sie in seiner Eigenschaft als Geistlicher zu trösten und ihr gütlich zuzureden. Deswegen wünschte sie jetzt, daß sie sterben möge. Die ganze Nacht lag sie da und zitterte unter dem Federbett aus Angst vor dem Kommen des Tages, weil sie nicht wußte, woher sie den Mut nehmen sollte, wieder Menschen zu sehen, nachdem sie so schmählich ihr teures Geheimnis verraten hatte.

Und doch, als der Tag graute, und das schlaftrunkene Gepiepse der Vögel sich im Garten draußen vor ihrem Fenster hören ließ, wurde sie ruhiger. Sie fing an, mit mehr Besonnenheit zu durchdenken, was der Kaplan gesagt hatte und wie überhaupt alles zugegangen war. Und je lebendiger sie sich nun in der Erinnerung die Begebenheit des Abends zurückrief, um so mehr Gewalt mußte sie sich antun, um selbst den Gedanken von sich zu schieben, daß der Kaplan sie wirklich gebeten hatte, seine Frau zu werden. Sie entsann sich des liebevollen Tons, in dem er sie gefragt hatte, ob sie ihn lieb habe. Und wie er ihre Hand genommen und sie an seine Brust gepreßt hatte . . . es ward ihr immer unmöglicher, sich seine Werbung auszureden.

Und kaum war sie aufgestanden, als sie auch schon Gewißheit erhielt. Von der Lumpenhändlerin der Gegend ward ihr ein Brief durch das Fenster gesteckt, gerade als sie dastand und ihr Haar kämmte; und sie brauchte nur einen Blick auf die Aufschrift zu werfen, um zu wissen, von wem er war. Da stand: »An Jungfer Hansine Andersdatter«. Der Inhalt bestand nur aus einer einzigen Zeile.

»Ich komme heute vormittag und rede mit Deinen Eltern! Emanuel.« Dieser Brief brachte sie wieder ganz aus der Fassung; sie blieb auf dem Rande des Bettes sitzen, den Kopf zwischen den Händen und wußte in ihrer Verzweiflung nicht, was sie machen sollte. Hätte sie Ane doch niemals am Strande entlang begleitet – dachte sie – dann wäre dies Unglück vielleicht nicht geschehen!«

Sie beschloß, sich ihrer Mutter anzuvertrauen. Nachdem sie sich fertig angekleidet und sich bemüht hatte, die Spuren von dem Kampf der Nacht zu verwischen, ging sie in die Küche.

Else, die damit beschäftigt war, den Herd anzuzünden, rief sofort bei ihrem Anblick aus:

»Herr du meines Lebens, Kind! was ist dir denn passiert?«

Hansine wollte anfänglich nichts sagen und begann die Milchschüsseln von dem Bort herunterzunehmen. Als aber die Mutter nicht nachließ, in sie zu dringen, ja, sich schließlich förmlich böse stellte und sie beim Arm nahm, um sie zum Reden zu bringen, fing Hansine auf ihre gewöhnliche, mürrische Weise an zu erzählen, daß sie dem Kaplan gestern abend am Strande begegnet sei, und daß er – daß er –

Weiter konnte sie nicht kommen.

»Na, was denn? so erzähl' doch, Herzenskind!« sagte die Mutter.

»Er hat . . . er hat mir einen Antrag gemacht!« rief sie endlich aus und warf sich bei den Worten unter stummem Schluchzen über die Lehne des Küchenstuhls.

Die Mutter faltete voller Entsetzen die Hände über die Feuerzange und vermochte lange nicht zu reden.

»Das ist nicht wahr, Hansine,« sagte sie endlich, fast flüsternd, – als sei von einem eingestandenen Verbrechen die Rede gewesen.

Als die Tochter nicht antwortete, sondern nur fortfuhr, stumm zu schluchzen, fügte sie immer bleicher und halb dem Weinen nahe hinzu: »Das ist aber doch ganz unbegreiflich. Hansine! . . . Wenn ich man bloß verstehen könnt', wie es zugegangen is! Wer hätt' auch denken können, daß es so schlimm kommen würd'! . . . Was sagen die Leute da man bloß zu! Das is ja rein fürchterlich!«

Im selben Augenblick kam Anders Jörgen mit zwei Blecheimern aus dem Hofe hereingestampft, um Milch für die Kälber zu holen.

»Was is' denn hier los, Kinners?« rief er morgenfröhlich aus und hielt die Eimer mit steifen Armen vor sich hin.

Als er endlich aus Elses stammelndem Bericht verstanden hatte, was los war, setzte auch er ein höchst bedenkliches Gesicht auf. Er hatte es sich nämlich ein für allemal zur Gewohnheit gemacht, die Mienen seiner Frau anzunehmen – aber im Grunde war es ihm nicht recht klar, was dabei zu weinen war. Er wäre weit eher geneigt gewesen, das Geschehene als eine glückliche Fügung des Himmels zu betrachten; aber er hütete sich stets, Meinungen zu äußern, die Else nicht zuvor als gut erkannt hatte, weil er überhaupt kein sonderliches Zutrauen zu seiner eigenen Urteilskraft besaß.

Nun stand er da mit seinen sonderbar toten, blauweißen Augäpfeln und starrte in verwirrter Unschlüssigkeit von Mutter zu Tochter hin und her. Und als keine von ihnen etwas sagte, entschlüpften seinem Munde die Worte:

»Ja, aber – ja, aber. Hansine! Wie in aller Welt is' dies denn bloß einmal gekommen?«

»Das weiß ich nicht,« sagte endlich Hansine halb unhörbar. Sie hatte den Kopf noch auf den Arm gelegt, weinte jetzt aber nicht mehr. Der Eltern einstimmige Ausrufe des Bedauerns fingen an, sie zu kränken.

Aber nun näherte sich die Mutter und legte vorsichtig die Hand auf ihre Schulter.

»Ja, aber so sag' es mir doch, Hansine . . . magst du ihn denn auch?«

Anfänglich antwortete sie nicht, als aber die Mutter ihre Frage wiederholte und dabei die Hand mit einer gleichsam verzeihenden Liebkosung über ihr Haar gleiten ließ, murmelte sie:

»Ja, das tue ich woll.«

»Ja, denn da kommt es doch schließlich auf an, Kind, daß ihr beide glaubt, daß es ein Glück für euch werden kann. Denn wenn es für uns auch ganz schnurrig zu denken is – denn – wo es nu doch mal so gekommen is – denn kann man ja blos den lieben Gott bitten, seinen Segen dazu zu geben.«

»– Seinen Segen dazu zu geben,« – wiederholte der Vater schnell; sein Gesicht fing an, sich zu einem Lächeln zu erhellen.

»Wenn nu man bloß die Leute nich' allzu schief dazu sehen wollten . . . davor bin ich am meisten bange,« fuhr Else fort, »natürlich wird da alles mögliche Häßliche über gesagt werden; und am End' werden auch welche meinen, daß wir unsere Finger mit dabei in Spiel gehabt haben, mit den Kaplan, bloß, um ihn anzulocken. Aber da muß man denn sehen, daß man da über wegkommt.«

»Ach, was sollt' man da woll groß über sagen,« versuchte Anders Jörgen vorsichtig, »die Leute kennen den Kaplan nu ja doch!«

Else pflegte nicht weiter danach hinzuhören, was er sagte, und auch jetzt beachtete sie seine Worte nicht weiter, sondern blieb schweigend stehen und betrachtete mit besorgten Sinnen die Tochter, die sich noch immer nicht rührte.

Nach Verlauf einer Weile sagte sie, halb verschämt:

»Ja, dann kommt er . . . dein . . . ich mein', der Kaplan, heut' woll am Ende her?«

»Er kommt heute vormittag«, murmelte Hansine.

»Dann müssen wir machen, daß wir an die Arbeit kommen. Es muß hier doch ein bißchen ordentlich aussehen, wenn er kommt. Er soll doch merken können, daß er willkommen is' . . . Du, Anders, mußt dich auch ein bißchen zurechtmachen, wenn du dein Vieh besorgt hast.«

»Ich?« sagte der alte Mann erstaunt und sah an seinem grauen geflickten, eigengemachten Anzug nieder, wo Spreu und Häckerling in den groben wollenen Haaren hingen und baumelten. –

Es war ein geschäftiger Morgen. Da es ein Montag war, lag vom vorhergehenden Ruhetag noch viel unbestellte Arbeit vor. Sahne zum Buttern war zum Sauerwerden aufgegossen, eine Schüssel mit Molken sollte zu Käse verarbeitet und ein halbes Schwein eingesalzen werden. Auch hatte man Wäsche auf der Bleiche, und im Stall stand eine kranke Kuh, die jede zweite Stunde gemolken werden mußte.

Else, die begriff, daß sie nicht sonderlich auf Hansinens Hilfe würde rechnen können, und die es auch nicht übers Herz bringen konnte, ihre Gedanken mit Beschlag zu belegen, schickte zu einer Häuslerfrau, die sich auch sofort einfand. Dieser wagte sie schließlich doch die Neuigkeit nicht mitzuteilen, obwohl die Frau mehrmals neugierige Anspielungen machte und schließlich geradezu fragte, ob Besuch erwartet werde.

»Ja, da kommt am Ende wer«, antwortete Else ausweichend und stieg in den Salzkeller hinab.

Währenddes hatte Hansine ihren Bruder Ole draußen im Stall aufgesucht und ihn gebeten, nach dem »Gehölz« zu Ane zu laufen und ihr zu sagen, sie solle auf alle Fälle schnell zu ihr kommen, denn sie müsse absolut noch heute vormittag mit ihr sprechen, und obwohl Ole keinen Muck davon begriff, was hier vor sich ging, versprach er den Bescheid in die rechten Hände abzuliefern, und einen Augenblick später sah man ihn in vollem Galopp über die Hügel dahinrennen.

Während Hansine voller Unruhe auf ihre Freundin wartete, setzte sie sich in ihre Kammer ans Fenster und starrte in den kleinen schattigen Garten hinaus, wo die eiförmigen Sonnenflecke über Gras und Gänge krochen in ihrer Schneckenwanderung von Westen nach Osten. Sie verstand es nicht, daß die Welt so ihren täglichen Gang ging, als sei nichts geschehen. Da spazierten die Hühner ruhig umher und scharrten unter den Stachelbeerbüschen in der Erde, und die Elstern flogen geschwätzig von einem Baumwipfel zum andern, ganz so wie gestern. Hinter dem Damm sah sie den sonnenbeschienenen Rücken des alten braunen Gauls, der unbeweglich mit gesenktem Kopf dastand und sich schmoren ließ; und sie konnte nicht umhin zu denken, wie gut so ein Tier es doch im Grunde hatte. Es hatte keine Sorgen, keine Angst, es kannte nicht diese schreckliche Beklommenheit, die das Herz klopfen machte, so daß der ganze Körper weh tat.

Endlich kam die Freundin. Unter vielen verlegenen Umschweifen und großem Kampf und schweren Tränen vertraute ihr Hansine auf dem Rande des Bettes an, was am vorhergehenden Abend geschehen war und daß sie ihren Verlobten jeden Augenblick erwarten konnte. Ane war lange nicht so erstaunt, wie Hansine geglaubt hatte. Sie umarmte sie gleich unter einem stürmischen Ausbruch des Entzückens und Stolzes und gestand offen, daß sie sich das alles schon längst gedacht habe, überhaupt – fügte sie hinzu – gehöre das zu den Dingen, die in Zukunft ganz alltäglich werden würden, da Gleichheit und Volkstümlichkeit jetzt ja überall gepredigt werde, also deswegen solle sich Hansine nur keine Sorgen machen.

Aber Hansine war nicht so leicht zu beruhigen. Sie fuhr fort zerstreut zu sein und zuckte ängstlich zusammen bei jedem Geräusch vom Hofe her; – die Zeit näherte sich, wo der Kaplan erwartet werden konnte.

»Ich glaub', weiß Gott, dieser Kaplan hat dir das Leben aus dem Leib geschüchtert!« rief Ane lachend aus. »Ich kenn' dich ja gar nicht wieder; bist du es wirklich, Hansine, die nicht mit einer Wimper zucken wollte, wenn man dich auch mit Stopfnadeln stäche!«

»Ja, du hast gut reden, du!« sagte Hansine, indem sie sich erhob. »Ich muß jetzt wohl in die Stube gehen . . . aber du mußt am liebsten mitkommen,« fügte sie ganz mutlos hinzu, als sie bis an die Tür gelangt war.

Eine Stunde brachten die beiden Freundinnen im Wohnzimmer zu, wo Hansine sich mit einer Näharbeit hingesetzt hatte, um ihre Beklommenheit zu bekämpfen, während Ane im Ofenstuhl saß, die Hände um das in die Höhe gezogene Knie gefaltet und phantastische Bilder von der Zukunft aufrollte, die jetzt Hansinens harrte.

»Man muß dich jetzt wohl eigentlich Fräulein nennen,« scherzte sie, »Fräulein Hansine Andersen – das klingt wirklich ganz flott!«

»Ach, schweig' doch, du!«

»Ja, so kannst du jetzt woll reden, weil du Frau Pastor werden sollst. Aber was soll aus solchem armen Wesen wie ich werden? Da kommt sicher kein Kaplan, der mich zum Schatz haben will. Ich muß woll noch seelenfroh sein, wenn ich'n alten Küster oder 'n buckligen Schuster krieg – –.«

Auf einmal zuckten sie beide zusammen. Draußen auf der steinernen Treppe wurden Stiefeltritte hörbar.

* * *

Als Emanuel hereinkam, war auf seinem Gesicht gleich eine ernste Enttäuschung darüber zu lesen, daß er in diesem Augenblick die rothaarige Freundin an Hansinens Seite finden mußte. Aber er beherrschte sich schnell, und als Ane auf ihn zutrat und ihm Glück wünschte – mit so glühendrotem Kopf, daß die Sommersprossen ihres Gesichts ganz weiß erschienen – da dankte er mit einem frohen Lächeln.

Dann ging er zu Hansine hin, die sich erhoben hatte, und streckte ihr beide Hände entgegen. Sie gab ihm – wenn auch zögernd und halb abgewendet – ebenfalls ihre beiden und er drückte sie warm und lange, während er sie stumm betrachtete. Sie verstand sehr wohl, daß er sie zwingen wolle, aufzusehen, aber sie war nicht imstande, den Blick vom Boden zu erheben. Als er endlich ihre Hand freigab, sah sie zu der Freundin hinüber und atmete erleichtert auf, sie war bange gewesen, daß er sie küssen würde. Im selben Augenblick tat sich leise die Tür zur Küche auf und die Mutter kam mit einer frischgeplätteten baumwollenen Schürze und einer kleinen schwarzen Mütze auf dem Kopf herein. Sie war im ersten Augenblick sehr befangen und da sie dies zu verbergen suchte, bekam ihre Art und Weise zu grüßen und ihr ganzes Wesen Emanuel gegenüber ein Gepräge mißtrauischer Zurückhaltung.

Emanuel nahm ihre Hand und sagte ein paar Worte, daß er hoffe, die Veranlassung seines Kommens sei ihr bekannt, und daß weder sie, noch ihr Mann Sorge hegen würden, ihm Hansinens Zukunft anzuvertrauen; da würde er sich – fügte er hinzu – zum erstenmal in seinem Leben völlig glücklich fühlen.

Else antwortete, indem sie gleichsam mitleidsvoll die Hand über Hansinens Haar und Wange streichen ließ, und da es ihr überhaupt schwer wurde, von dem zu schweigen, wovon das Herz überfloß, so sagte sie:

»Das haben wir uns ja wahrhaftig nie gedacht, daß es so kommen könnt' . . . und ich kann ja nich' anders als sagen, daß es sehr schnurrig für uns is'. Es is' uns ja auch auf jede Weise so recht, wie man zu sagen pflegt, überraschend gekommen. ›Gleich und gleich gesellt sich gern,‹ heißt es ja, und Hansine is ja nu man als einfaches Bauernmädchen groß geworden. Aber wenn es nu doch mal so weit is', denn is' da ja nichts nich mehr zu zu sagen, und denn kann man ja bloß den lieben Gott bitten, daß er seinen Segen dazu gibt.«

Es entstand ein kurzes Schweigen.

Es wurde von Anders Jörgen unterbrochen, der in dunklem Feiertagskleide und mit reinen, weißen Wollsocken an den Füßen eintrat. Er blieb einen Augenblick unschlüssig an der Tür stehen und sah Else an, als warte er auf ein Zeichen von ihr; dann durchquerte er linkisch das Zimmer und sagte:

»Viel Glück und Segen!«

Emanuel drückte ihm schweigend die Hand.

»Wollen Herr Kaplan sich nich' gefälligst setzen,« sagte Else.

Während nun auch die andern ringsumher in der Stube Platz nahmen, – Hansine und ihre Freundin auf dem Ende der Bank unter dem einen Fenster –, setzte sich der Kaplan in den Lehnstuhl am Ofen. Er war verstimmt, beinahe ärgerlich. Es schien ihm, als habe er ein Recht gehabt, einen herzlicheren Empfang zu erwarten.

Else fing an, von dem Wetter zu sprechen, von dem Mangel an Regen, der sich an dem Gras und an der Sommersaat bemerkbar machte, von all der Krankheit, die in der Gegend herrsche und von dem neuen Kreisarzt in Kyndlöse. Emanuel antwortete nur mit einsilbigen Worten und schließlich verstummte die Unterhaltung ganz.

»Du, Anders,« sagte Else dann zu ihrem Manne gewendet, »du könntest dem Herrn Kaplan woll eigentlich mal das Vieh zeigen.«

Anders erhob sich halb vom Stuhl und in seine toten Augäpfel kam Leben.

»Ja – am Ende hat der Herr Kaplan Lust, das Vieh zu sehen?«

Emanuel sagte ja und stand ziemlich jäh auf, indem er seinen Rock eng zuknöpfte. Es sah fast aus, als denke er daran, das Haus sofort zu verlassen.

Da aber fing Else an, ängstlich zu werden. Sie trat an ihn heran und sagte, während sie versuchte, mit ihrem alten, herzgewinnenden Lächeln zu lächeln:

»Ja! Nu bleiben Sie doch wohl heut ruhig hier bei uns? Sie nehmen heut mittag ja damit fürlieb, was wir in alle Einfachheit zubereitet haben. Hätten wir dies früher gewußt, dann hätten wir es ja ein bißchen festlicher machen können. Und nu müssen Sie nich' böse sein, weil uns erst ein bißchen schnurrig zumut war, als wir es zu hören kriegten. Wir hätten ja nie im Leben gedacht, daß unsere Hansine so 'ne feine Partie machen würd' un so'n Mann wie Sie kriegen tät! Aber von Herzensgrund sind wir ja all' zusammen bloß froh und dankbar über das, was geschehen is; das müssen Sie wirklich glauben. Und nu' bleiben Sie doch heut' hier bei uns, nich?«

»Liebe Else,« erwiderte Emanuel augenblicklich milder gestimmt und nahm ihre Hand. »Ich möchte allerdings gern die Erlaubnis haben, dies Haus von nun an als mein Heim zu betrachten. Ich habe mich so sehr danach gesehnt, das tun zu können . . . Und ich habe gewissermaßen auch kein anderes Heim mehr.«

»Ja, dann soll'n Sie uns auch recht von Herzen willkommen sein,« sagte Else, indem sie ihre ganze Vertraulichkeit wiedergewann und ihn auf den Arm klopfte. »Wir haben Sie ja so lieb gehabt, gleich von dem allererstenmal an, als wir Sie sahen . . . Weiß Gott, das haben wir. Aber gehen Sie nun mit Anders raus und sehen Sie sich ein bißchen um. Was Großes is es ja nich', was wir zu zeigen haben, denn Sie sind ja nur auf einen armen Bauernhof gekommen. Aber das haben Sie woll vorher gewußt, sollt' ich denken!«

»Ich wußte auf alle Fälle, daß ich nicht den Reichtum suchte, von dem geschrieben steht, daß Rost und Motten ihn verzehren,« antwortete Emanuel. Dann wandte er sich an Hansine und fügte lächelnd hinzu: »Willst du nicht auch mit hinauskommen und dich ein wenig im Stall umsehen?«

Sie verstand den Wink nicht, errötete und sagte – mit einem Blick auf die Mutter – sie müsse wohl in der Küche helfen.

»Nun ja, dann auf Wiedersehen!« sagte er und winkte ihr zu.

* * *

Anders Jörgen und Emanuel gingen erst in den Pferdestall hinaus, der in einem neuerbauten Flügel, dem alten Wohnhaus gerade gegenüber lag. Hier standen zwei große rote Stuten und ein zottiges einjähriges Füllen, die alle mit den Halfterketten zu rasseln und unten in den Krippen mit jenem hohlen, gemütlichen Geräusch zu »knaupeln« begannen, mit dem Pferde bekannte Personen im Stall empfangen.

Mit einer Lebhaftigkeit, die Emanuels größtes Erstaunen erregte, begann Anders Jörgen umständlich von dem Alter, dem Charakter und dem Stammbaum der Tiere Rechenschaft abzulegen. Mit besonderm Stolz erzählte er, daß »die Kleine da« – er meinte das Füllen –, ein direkter Sproß von dem berühmten Stärkodder II. sei, der drei Jahre hintereinander auf der Hengstschau in Roskilde den ersten Preis erhalten habe und der überhaupt seine Brust mit mehr Ruhmeszeichen und Ehrenmedaillen bedecken könne, als irgend ein Fürst.

Emanuel hörte ihm aufmerksam zu und besah mit Interesse die verschiedenen Einrichtungen im Stall und in der daranstoßenden Häckerlings- und Dreschscheune. Er untersuchte das Häckerlingsmesser und die Reinigungsmaschine, fragte nach der Bedeutung der einzelnen Schrauben und Zahnräder und ließ sich überhaupt gründlich in diese landwirtschaftlichen Mysterien einweihen, mit denen er nicht wieder in nähere Berührung gekommen war, seit er als Kind einen Onkel auf einem Gut drüben in Jütland besucht hatte.

Als sie in den Kuhstall kamen, wurde seine Aufmerksamkeit jedoch am meisten von einem Vogelnest gefesselt, das unter einem spinnenwebüberzogenen Deckenbalken angeklebt saß und aus dem ein Schwalbenpaar herausflog, als er eintrat.

»Aber nein!« rief er entzückt aus.

Anders Jörgen, der meinte, daß ein so begeisterter Ausruf allein seinem Viehbestand gelten könne, ließ mit vergnügtem Lächeln die Hand schwer auf den Rücken einer mächtigen Mastkuh fallen und sagte:

»Ja, hier können Herr Kaplan ein Stück Fleisch sehen!«

Die Kühe waren nämlich Anders Jörgens' Lieblinge, und als Viehzüchter und Mäster hatte er einen gewissen Ruf in der Gegend erlangt. Er wußte ganz genau, wieviel Milch eine jede von seinen sieben Kühen gegeben und wieviel sie während der ganzen Zeit, daß er sie im Stalle gehabt, gewogen hatten. Er wußte an den Fingern herzuzählen, wieviele Pfund Kleie, Schrot, Stroh und Rappkuchen sie verzehrt hatten und wie sich während der letzten 20 Jahre das Verhältnis zwischen Butter-, Fleisch- und Futterpreisen gestellt hatte, und über das alles erging er sich jetzt mit großer Zungenfertigkeit, indem er gleichzeitig eine fast wissenschaftliche Erklärung der modernen »Kraft- und Stallfütterung« gab, als deren leidenschaftlicher Anhänger er sich erwies.

Emanuel hörte mit wachsendem Erstaunen zu. Dieser kleine, halb blinde Mann mit dem linkischen Wesen, den er bisher für einen etwas einfältigen Sonderling gehalten hatte, stand hier voller Eifer vor ihm und verfocht selbständige Anschauungen, offenbarte eine Einsicht, entfaltete eine Sachkenntnis, die ihn ganz überwältigten. Und im stillen faßte er dies als erneute Bestätigung dafür auf, daß viel von dem Verkanntsein und dem Unrecht, unter dem die Bauern zu allen Zeiten gelitten hatten und noch litten, allein eine Folge des unrichtigen Verständnisses für sie war. Es ging ihm in diesem Augenblick völlig auf, wie unbedingt notwendig es sei – auch für diejenigen, die als Geistliche unter diesen Leuten wirken wollten – sich ihnen ganz und gar anzuschließen, um ihr Vertrauen zu erringen.

Anders Jörgen, der sich durch Emanuels Interesse für seine Wirtschaft geschmeichelt fühlte, wurde immer redseliger. Er führte ihn allmählich durch alle Stallungen und Wirtschaftsgebäude, zeigte ihm den Haferschuppen, den geschlossenen Pferdegang, nahm ihn mit in die Schafkoppel, hinab in den Rübenkeller – und Emanuel folgte ihm überall ohne Widerstand. Schließlich, als sie in den Schweinestall kamen, und Anders Jörgen ihn in seinem Eifer veranlassen wollte, über den Bretterzaun zu steigen, damit er die Schweine auf ihren Speck hin befühlen könne, wurde es Emanuel dann aber doch zu viel. Er legte ihm seine Hand auf die Schulter und sagte:

»Danke, lieber Anders Jörgen – aber das, glaube ich, will ich lieber für ein andermal zugute haben.«

Im selben Augenblick erschien auch der weißblonde Ole, um zu melden, daß das Mittagessen fertig sei. Emanuel begrüßte seinen zukünftigen Schwager kameradschaftlich und nahm ihn zum erstenmal genauer in Augenschein; es war ein hübscher, frischer 15jähriger Bursche, ein wenig klein, so wie Hansine, und mit einem noch ganz kindlichen Gesichtsausdruck.

»Wir beide wollen schon Freunde werden!« sagte er und kniff ihn in die apfelrote Wange.

Der Bursche starrte mit offenem Mund und Augen zu ihm auf und sah dann den Vater an; und sobald Emanuel ihn losließ, rannte er, was das Zeug halten wollte, um die Scheune herum in die Braustube, wo er grienend der Häuslerfrau erzählte, was der Kaplan gesagt hatte. Aber die Frau, die allmählich dahintergekommen war, was vor sich ging, zog den Mund bis an die Ohren hinauf und sagte:

»Du bist ein richtiger Schafskopf, Ole! kannst du denn nicht begreifen, was hier los is'?«

Im selben Augenblick begriff Ole es. Rot wie Blut starrte er die Frau an, wandte sich dann schweigend um und lief davon. Als die Mutter nach einer Weile auf die Steinfliesen hinaustrat und ihn zum Essen rief, antwortete er nicht; und während der ganzen Mahlzeit ließ er sich nicht sehen.

Drinnen im Zimmer war der Tisch mit einem reinen, weißen Tischtuch und blumenbemalten irdenen Tellern gedeckt. Der Platz am oberen Ende war Emanuel vorbehalten. Er hatte sogleich versucht, Hansine zu bewegen, sich an seine Seite zu setzen, aber er entdeckte bald, daß es gegen die gute Bauernsitte verstoßen würde, wenn die Tochter des Hauses am Tische Platz nahm, so lange die Gäste aßen. So mußte er sich denn damit begnügen, ihr zuzunicken, während sie aus der Küche ein- und austrug.

Die Gerichte waren für Emanuels Gewohnheiten recht einfach, und dabei wußte er nicht einmal, daß Reisbrei und gebratener Speck mit Rührei in einem Bauernhaus als Festtagsessen betrachtet werden. Nie aber war ihm eine Mahlzeit festlicher vorgekommen als diese. Die Sonne warf ihre goldenen Scheiben mitten auf das Tischtuch, und es war ihm, als sei er erst jetzt so recht aufs Land hinaus gekommen. Durch die geöffnete Dielentür strich ein frischer Duft nach Heu und Stall vom Hofe her herein, und auf den sanften Luftströmen glitt bald ein weißer Schmetterling – gleich einem kleinen Schiff mit vollen Segeln – bald eine geschäftige Hummel herein, die wie ein Dampfer der Luft dahergebraust kam und die Stube mit ihrem zornigen Summen erfüllte, bis sie wieder hinausflog.

Schließlich erschienen auch die Hühner in Scharen, herbeigelockt durch das Rasseln der Löffel und Gabeln. Eins nach dem andern hüpften sie hausgewohnt über die Schwelle und fingen gleich an, die verlorenen Krumen von dem Lehmboden unter Tisch und Bank aufzupicken. Nur der große, stattliche Hahn blieb draußen vor der Diele stehen und gluckste leise wie ein aufmerksamer Inspektor, ermunternd und warnend zugleich.

. . . Nach der schlaflosen Nacht und den vielen Gemütsbewegungen des Tages fühlte sich Hansine so müde, daß sie, als die Mahlzeit beendet war, in ihre Kammer gehen und ein wenig ausruhen mußte.

Dies war eine harte Enttäuschung für Emanuel, der sich danach gesehnt hatte, endlich einmal unter vier Augen mit ihr zu reden. Eine Stunde lang mußte er sich nun mit Elses Gesellschaft begnügen, da auch Anders Jörgen die Gelegenheit benutzte, um sich in die Scheune hinüberzuschleichen und seinen gewohnten Mittagsschlummer mit einem Holzschuh als Kopfkissen zu halten.

Nach Bauernfrauenart führte Else Emanuel jetzt im ganzen Hause umher. Sie zeigte ihm sowohl die Küche wie auch die Braustube, – wo die lächelnde Häuslerfrau ihm glückwünschend eine klatschnasse Hand reichte – und führte ihn dann in den Salz- und Milchkeller, wo sie ihm zu Ehren eine Partie frischgemachter Butter in ein Drittel schlagen ließ.

Schließlich gingen sie in den »Saal«, einem großen blaugetünchten Raum, der für sich an der andern Seite der Diele lag. An Möbeln war hier nur ein doppelter Kleiderschrank und drei große, grüngemalte Koffer vorhanden, in denen des Hauses Vorrat an Leinenzeug und Gedecken, und alte Familienerinnerungen verwahrt lagen. Else öffnete die Koffer einen nach dem andern, und Emanuel sah hier viele Dinge, die sein höchstes Interesse erregten. Da waren jahrhundertalte Brauthemden, Brustlatze und Wandbehänge kunstfertig bestickt und mit eingewebten Namen und Jahreszahlen, die eine jahrelange Arbeit gekostet hatten; außerdem alte Goldbrokat-Kopfbedeckungen und perlengestickte Mützen, die zu den Hochzeitstrachten der Vorfahren gehört hatten; Gebetbücher, Schuhspangen, Brustketten und silberne Knöpfe.

Else selbst war am meisten interessiert, ihren durch viele Jahre aufgesparten Vorrat an Leinwand, eigengemachten Stoffen und gesponnener Wolle zu zeigen; denn hierin bestand – woran Emanuel nicht dachte, und was er auch nicht verstanden haben würde – die hauptsächliche Mitgift der Kinder – da der Hof, der mit Anders Jörgens Tode zurückfiel, ein auf drei Generationen gepachteter Besitz war.

»Ja, das is alles, was wir gesammelt haben,« sagte sie, indem sie ihre Schätze Stück für Stück hervorholte und ihre Hand gleichsam liebkosend darüber hingleiten ließ. »Es is' ja grad' nich' so viel, denn Anders und ich haben uns erst spät verheiratet, und die ersten Jahre hatten wir man unser knappes Auskommen, so daß nich' viel an Zurücklegen zu denken war. Wir haben ja auch oft Unglück mit dem Vieh und Mißernten gehabt, so daß wir man froh sein können, daß wir überhaupt so weit gekommen sind, wie wir sind. Damals, als ich anfing, an Anders zu denken, hat mir meine Mutter prophezeit, wir würden in'n Armenhaus und in 'n Elend enden, aber der liebe Gott hat es anders mit uns gewollt, und wir sind ihm auch von Herzen dankbar dafür.«

Ihr Kramen zwischen allen diesen aufgespeicherten Sachen erweckte allerlei alte Erinnerungen in ihr, und sie fing von selbst an zu erzählen, wie Anders und sie sich in ihrer Jugend gefunden hatten, während sie zusammen auf einem Hof in einem benachbarten Kirchspiel dienten. Von Bewunderung erfüllt lauschte Emanuel ihrem halb scherzenden Bericht, wie sie während der 15 Jahre bei fremden Leuten hatten dienen und allerhand Ungemach ertragen müssen, ehe sie zusammen so viel aufgespart hatten, daß sie sich häuslich niederlassen konnten; – und er empfand in diesem Augenblick eine neue Freude bei dem Gedanken, daß er diesem alten, strebsamen und treuen Ehepaar in ihrem Alter ein Trost und eine Stütze werden könne.

* * *

Währenddes hatte sich das Gerücht von der Verlobung aus dem Pfarrhaus in die Umgegend verbreitet und war um die Mittagszeit auch bis nach Skibberup gelangt. Anfangs hatte man nicht recht daran glauben wollen, als es sich aber herausstellte, daß der Kaplan am Vormittag zu Anders Jörgens hineingegangen und seither nicht zurückgekehrt war, wurde man doch zweifelhaft. Im Laufe der letzten Stunden hatten die verschiedensten Gesichter – Kindern wie Erwachsenen gehörig – über den Gartenzaun oder durch den Torweg gelugt, um einen Blick von irgend etwas zu erhaschen, was ein wenig Klarheit in die Sache bringen konnte, und während nun Else und Emanuel sich im »Saal« befanden, wagten sich ein paar Frauen des Dorfes ganz in die Braustube hinein, wo sie mit der Häuslerfrau zu flüstern begannen.

Als hierdurch festgestellt wurde, daß das Gerücht wirklich die Wahrheit geredet hatte, entstand eine große Überraschung in dem ganzen Dorf. Niemand konnte sich jetzt mehr zurückhalten, alle mußten an den Zaun, um womöglich einen Schimmer von den Neuverlobten zu erhaschen, und als Else und Emanuel in die Stube zurückkehrten, saßen hier schon ein paar von den nächsten Freunden des Hauses, die gekommen waren, um Glück zu wünschen.

Ihnen folgten bald andere, und es schien wirklich, als ob Elses Furcht vor Klatsch und Mißgunst gänzlich unbegründet sei. Alle faßten das Geschehene offenbar als eine Art Ehre auf, die der ganzen Gemeinde, ja, dem ganzen Bauernstand widerfahren war . . . eine lebende Besiegelung des Bundes, den man am Tag zuvor im Versammlungshaus geschlossen hatte.

Hansine, die gleich, nachdem die ersten Gäste erschienen, aus ihrer Kammer herausgekommen war, gab nun auch freilich durch ihre Art und Weise sich zu benehmen keinerlei Anlaß zu irgendwelchen Tuscheleien. Während die Freundin, die nicht von ihrer Seite wich, mit siegesstolzer Miene den Arm schützend um ihre Taille geschlungen hielt, saß sie selbst halb abwesend da und nahm schweigend und ganz verschämt die Glückwünsche der Freunde in Empfang.

Den ganzen Nachmittag war die Stube angefüllt mit fröhlichen und stolzen Skibberupern. Man mußte schließlich alle Türen und Fenster öffnen, um in der erstickenden Hitze Luft zu schaffen, und auch nicht einen Augenblick kam der Kaffeekessel aus dem Kochen. Selbst Weber Hansen fand sich ein und begrüßte das junge Paar mit seinem schiefen, zweideutigen Lächeln.

Emanuel ward schließlich ein wenig sonderbar zumute, die Glückwünsche aller dieser Menschen in Empfang zu nehmen, ehe er noch ernsthaft mit Hansine selbst gesprochen, ja, ohne eigentlich das Jawort von ihren eigenen Lippen gehört zu haben.

Er fing an, eifersüchtig zu werden auf diese große, rothaarige Ane, die sich wie eine Wächterin an Hansinens Seite aufgepflanzt hatte und unablässig ihre Hand in ihrem Schoß streichelte, – fast, als ob sie beide das Brautpaar wären!

Endlich fand er Gelegenheit – ohne daß andere es hörten –, sie zu fragen, ob sie nicht ein wenig draußen im Garten spazieren gehen wollten.

Sie stand sofort auf. Aber Ane schloß sich ihnen an. Es war, als fühle sie sich ›als Hansinens beste Freundin‹ berechtigt, an der Vertraulichkeit der Beiden teilhaftig zu sein.

Emanuel wurde es diesmal schwer, seine Ungeduld zu beherrschen, und nachdem sie ein paar Minuten im Garten umhergegangen waren, machte er den Vorschlag, in die Stube zurückzukehren.

Indem sie aber hineingehen wollten, legte er die Hand auf Hansines Arm und sagte laut und bestimmt:

»Ich möchte übrigens gern mit dir über etwas reden, Hansine.«

Er sah, daß sie zu zittern begann. Diesmal hatte sie den Wink verstanden. Nach kurzem Zaudern zog sie die Hand aus dem Arm der Freundin und sagte zu ihr:

»Willst du nicht lieber hineingehen und Mutter beim Kaffee helfen? Ich komme gleich.«

Anes Gesicht nahm erst einen verständnislosen, dann einen höchst gekränkten Ausdruck an. Ohne ein Wort zu sagen, wandte sie sich um und verließ sie.

Hansine und Emanuel gingen langsam denselben Weg zurück, den sie gekommen waren. Keines von beiden sprach. Als sie aber eine Laube am äußersten Ende des Gartens erreichten, wo niemand sie sehen konnte, außer einem kleinen Vogel, der oben im Laubwerk saß und piepste, da ergriff er ihre beiden Hände und stand lange schweigend da und betrachtete sie. Sie war blaß und sah ein paarmal schnell und scheu zu ihm auf. Sie wartete darauf, daß er reden würde. Als er sie aber nur immer unverwandt mit seinem zärtlichen und fragenden Blick anstarrte, da schmiegte sie sich schließlich freiwillig an ihn und schloß die Augen, – und er drückte den ersten Kuß auf ihre Stirn.



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