Wilhelm von Polenz
Thekla Lüdekind. Zweiter Band
Wilhelm von Polenz

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

V.

Gerd war zu seiner Mutter zurückgekehrt, die Ferien hatten dem Unterricht Platz gemacht.

Er trug jetzt den Siegelring mit dem Wernbergschen Wappen, den ihm sein Vater geschenkt hatte. Die Zeiten waren vorüber, wo ihn die andren Jungens hatten über die Achsel ansehen dürfen, weil er »keinen Alten« hätte. Ja, unser Gerd renommierte gelegentlich etwas damit, daß sein Papa unzählige Orden besitze, darunter ein Großkreuz. Einen Stolz, den ihm niemand verdenken wird, der Jungens und ihre Art kennt.

Im übrigen aber war er ganz der alte, harmlos offenherzige Gerd geblieben. Seine Mutter stellte das mit 355 geheimer Freude bei sich fest. Leo hatte Wort gehalten: der Junge war zu ihr zurückgekehrt, genau wie sie ihn von sich gelassen hatte.

Nichts von dem, was ihr Bruder und Hedwig und all die anderen prophezeit hatten, war eingetroffen. Und auch ihre eigene Sorge, daß Gerd ihr entfremdet werden könne, hatte sich nicht erfüllt. Im Gegenteil! Gerd schien durch den Gegensatz erst erfahren zu haben, was er besitze. Er berichtete seine Beobachtungen, zog Vergleiche zwischen dort und hier; und diese fielen fast immer zu Gunsten der mütterlichen Häuslichkeit aus. Er bedauerte den armen Vater, der mit einer solchen Frau zusammen leben müsse. Thekla mußte oft staunen über die richtig beobachteten Züge, die er von Tante Lilly und ihrem Wesen zu erzählen wußte. Ja, Gerd entwickelte da auf einmal eine Eigentümlichkeit, die sie seiner Gutmütigkeit gar nicht zugetraut hätte: etwas wie eine mokante Ader. Frau Lillys Abneigung gegen Theklas Sohn würde sich schwerlich verringert haben, hätte sie hören können, wie unverfroren der Knabe über sie aburteilte.

Auch Reppiner hatte sich Gerds wegen nunmehr beruhigt. Natürlich gestand er nicht ein, daß seine Schwarzseherei gründlich überflüssig gewesen sei, und daß Frau Thekla wieder mal recht behalten habe. Nur indirekt ließ er etwas davon durchblicken.

Als der alte Junggeselle eines Abends beim gemütlichen Lampenschimmer in Theklas Wohnzimmer saß, zusammengesunken zwischen seinen schmalen Schultern, mit kahlem Kopf, den Kneifer über den kurzsichtigen Augen, ließ er sich folgendermaßen vernehmen:

»Mit einem anderen Jungen hätte man dieses Experiment gar nicht wagen dürfen, ihn so in des Löwen Behausung zu schicken. Aber unser Gerd, das ist was 356 anderes! Ein junger David, oder wenn Sie ein Bild aus der germanischen Mythologie vorziehen: ein junger Siegfried! Spaß bei Seite, der Junge hat sich großartig benommen! Er beweist eben immer wieder, daß er Ihr Sohn ist. Schade, daß er nicht den Namen ›Lüdekind‹ trägt! Man könnte wirklich wünschen, das Gesetz machte hier eine Ausnahme von der Regel: das Kind nach dem Vater zu nennen. Es heißt, daß manche Mütter ihrer Nachkommenschaft mehr von sich abgeben als andere; nun, Sie haben Gerd Ihr Bestes gegeben, Frau Thekla, und dabei noch alles Gute behalten.«

»Es ist viel Lüdekindsches in Gerd; darin haben Sie Recht, Reppiner!« erwiderte Thekla und betrachtete sinnend das Bild ihres Vaters. »Wenn er dem dort ähnlich würde an Ritterlichkeit und Vornehmheit, dann wäre mein höchster Wunsch erfüllt. Welchen Namen mein Junge trägt, ob den meinen oder den seines Vaters, gestehe ich Ihnen ganz offen, scheint mir nebensächlich.«

»Nun meintswegen, mir auch! Gerd wird jedem Namen Ehre machen. Ich denke, daß er's mal weit bringen kann; die Anlagen dazu hat er.«

»Ich versichere Ihnen, Reppiner, daß mich diese Aussicht kühl läßt! Erfolg ist nicht das, was ich für Gerd träume. Wenn er nur ein guter Mensch würde! Wenn er nur so bleiben könnte, wie er jetzt ist!«

Frau Thekla seufzte.

Es trat jenes Schweigen ein, wie es zwischen Leuten, die sich genau kennen, oftmals beredter wirkt, als tausend Worte.

»Ja, er kommt nun allmählich in die Jahre, wo im Knaben der Mann erwächst,« sagte Reppiner bedächtig. »Eine gefährliche Zeit! Die nächsten zehn Jahre sind die entscheidenden für seinen Charakter und für sein Geschick. 357 Man kann dreist behaupten, die Hälfte aller Männer legt in dieser Lebensperiode den Grund zu einer verfehlten Existenz. Da braucht eben solch junger Mensch Freundesrat. Die Mutter kann ihm dann nicht mehr alles in allem sein. In gewissen Fragen wird sich ein Jüngling niemals an eine Frau wenden; das widerstreitet einfach der Natur. Nun, so lange ich existiere, soll's unserem Gerd an einer Stelle, wo er sich Rat holen kann, nicht fehlen. Wenn ich ihm ein paar von den Dummheiten ersparen könnte, die ich selbst begangen habe, dann wäre mein Leben schließlich doch nicht ganz verfehlt gewesen!«

Thekla reichte ihm die Hand. »Ich danke Ihnen, Reppiner!« –

Als der alte Freund an diesem Abende gegangen war, nahm Frau Thekla einen Brief vor, den sie am Morgen empfangen, und den sie seitdem – sie wußte nicht wie oft bereits – durchgelesen hatte.

Der Brief war von Leo und lautete:

»Verehrte gnädige Frau! Sie werden schwerlich darauf vorbereitet sein, von mir einen Brief zu erhalten, und mir selbst ist es offengestanden ungewohnt, an Sie zu schreiben. Aber nachdem wir uns neulich wiedergesehen haben, wobei Sie so freundlich gegen mich gewesen sind, drängt es mich, Ihnen zu danken. Sie haben Ihre Zusage, mir Gerd zu schicken, in einer Weise erfüllt, wie es Ihrem allezeit gütigen Herzen entspricht. Nehmen Sie für dieses Zeichen des Vertrauens nochmals meinen aufrichtigsten Dank entgegen!

»Aber das war es nicht allein, weshalb ich an Sie schreiben wollte. Ich weiß nicht, ist es das Wiedersehen gewesen neulich, bei so trauriger Veranlassung, oder war es das Zusammensein mit Ihrem und meinem entzückenden Jungen, was mir den Mut dazu giebt, mir geradezu die 358 Feder in die Hand zwingt, Ihnen nach so langen Jahren ein paar Worte zu sagen! – Sie werden sich wundern, ich weiß es; ja, Sie werden mir vielleicht zunächst mißtrauen. Aber glauben Sie, nichts erbitte ich von Ihnen, als ehrlichen Frieden.

»An mir hat manches gearbeitet in den letzten Jahren. Daß das Leben mehr oder weniger aus Illusionen besteht, erfahren wir wohl alle! Darüber hinaus aber giebt es noch gewisse Dinge, die man sich nicht verzeiht und die, je mehr Zeit hingeht, einem immer unbegreiflicher werden.

»Zu diesen Dingen gehört für mich mein Verhalten Ihnen gegenüber, gnädige Frau. Ich habe mich betragen, wie ein Mann sich einer Dame gegenüber niemals betragen sollte. Und das thut mir jetzt leid!

»Gott sei Dank, es ist heraus! Das war es, was ich Ihnen zu sagen hatte. Ich weiß, es kann nichts ändern an dem Geschehenen, nichts gut machen. Aber ich denke, es schändet auch nicht, einer Dame gegenüber Abbitte zu leisten. Denken Sie wieder freundlich von mir, das ist alles, was ich heute noch von Ihnen erbitten darf. Wie ich Sie kenne, gnädige Frau, ist meine Bitte schon erhört, indem ich sie ausspreche.

»Mit dem Ausdrucke unwandelbarer Verehrung und aufrichtiger Hochachtung zeichnet Ihr gehorsamer Diener

Leo Wernberg.«

Der Brief erfüllte Thekla Lüdekind mit tiefer Genugthuung. Wie sauer mochte es Leo angekommen sein, so an sie zu schreiben! Leo Wernberg sein Unrecht eingestehend, um Verzeihung bittend! Man mußte ihn gekannt haben in seiner Blasiertheit, seinem kühlen Selbstbewußtsein, um ermessen zu können, was das hieß.

Es war gut, daß er geschrieben hatte!

Der Brief bedeutete für Thekla unendlich viel; mehr 359 vielleicht, als der Schreiber wollte und ahnte. Er stellte für sie den Leo von ehemals wieder her. Schweren Herzens ja nur hatte sie von dem Glauben an ihn gelassen; Jahre hindurch hatte sie auf das Durchbrechen seines besseren Menschen gewartet. Und selbst in der äußersten Entfremdung, als sie mit vollem wachen Bewußtsein ihr Leben von dem seinen abgeschieden hatte, lebte unter Schlacken und Trümmern ihres Glückes in ihr noch ein Funke hoffnungsvollen Vertrauens. War er es doch gewesen, der ihr Herz gelehrt hatte, zu lieben; und das wird eine Frau nimmermehr ihrem Lehrmeister vergessen. –

Nun Leo die Größe zu solchem Bekenntnisse gefunden hatte, war alles gut, alles ausgeglichen. Nun zeigte er ihr endlich die edlere Seite seines Inneren, an der sie niemals irre geworden war, mochte er sich noch so fest und feindlich eingeschlossen haben in den Mantel der Eigenliebe.

Es war ein später Sieg ihres Glaubens, zu spät, um die äußere Gemeinschaft wieder herzustellen zwischen ihnen; aber nicht zu spät, um in ihr noch ein herbstliches Gefühl der Zuneigung neu zu beleben für den Mann, dem der Frühling und der Sommer ihrer Liebe gehört hatte.

Einer Antwort bedurfte es nicht; Leo würde auch keine erwarten. Sie wollte diesen Brief zu ihren kostbarsten Reliquien legen. Unter denen befand sich auch eine getrocknete Blüte aus jenem herrlichen Rosenstrauß, den Leo ihr »als einen Morgengruß« an dem Tage, da sie als Braut erwacht war, geschickt hatte.

Zwischen dieser Rose, die jetzt ein unscheinbares Häuflein war zusammengeschrumpfter Blätter ohne Farbe und Duft und diesem Briefe, den sie in Händen hielt, lag eingeschlossen ihre Liebes- und Leidensgeschichte.

Es hatte Augenblicke gegeben, wo sie glaubte, das 360 Glück nicht ertragen zu können, weil es zu groß war und gewaltig, und ihre Seele zu klein schien, es zu fassen. Und dann wieder waren Zeiten gekommen, wo sie sich den Tod gewünscht hatte, der sie erlösen solle von allem Elend. Und dazwischen lange Strecken, die dem rückschauenden Auge bereits verschwammen im Grau der Vergessenheit. Vorbei an Abgründen, die man kaum erkannt, durch sonnenbeglänzte Gefilde, wie durch nebelverhangene Landschaft, innerhalb stets wechselnder Ufer war man geführt worden vom Strome der Zeit, unbekannten Schmerzen und unbekannten Freuden zu. Das war schließlich das Beste am Leben, daß man nicht im voraus wußte, wo es einen landen würde.

Unbewußt wachsen wir wie die Pflanzen, entwickeln uns, gedeihen und vergehen nach den dunklen Gesetzen unserer Art; aber eine Hand ist doch da, eine unsichtbare, die uns erzieht. Manchmal gelingt es uns, ihr Eingreifen zu verspüren, in begnadeten Augenblicken ihre Winke zu ahnen.

Aber es ist nicht alle Tage Feiertag. Sechs Werktage hat die Woche, sechs lange graue Tage der Arbeit und Sorge. Aus tausend nüchternen Kleinigkeiten setzt sich das Alltägliche zusammen. Während wir am Stuhle sitzen und weben, erkennen wir nicht das Bild, welches unsere Hände bereiten. Die großen und wichtigen Dinge gehen in den Tiefen fern unserem Bewußtsein vor sich.

Nicht mit dem Kopfe bauen wir unser Leben, sondern mit dem Herzen.

 


 


 << zurück