Wilhelm von Polenz
Thekla Lüdekind. Zweiter Band
Wilhelm von Polenz

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IV.

Der Sommer neigte sich seinem Ende zu und damit Leo Wernbergs Urlaub. Er schrieb, daß er noch einen Ausflug an die nordenglischen Seen machen wolle, ehe er nach Haus zurückkehre.

Gleichzeitig mit diesem Briefe traf einer von Theklas Mutter ein. Sie schrieb, daß die beiden ältesten Kinder 53 von Arthur und Ella an Diphtheritis erkrankt seien; man habe sie sofort von dem dritten Kinde isoliert.

Und nun kam eine Hiobspost nach der anderen. Erst starb der Junge, einige Tage darauf das Mädchen. Und um das Maß voll zu machen, genas Ella, überwältigt von Schreck und Kummer, vorzeitig eines Kindes, das nur einige Stunden lebte.

Thekla war wie verstört. Sie wollte sofort zu Ella reisen. Aber ein Telegramm ihrer Mutter hielt sie davon ab. Es war richtig: was konnte sie helfen? – Und die Gefahr lag nahe, daß sie die Ansteckung in ihr eigenes Heim tragen mochte.

Welch furchtbares Unglück! Sie hätte begriffen, wenn Ella darüber tiefsinnig geworden wäre. Nur daran zu denken, daß ihrem Kinde etwas zustoßen könne, machte sie bis in's Mark erbeben. Zwei Kinder auf einmal, und darunter ihr Patchen, der süße kleine Eberhardt, so genannt nach dem Großvater, der Stolz seiner Eltern. Verstand man, was der liebe Gott damit wollte? – Und jenes kleine Wesen, das ein Trost hätte werden können, auch dahingerafft, wo es kaum die ersten Atemzüge gethan hatte! – Tagelang ging Thekla einher wie vor den Kopf geschlagen; sie konnte sich dahinein nicht finden.

Frau Sänger schrieb: wahrscheinlich sei die Wohnung daran schuld. Sie hätten ein ziemlich neues Haus bezogen, nicht ahnend, daß es auf einem verschütteten Flußbette stehe. Jetzt grassiere die Epidemie ringsum, massenhaft würden Kinder hingerafft. Fast wie Befriedigung klang es aus Frau Sängers Zeilen, daß man doch nun endlich den Grund wisse. Als ob das an der traurigen Thatsache etwas geändert hätte! –

Thekla hatte ihrem Manne nur in Kürze mitgeteilt, was sich ereignet habe. Sie kannte ja Leos Stellung zu 54 Arthur. Dieser Fall lehrte sie fühlen, daß sie eine Lüdekind sei. Leo konnte hierin unmöglich so empfinden wie sie.

Aber es schien ihr bewiesen werden zu sollen, daß sie ihm unrecht gethan habe. Leo, auf das tiefste ergriffen, schrieb Worte des innigsten Beileids. Ob denn Thekla Kränze geschickt habe, erkundigte er sich. Er werde sofort einen Brief der Teilnahme an Arthur schreiben. Er fügte hinzu, nun habe er die Absicht aufgegeben, an die Seen zu reisen. Er fühle Sehnsucht nach Weib und Kind. Thekla könne ihn in der nächsten Woche schon zu Haus erwarten.

Der Brief beglückte Thekla wahrhaft. Das war doch wieder mal ein Beweis von Leos gutem Herzen! Wenn er es auch nicht deutlich aussprach, aber zwischen den Zeilen war doch zu lesen, wie tief ihn die Nachricht von Arthurs und Ellas Unglück erschüttert hatte. Er war des Mitgefühls fähig; ein solcher Fall mußte kommen, um ihr das zu beweisen. Sicher ahnte er gar nicht, was dieser Brief für sie bedeutete. O, es war herrlich, daß er so geschrieben hatte! Das machte vieles gut.

Er sehnte sich also nach ihr und dem Jungen. – War das der Erfolg der traurigen Nachricht, die er erhalten? War ihm vielleicht der Gedanke nahe gebracht worden: was er hätte verlieren können? Wie wunderlich, daß auf dem Grunde solchen Schmerzes für sie etwas Gutes erwachsen sollte. Noch waren ihre Augen nicht trocken geworden von Thränen, und schon leuchtete hinter den Schleiern der Wehmut neue Hoffnung auf.

War es Grausamkeit gegen Arthur und Ella, daß sie sich jetzt ihres Jungen doppelt erfreute? Nun wußte sie erst, was es heißt, solch ein Kind besitzen, wo sie sich ganz in den Verlust versetzt hatte, den jene erlitten. Gerd war verschont geblieben! Ihr süßer, ihr einziger Junge lebte! –

55 »Wenn nur unser Gerd nicht so allein wäre!« sagte die Kinderfrau, die manchmal philosophische Betrachtungen anzustellen beliebte. »Kinder brauchen kleine Gesellschaft, sonst bangen sie sich.« Thekla verstand ganz gut, was gemeint sei.

Ertappte sie sich nicht selbst manchmal über solchen Wünschen? – O ja, es wäre schön, wenn Gerd ein kleines Geschwisterchen hätte! Gerd war ja ein Sonnenstrahl für das Haus; aber ganz etwas anderes wäre es doch gewesen, ein kleines Mädchen zu haben, auf daß es ein Pärchen sei.

Ein Mädelchen! Das Mutterherz erzitterte bei dem Gedanken, in süßem Schreck. Ein Wesen wie sie selbst! Der Junge mußte und sollte des Vaters Ebenbild werden, mehr und mehr würde er dem mütterlichen Einfluß entwachsen; eine Tochter aber würde sie ganz für sich besitzen, auf lange Jahre hinaus.

Ohne mit Leo darüber gesprochen zu haben, wußte sie, daß er davon nichts wissen wolle, ja, daß er das, was sie herbeisehnte, geradezu fürchtete. Was ihr höchste Glückseligkeit bedeutete, das heimliche Werden, das ahnungsvolle Erhoffen des Kommenden, war ihm peinlich, machte ihn ungeduldig, ja er schämte sich dessen.

Es war das eine von den Erscheinungen, bei denen es schwer fiel, einander gerecht zu werden. Thekla ahnte, daß Leo darin nicht schlechter oder besser sei, als andere Männer.

Mann und Frau waren eben von Natur so verschieden geartet, daß es oft schien, als seien sie Feinde. Ein Ineinanderaufgehen, wie sie es als Mädchen wohl geträumt hatte, gab es nicht, dazu waren die Voraussetzungen, von denen man ausging, zu verschiedene.

Aber sollte man seine Ideale begraben, in der 56 Erkenntnis, daß sie vor der Wirklichkeit nicht Stand hielten, sich beruhigen bei dem Gedanken, das Seine gethan zu haben, die Harmonie zu erreichen? – Sie kannte ja solche Ehen, in denen beide Teile sich mit einander eingerichtet hatten, indem jedes etwas von seinen Forderungen abließ, bis man sich schließlich in einer bequemen Mitte begegnete. Das waren dann sogenannte »harmonische Ehen«.

Furchtbarer Gedanke! Dann noch lieber Mißverstehen, ja Kampf, als ein solches Einschlummernlassen der Ideale um des lieben Friedens willen.

Sicher, es mußte noch einen anderen Standpunkt geben, der über dieser traurigen Alternative: Kampf oder Schlummer, erhaben war! Hatte sie denn wirklich schon alle Möglichkeiten erschöpft, ein tieferes Verhältnis zwischen sich und ihrem Manne herzustellen? –

Man konnte sich sehr nahe sein, Brust an Brust, Mund auf Mund, und die Seelen blieben einander doch fremd. Ja, in dem Maße, wie die Leiber einander suchten, schienen die Seelen den rätselhaften Trieb zu haben, sich vor einander zu verbergen. War das nicht Schamhaftigkeit an falscher Stelle? Man zeigte sich einander gerade in dem nicht, wo ein Kennenlernen von Grund aus selbstverständlich schien.

Was hatte es zu bedeuten, daß Leo über gewisse Dinge niemals mit ihr sprach? Gerade die großen und wichtigen Dinge des Daseins waren das. Niemals berührte er, der sonst so gesprächig war, der den Ruf eines ausgezeichneten Unterhalters genoß, ihr gegenüber die Unsterblichkeit, niemals den Tod, kaum jemals sprach er von Gott und von Glaubensfragen. Dachte er darüber selbst nicht gern nach, oder schämte er sich? War diese Verlegenheit nicht unnatürlich? Sie, die ihm für Zeit und Ewigkeit 57 angetraut war, wußte nicht einmal, wie er zu den ewigen Dingen stehe.

Und diese Verschlossenheit hatte etwas Ansteckendes. Wie ein Frost war es auf Thekla gefallen, der ausging von seiner Kälte. Sie war auch schon soweit, daß sie von diesen Dingen ihm gegenüber nicht anfing, aus einer ihr selbst unverständlichen Ängstlichkeit; ja, daß sie, wenn mit sich selbst allein, Grauen vor ihrer Tiefe empfand. Lieber ließ sie die Gedanken auf alltäglichen Bahnen streifen, als sich in die Nähe von Abgründen zu wagen. War man nicht auf dem Wege zur Oberflächlichkeit? War man nicht mitten drin bereits in dem schalen seelenlosen Treiben, das sie an anderen so verabscheute?

Hier lag ein Verschulden vor, eine Unterlassungssünde! Sie hatte die höchste Frauenpflicht verabsäumt: jene unsterbliche Flamme zu pflegen, die Gott im Menschen angezündet hat. Sie hatte an der Seite ihres Mannes gelebt, und nicht mal den Weg gesucht zu dem Mysterium seines Innern. Und wenn Leo sich zehnfach mit einer Kruste von Eis umgab, so war das für sie noch keine Entschuldigung. Sie mußte diesen Weg finden, sie war die einzige die es konnte; denn sie allein war im Besitze des Schlüssels, der sein Herz öffnete: Liebe.

Viel war an Leo gesündigt worden, sie wußte es wohl. Zuerst von seiner Mutter, von den Frauen überhaupt. Sie hatten die glänzenden Eigenschaften seines äußeren Menschen so lange bewundert und verhätschelt, daß er schließlich das, was tausendmal wichtiger war: seine Seele, darüber hatte verkümmern lassen. In ihm waren zwei Naturen vereinigt, von der die gröbere die feinere in Schatten stellte. Und weil er dieses Mißverhältnis fühlte, schämte er sich wohl, sich zu zeigen, wie er war? – Einem Vater glich er, der dem schöneren 58 Kinde den Vorzug giebt, und das unscheinbarere und doch wertvollere immer mehr zurückdrängt, vor den Augen der Menschen.

Darin lag die Unausgeglichenheit seines Wesens, der falsche Ton in der Harmonie, das, was ihr Befremden erregte, ja, was sie manchmal hatte Widerwillen empfinden lassen gegen den Mann, den sie liebte.

Aber Gott sei Dank, es war ja noch nicht zu spät! Er besaß eine Seele, wenn er sich auch Mühe gab, sie zu verbergen. Ein falscher Weg war nicht eingeschlagen, denn sie war ja noch gar nicht ausgezogen zum Suchen. Das Land war da, das unbekannte; sie glaubte an seine ungehobenen Schätze, wie nur je ein Entdecker an die Wunder jenseits des Sichtbaren geglaubt hat.

Die Flitterwochen lagen längst hinter ihnen; aber jetzt erst würde ein neues, vertieftes Zusammenleben beginnen. Die vier Jahre ihrer Ehe sollten nur der Brautstand gewesen sein für die Hochzeit, wo ihre Seelen einander erkennen würden.

So bereitete sich Frau Thekla auf sein Kommen vor. Immer sonniger, immer siegesgewisser wurde sie, je näher der Tag von Leos Ankunft heranrückte. Geschrieben hatte sie ihm nichts von ihren Hoffnungen. Soetwas vertraute man dem Papiere nicht an; das mußte er sehen, fühlen. –

Auf ihrem Schreibtische stand eine Photographie von ihm, die sie von allen, welche sie besaß, am meisten liebte: Leo mit Gerd auf den Knieen als junger Vater. Wie war er da so freundlich, herzlich und beglückt! Und so sollte er in Zukunft immer mehr werden. Das Fremde an ihm, das Kalte, das Offizielle, die Maske, die er in der Geselligkeit zur Schau trug, mußte er mehr und mehr ablegen. Wie Eis sollte das schmelzen vor dem Frühlingsschein ihrer neuen Liebe.

59 Einstmals hatte er um sie geworben, hatte sie sich erobert zu seiner Frau; wie es das gute Recht war des Mannes. Jetzt wollte sie ausgehen, ihn zu gewinnen. Die Braut, um die sie werben wollte, war seine Seele.

* * *

»Sie sehen aus, als ob Sie auf Rosen gingen, gnädige Frau!« meinte Doktor Rink, als er sie besuchte, um zu konstatieren, wie die nunmehr beendete Brunnenkur angeschlagen habe. »Habe ich's nicht recht gemacht, daß ich Ihren Herrn Gemahl nach England schickte? – Eheleute müssen sich manchmal trennen. Das ist sehr wichtig für das Nervensystem. Und es frischt an, ungemein frischt es an! Sie werden sehen! –«

Selbst solche Bemerkungen war Thekla in ihrer jetzigen Stimmung zu überwinden im stande.

Nun begann sie, sich und das Haus für seine Ankunft vorzubereiten. Karl, der Diener, war, auf telegraphischen Befehl seines Herrn hin, zurückgekehrt. Er nahm Silber und Lampen vor und bürstete die Parketts; schien sehr davon durchdrungen, daß alles neu und schön sein müsse, wenn der Herr zurückkehre. In aller Eile ließ sich Frau Thekla noch ein helles Kleid anfertigen, Leo und der schönen Jahreszeit zu Ehren.

Am Tage, ehe Wernberg ankommen sollte, traf ein Brief von ihm ein mit Poststempel: London. Um himmelswillen, nur jetzt nicht die Nachricht, daß er seine Dispositionen geändert habe! Mit zitternder Hand öffnete sie den Brief. Nein, Gott sei dank, er schrieb nur ganz kurz, daß er in London übernachte, und daß er dann über 60 Brüssel, Berlin zu ihr fliegen werde. Der Zweck seines Briefes sei nur, ihr zu sagen: daß niemand im Ministerium, oder von der Gesellschaft etwas erfahren dürfe von seiner vorzeitigen Rückkehr; er wünsche den Rest seines Urlaubs inkognito mit ihr zu verbringen.

Thekla fand diesen Gedanken reizend. Sie sollte ihn ganz für sich haben! O, wie ihr Herz ihm entgegenklopfte!

Eine Viertelstunde bereits, ehe der Zug ankam, fand sie sich auf dem Bahnhofe ein und ging in der menschenleeren Wartehalle auf und ab. Sie wußte ja, daß Leo Empfänge nicht liebte. Die »Küsserei« vor versammeltem Bahnhofspublikum fand er »geschmacklos«. Aber sie wußte sich nicht zu helfen, sie hatte ihm müssen entgegengehen. Sie wollte die erste sein, auf die sein Blick fallen sollte, wenn er wieder in der Heimat war.

Endlich lief der Zug ein. Dort stand er am Fenster und winkte ihr zu. Kofferträger drängten sich vor. Er bahnte sich einen Weg durch das Gewühl, kam auf sie zu und umarmte sie. Frau Thekla ließ den Heimgekehrten nicht gleich fahren; lachend machte er sich los, um Karl, der aus dem Hintergrunde aufgetaucht war, den Gepäckschein zu reichen.

Thekla verließ an Wernbergs Arme den Bahnhof. Als sie im Wagen neben einander saßen, wagte sie, einen verstohlenen Blick auf ihn zu werfen. Er sah prächtig aus, sonngebräunt, in gesunder Magerkeit.

»Nicht wahr, von Büreaufarbe ist mir nichts mehr anzumerken?« fragte er. Sie nickte.

Nun fing er an, von seiner Reise zu erzählen, wie ausgezeichnet er sich unterhalten habe. Er hatte Glück gehabt; ganz zuletzt noch auf dem Jagdschlosse Lord Coolshursts war er einige Tage lang mit einem Mitgliede des englischen Königshauses zusammen gewesen.

61 Thekla fand, daß sie sich erst wieder an ihn und seine Art gewöhnen müsse. Er war so ganz erfüllt von seinen Erfolgen. Sie war ihm im Augenblicke nichts als Publikum. Ihr gegenüber hätte er sich doch nicht zu brüsten brauchen mit dem Erlebten! Sie wußte ja ganz gut, daß, wo er sich auch zeigen mochte, er eine Rolle spielen würde.

Wie schwer es doch war, durchzuführen, was sie gewollt hatte! Merkte er denn gar nicht, was in ihr vorging, mit welchen Gefühlen sie ihm entgegengegangen war? –

Im Hause empfing Gerd in seinem besten Kleide, ein Sträußchen in der Hand, den Vater auf der Treppe. Schön erdacht! Aber es war nicht damit gerechnet worden, wie schnell einem Kinde selbst die bekanntesten Gesichter fremd werden. Gerd wollte von dem großen fremden Manne, der auf ihn zukam, nichts wissen, warf das Sträußchen weg und zog sich in die sicherste Festung zurück, die er kannte: die Röcke seiner Kinderfrau. Der Vater lachte und meinte: die Bekanntschaft müsse erst erneuert werden. Die Kinderfrau war sehr ungehalten über den mißglückten Empfang. Sie nannte Gerd ein »garstiges Kind«, und hätte ihn bestraft, wenn nicht Thekla ihr in den Arm gefallen wäre. –

Dann nahm der Hausherr ein Bad, um den Reisestaub loszuwerden. Karl besorgte inzwischen das Auspacken. Nach einer Stunde etwa saßen sich Thekla und Leo zum erstenmale wieder nach langer Zeit am Eßtische gegenüber.

Das Gespräch war auf den Tod von Arthurs Kindern gekommen. Thekla berichtete, wie sich alles zugetragen habe. Es ergriff sie von neuem in der Erinnerung. Sie dankte Leo dafür, daß er an Arthur geschrieben habe. Sicher werde das den unglücklichen Eltern sehr wohlgethan haben.

Wernberg räusperte sich.

62 »Hm – Thekla – ich will dir nur gestehen, daß ich schließlich doch nicht dazu gekommen bin, zu schreiben. Der Geist war willig, aber das Fleisch schwach. Wie das so manchmal geht! Es kam mir etwas dazwischen, ich weiß nicht mehr was. Kurzum es ist bei dem guten Vorsatz geblieben! Schließlich, wer weiß, wie es Arthur aufgenommen hätte! Vielleicht gar als Malice. Er sieht ja in allem, was ich thue, Absicht.«

Thekla senkte das Haupt. Er sollte das Wasser nicht sehen, das ihr in die Augen trat.

Nun hatte er also gar nicht geschrieben! Ihre Freude darüber war umsonst gewesen. Wie hoch hatte sie es ihm angerechnet, daß er auf die Idee gekommen. Welchen Trost hatte sie in dem Gedanken gefunden, daß das Herzeleid die Schwäger einander näher führen möchte. Und nun war ihm etwas »dazwischen« gekommen, er wußte nicht was.

Wernberg sah wohl, daß sie betrübt sei, deutete ihr Empfinden aber falsch.

»Ach, weißt du, Thekla!« begann er in vertraulichem Tone, »laß nur endlich den Schmerz. Es hilft ja zu nichts! Gewiß, ist es sehr traurig, außerordentlich traurig, und ich kann mit den unglücklichen Eltern vollständig sympathisieren. Aber auf der anderen Seite hat jedes Unglück auch sein Gutes im Gefolge. Ein Kind statt ihrer viere, macht einen Unterschied in der question of bread and butter, wie sie drüben sagen. Und beruhige dich, wie ich Arthur und Ella kenne, haben sie in ein paar Jahren das Quartett wieder beisammen.«

Er war fürchterlich! Wie schwer war es, an sich zu halten, ihm nicht zuzurufen: ›Du bist roh!‹ Das war der Teil seines Wesens, der ihr so unheimlich war, den sie fürchtete und verabscheute. Ganz unverhüllt war das hier wieder mal an die Oberfläche gekommen.

63 Wernberg ahnte, daß er sie verletzt habe und verließ das Thema. Weiter von seiner Reise erzählend, kam er auf die englischen Frauen zu sprechen.

»Wenn man freilich unsere prüden Begriffe anlegt, dann wären sie kokett zu nennen. Aber sie gehen nur scheinbar weit, an einer gewissen Grenze schnappen sie ab. Man ist eben drüben lange nicht so engherzig wie hier. Du solltest nur mal solch ein englisches Brautpaar sehen, da giebt es keine ängstliche Schwiegermutter, keine dame d'honneur, wie unsere gute Tante Wallamber. Engaged to be married heißt zu deutsch: man kann alles machen! Und überhaupt, Herren und Damen stecken überall und immer ganz ungeniert zusammen. Es giebt nichts, woran die Damen nicht teilnehmen. Das ist so famos an der englischen Frau, sie ist zu allem zu gebrauchen. Eigentlich ist sie netter als der Mann. Es giebt ja kolossal patente Leute da drüben, besonders unter den älteren Engländern, aber, daß die jungen fellows amüsant oder liebenswürdig wären, kann man nicht behaupten. Wie die Stockfische sind sie, interessieren sich nur für ihre Pfeife und für Sport. Da erlebte ich eine höchst charakteristische Geschichte. In Giffordcastle bei Lady Coolshurst war eine Miß Smidson, ein auffällig hübsches und nettes Mädel. Bei uns hätte sie einen Schwarm von Anbetern gehabt. Aber der Haken schien darin zu liegen, daß sie wohl vornehme Verbindungen besaß, aber kein Geld. Sie war »portionless«, wie der famose Ausdruck lautet. Ich machte ihr ein wenig den Hof, in allen Ehren natürlich, das gefiel ihr sehr. Sie erzählte mir allerhand, denn sie hatte das Bedürfnis, ihr Herz auszuschütten; bei den jungen Leuten fand sie, wie gesagt, keinen Ankratz. Sie war mit dreien von diesen joung fellows kürzlich auf einer Yacht an der norwegischen Küste gewesen. Sie, das junge, bildhübsche Ding, 64 mutterseelenallein mit drei zwanzigjährigen Burschen auf einer Yacht! – Nach unseren Begriffen völlig undenkbar, nicht wahr? Aber, was das erstaunlichste ist, Miß Smidson sagte: sie habe es schließlich vor Langeweile nicht ausgehalten. Nicht im geringsten hätten sich ihre drei Kavaliere um sie gekümmert, hätten gefischt, gesegelt, geraucht, gespielt, whisky and soda getrunken, aber mit ihr kaum ein Wort gesprochen. Ist so etwas erhört? Und dazu war das Mädel zum Anbeißen, sage ich dir! Ich weiß nicht, die Zusammensetzung des Blutes muß eben doch eine andere sein drüben. Die Frauen haben Temperament, viel Temperament sogar. Aber es kommt im großen und ganzen nicht viel vor, glaube ich, trotz all der Skandalgeschichten, die man von der Londoner Gesellschaft hört. Die ist international und stark von Paris aus beeinflußt. Es giebt verführerische Frauen drüben; aber sie sind wie schöne Weintrauben an hohem Spalier, gut mit Stacheldraht eingehegt, durch das Gesetz. Breach of promise! Man kennt auf dem Festlande so was gar nicht.«

So plauderte er, eigentlich mehr für sich selbst. Thekla war weder mit Herz, noch Kopf bei ihm. Was war aus ihren Erwartungen, die sie auf dieses Wiedersehen gesetzt hatte, geworden?

Nach Tisch ging man in sein Zimmer. Wernberg saß in seinem Sorgenstuhle, der, geräumig mit hoher Rückenlehne, ein kleines Gebäude darstellte für sich.

»Die erste vernünftige Cigarre! Das thut wohl! Denn im Punkte rauchen, ist man drüben übel daran. Ach, es ist doch schön, wieder in seinen vier Pfählen zu sein. Das hat mir sehr gefehlt, und du und der Junge erst recht, kannst du mir glauben, Thekla!«

»Trotz Miß Smidson?«

»Kind, bist du eifersüchtig? Da kennst du mich 65 schlecht! Miß Smidson hat mir ihre Photographie geschenkt; ich werde sie dir zeigen. Aber ich habe mich nicht einen Augenblick vergessen. Ich brauchte ja nur an dich zu denken, meine Thekla, um gegen jede Versuchung gefeit zu sein. Weißt du, Schatz, daß ich mich sehr nach dir gesehnt habe? Komm, sitz nicht so weit von mir! Hier ist Platz für zweie. Aber erst verhänge mal dort die Lampe, das Licht blendet so!«

Thekla schob den grünen Schirm vor die helle Glocke auf seinem Schreibtisch, daß die Ecke, wo er saß, ganz in Halbdunkel fiel. Dann kam sie zu ihm und setzte sich auf die breite Armlehne des Sorgenstuhles.

»Leg meine Cigarre in den Becher, Liebchen! Jetzt habe ich besseres vor als Rauchen.« Sie that es. Er umfaßte ihre Taille und zog sie an sich. Sie ließ es geschehen, legte die Wange auf sein Haupt.

›O, wenn Leo doch jetzt den witzelnden Ton ließe!‹ dachte sie bei sich. Wenn er doch jetzt aufgehört hätte, sie als sein Publikum zu behandeln, endlich zu ihr hätte sprechen wollen, wie zu seiner Frau! Dann sollte ihm das Vorige vergeben sein; dann konnte noch alles gut werden.

Und als habe er ihre Gedanken erraten, schlug er mit einemmal einen ganz veränderten Ton an: traulicher, inniger. Er vertraute ihr an: wie er eigentlich erst durch diese Trennung erkannt habe, was er an ihr besitze. Sie sei die Schönste, die Beste, die Herrlichste von allen. Unaussprechliche Sehnsucht hätte er gehabt nach ihr in der letzten Zeit. Ja, er habe seine Reise abgekürzt, um in ihre Umarmung zurückzueilen.

Sie lauschte begierig jedem Worte, sog berauschende Wonne daraus. Das war der Ton, den er manchmal angeschlagen hatte, in der ersten Zeit, der Ton, der sie verzauberte. Wenn er so sprach, dann konnte er ja alles 66 anstellen mit ihr, wenn er sich so frei und ohne Rückhalt gab, wenn sie jauchzend erkannte, daß er sie doch liebe, daß es Liebe und nur Liebe sei, was er bei ihr suchte. Wenn er alles Äußerliche alles Gemachte ablegte, wenn er sich so groß und herrlich zeigte, wie er in Wirklichkeit war. Jetzt hatte sie wieder Hoffnung. Jetzt hielt sie alles noch für möglich: das neue Leben – nun er so sprach, nun er es über sich gebracht hatte, ihr die Thore seines Herzens so weit zu öffnen.

»Und jetzt will ich dir noch etwas verraten, meine Thekla!« fuhr er fort, und zog sie näher an sich heran. »Ein kleines, nettes Geheimnis, eine Überraschung für dich! Du sollst es gleich wissen: morgen bleiben wir noch hier, denn ich muß mich ein wenig ausruhen, aber dann reisen wir. Garnicht weit weg, du brauchst nicht zu erschrecken! Nur soweit, daß uns von den guten Freunden niemand beobachten kann. Ich weiß so einen kleinen lauschigen Winkel auf dem Lande, gar nicht weit von hier, wo sich Verliebte verstecken können. Ich schrieb dir, daß du ja niemandem etwas von meiner Rückkehr verraten solltest. Wir thun so, als ob wir eben geheiratet hätten. Flitterwochen verstehst du! – Ich weiß nicht, wie es kam, als ich dich heute sah, war mein erster Gedanke: das ist nicht deine Frau, das ist deine Braut.«

Thekla wurde es, als erklänge von irgend woher Musik. »Braut!« Daß er das Wort gefunden hatte!

»Ich könnte mir vorstellen, daß ich dich noch nie berührt hätte!« sagte er ihr in's Ohr. »Du hast soetwas Berückendes« . . . . . .

»Still, still!« flüsterte sie, und schloß ihm den Mund mit der Hand. 67

 


 


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