Wilhelm von Polenz
Thekla Lüdekind. Zweiter Band
Wilhelm von Polenz

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VI.

Im Frühsommer wurde Herrn von Wernberg eine Tochter geboren.

»Ist es ein Mädchen?« hatte Thekla in ihrer Schwäche gefragt. Und als die Hebamme bejahte: »Nun hat Gerd ein Schwesterchen!« Darauf verbot ihr der Arzt das Sprechen.

Leo Wernberg freute sich schließlich doch auch. Es war nett zu denken, daß man eine Tochter hatte. Vielleicht wurde sie mal eine Schönheit! Jetzt freilich sah man davon noch nichts. Das Gesichtchen war krebsrot und zusammengedrückt. Der glückliche Vater machte, daß er aus dem Hause kam, um auf dem nächsten Postamte Telegramme abzuschicken an Verwandte und Freunde. Die Annonce in der Zeitung war auch zu bedenken und die Meldung beim Standesamt. Einigen Bekannten wollte er es persönlich mitteilen, dem Minister unter anderen und Lilly Ziegrist.

Was wohl Lilly für maliciöse Bemerkungen machen würde! Wie wär's, wenn er den Abend bei ihr zubrächte in ihrer neueingerichteten Wohnung? Jedenfalls für Unterhaltungsstoff war gesorgt! Thekla ging es ja, Gott sei Dank, gut, und zu Haus fühlte man sich als Vater wie das fünfte Rad am Wagen. Er ging also zu Lilly.

Die Taufe sollte bald sein. Wernberg hatte für den 85 Sommer noch allerhand andere Pläne, die sich nicht hinausschieben ließen. Der Herzog wollte in diesem Jahre nach England gehen, und Kammerherr von Wernberg war ausersehen, ihn zu begleiten, als besonderer Kenner der englischen Verhältnisse. Es lag ihm selbst daran, diese interessante Reise von Anfang an mitzumachen, darum beschleunigte er die Taufe.

Es sollte eine kleine, aber auserlesene Taufgesellschaft sein. Der Herzog selbst wollte Pate stehen. Die anderen Gevattern waren: der Minister, Lilly, Wernbergs Mutter, sein Schwager Baron Erb und von Theklas Familie: das Ehepaar Seeheim.

Es verlief alles glatt und prompt nach dem von Leo ausgearbeiteten Programm. Der Herr Domprediger sprach nicht zu lange, drängte sich überhaupt nicht als Hauptperson vor, vielleicht durch die Anwesenheit des Landesherrn zur Zurückhaltung veranlaßt. Beim Braten konnte der Geistliche sich freilich nicht enthalten, seiner Nachbarin, Fräulein von Ziegrist, zuzuflüstern, er fühle sich versucht zu beten, statt: »Unser täglich Brot gieb uns heute!« ein: »Unser heutiges Brot gieb uns täglich!« Der Witz fiel auf guten Boden. Lilly war für eine schnodderige Bemerkung immer empfänglich, im Munde eines Geistlichen nun gar schien sie ihr besonders pikant.

Der Herzog selbst erhob das Glas auf das Wohl des Täuflings und unterhielt sich sehr freundlich mit Wirten und Gästen. Alle waren in aufgeräumter Stimmung. Das Ganze war die Sache von anderthalb Stunden, dank den umsichtigen Dispositionen des Hausherrn. Selbst die nächsten Verwandten verließen sofort nach der Taufe das Haus; denn Thekla und der Säugling sollten Ruhe haben.

Einige Tage darauf reiste Leo Wernberg, als Begleiter 86 des Herzogs, nach England. Thekla blieb mit den Kindern und den Dienstboten allein zurück. Es war ja im vorigen Sommer ausgezeichnet gegangen so, warum nicht auch in diesem!

Aber die kleine Agathe wollte nicht zunehmen, war überhaupt seit dem Tauftage nicht recht munter. Doktor Rink legte dem keine große Bedeutung bei; er nannte es eine »kleine Verdauungsstörung«. Ganz natürlich, die Mutter hatte sich etwas erregt, vielleicht auch einen Diätfehler begangen; das teile sich jetzt dem Säuglinge mit. In ein paar Tagen werde alles wieder gut sein.

Aber es wurde nicht besser. Das Kindchen, anfangs gesund und kräftig, nahm ab.

»Andere Nahrung!« erklärte Rink, und machte sich auf die Suche nach einer Landamme. Er kam mit einem kraftstrotzenden jungen Bauernmädchen an.

Für Thekla war der Gedanke fürchterlich, ihr Kind an eine wildfremde Person hingeben zu sollen. Aber was wollte sie machen angesichts der Thatsache, die ihr der Arzt an der Säuglingswage vorrechnete, daß Agathchen, statt zuzunehmen, täglich soundsoviel abnehme. Von Zweifeln geplagt, ob es das Richtige sei, und mit innerem Widerstreben überließ sie ihr Kindchen der fremden Brust.

Es war erfolglos. Nach weiteren acht Tagen sagte Doktor Rink: »Künstliche Milch.«

Die Amme wurde entlassen und ein Apparat zum Sterilisieren aufgestellt. Der Arzt beaufsichtigte selbst das Abkochen und erschien täglich zum Wiegen.

Mau brachte es so weit, daß in dem beängstigenden Abnehmen eine Art von Stillstand eintrat. Daß aber das Kindchen nicht gedieh, konnte man auch ohne Säuglingswage erkennen. Die Hautfarbe war welk. Den ganzen Tag lag das kleine Ding im Halbschlafe gänzlich 87 teilnahmlos. Dazu die Sommerhitze, in ihrer rücksichtslosen Kraft! Das Kind schien zu verschmachten und wollte doch nicht trinken.

Thekla glaubte schon lange nicht mehr an das, was Doktor Rink sagte. Sie hatte ja niemals rechtes Zutrauen zu ihm gehabt. Leo schwor auf ihn, wohl nur deshalb, weil der Arzt ihm nach dem Munde redete. Rink war es gewesen, der gestattet hatte, daß die Taufe so schnell nach der Geburt stattfinde, weil dem Kinde »das bißchen Taufwasser« nichts schaden könne. Jawohl! Aber der Mutter hatte die Aufregung Schaden gethan und durch sie dem Kinde; das hatten diese beiden klugen Herren nicht bedacht.

Doktor Rink lehnte natürlich jede Verantwortung ab und behauptete jetzt: das Kind habe von Anfang an Disposition zu schwacher Verdauung gehabt; auch von Nerven sprach er wieder. Thekla wußte es ganz genau: das Kind war gesund gewesen, das Kind, das sie unter dem Herzen getragen, das sie gekannt hatte, lange, ehe irgend ein Auge auf ihm geruht. Als es zur Welt gekommen, war es frisch und ohne jedes Unthätchen an seinem ganzen kleinen Leibe gewesen.

Die schwersten Vorwürfe freilich machte sie sich selbst. Warum nur hatte sie das mit der Taufe zugelassen? Freilich, sie war von Leo gedrängt worden dazu! Aber hätte sie ihm nicht zu Gunsten des Kindes widerstehen müssen? – Nun lag das kleine Ding da und siechte, und sie war daran schuld, sie, die pflichtvergessene Mutter! Jetzt war es von ihr, von ihrem Busen getrennt, jetzt konnte sie ihm nichts mehr geben von ihrer Kraft, von der Nahrung, welche die Natur, zum Spotte gleichsam, noch immer in ihr schuf.

Vor Kummer, Selbstvorwürfen und Zweifeln konnte 88 Thekla des Nachts nicht schlafen. Was sollte sie thun, was noch versuchen? War es nicht zum Herzbrechen, dieses langsame Hinwelken mit anzusehen? Und das an einer Knospe, die eben erst das kleine hilflose Haupt schüchtern zum Licht erhoben hatte. Wollte ihr der liebe Gott dieses Kind nehmen? Dieses Kind, das sie so sehnsuchtsvoll erwartet hatte, das sie so nötig brauchte, das ihrem Herzen näher noch stand als Gerd, weil es ein kleines Mädchen war, ein werdendes Weib, das ihr einstmals Freundin und Genossin sein sollte.

Sie betete zu Gott, daß er ihr Agathchen doch lassen möge. Sie betete, wie nur ein geängstigtes Mutterherz beten kann. Sie kämpfte wie mit einer fremden Macht. Sie bot sich selbst zum Opfer an, bat, daß ihre Schuld ihr nicht angerechnet werde. Schrecklich, wenn es eine Heimsuchung gewesen wäre, von Gott ihr zum Gerichte gesandt! – Sie war ja in den letzten Jahren so lau und gleichgiltig gewesen! Aber Gott konnte doch nicht so hart und ungerecht sein, ein Kind zu schlagen, das nichts verbrochen hatte! –

Ihre ganze Mädchenfrömmigkeit war mit einemmale erwacht, der schlichte Glaube an den lieben Gott, der Leben und Sterben ganz persönlich lenkt. Jahrelang hatte das in ihr geruht. Gott war ihr zu einem höchsten Wesen geworden, das weit, weit von ihren kleinen persönlichen Geschicken in Erhabenheit thronte. Jetzt aber beim Anblick ihres siechen Kindes, dem keine menschliche Kunst helfen konnte, brauchte sie einen Helfer, der ihr näher stand. Da kehrte der alte Kindheitsgott wieder in ihr Gedächtnis zurück, dem sie als kleines Mädchen alle ihre Nöte: Zahnschmerz, zerbrochene Puppe, Schulaufgaben, anvertraut hatte.

Ach, wie war es nur möglich gewesen, sich so weit 89 von diesem guten Gotte zu entfernen? – Thekla wußte nur zu gut, wie das gekommen war!

Daran war vor allem ihr Mann, mit seiner äußerlichen Frömmigkeit schuld! Leo ging mit ihr wohl alle vierzehn Tage zur Kirche, und dreimal im Jahre, an ganz bestimmten Tagen, zum Tisch des Herrn. Sie besuchten die Domkirche, wo sie nicht allzuweit von der herzoglichen Loge Plätze hatten. Der erste Prediger war schon lange nicht mehr jener prächtige alte Mann, der Thekla konfirmiert hatte. Man hatte jetzt einen berühmten Kanzelredner, auf den die ganze Stadt stolz war, angestellt. Diesen Mann zum Beichtvater haben, gehörte zum guten Tone. Man rühmte an ihm die glänzende Redegabe, die Schönheit der Form, die Phantasie und nicht zuletzt die positiven Anschauungen.

Leo Wernberg hielt sehr viel von diesem Prediger. Seine beiden Kinder waren von ihm getauft worden. Der Herr Domprediger wurde mindestens zweimal im Laufe jedes Winters von Herrn von Wernberg zu Tisch gebeten. Thekla hatte weniger für ihn übrig. Die Predigten des berühmten Kanzelredners sprachen ihr nicht zum Herzen. Woran es lag, wußte sie nicht recht; vielleicht klangen ihr die freieren Reden, die er bei Tisch zu führen pflegte, allzusehr im Ohre nach.

Sie stand mit ihrem Mißfallen allein da. Dieser Pastor war nun mal Mode, wie bestimmte Schneider und bestimmte Friseure Mode sind. Höchst weltlich gesinnte Leute gingen in die Kirche, um sich von ihm »erschüttern« zu lassen. Nicht weit von den Wernbergs saß der Theaterintendant von Wächtelhaus, ein alter Libertin. Hier machte er ein ganz ernstes und überzeugtes Gesicht. Natürlich fehlte Marie Kalkmeyer nicht, deren selbstgerecht hochmütige Miene allein schon im stande war, Thekla in die 90 Opposition zu treiben. Und neuerdings hatte sich auch Lilly von Ziegrist angewöhnt, die Kirche zu besuchen; sie gab vor, zu den »Ergriffenen« zu gehören.

Mit dem Ergriffensein war es aber bei den Meisten vorbei, sobald man die Kirche verlassen hatte. Schon vor der Thür, wo sich die Intimen zu treffen pflegten, ging es mit Klatschen los. Wächtelhaus übte da seine Zunge, die während einer ganzen Stunde hatte vom Spotten ausruhen müssen, und Lilly wollte ihm nicht nachstehen. Leo Wernberg aber hatte sich nach dem ersten befreienden Gähnen mit der Kirchenstimmung für weitere vierzehn Tage abgefunden.

Sein Beispiel hatte lähmend auf Theklas religiöses Gefühl gewirkt. Bis auf einmal der große Kummer diese Saiten ihres Inneren von neuem in Schwingung versetzte.

Sie versuchte wieder zu beten, wie sie es ehemals gekonnt. Aber mit dem Gebet allein war es nicht gethan. Das Gebet blieb doch mehr oder weniger etwas, was sie that, sich Linderung zu verschaffen. Aber ihr Kind! Was geschah für ihr Kind? Wer riet ihr da das Rechte? –

Eigentlich sah Agathchens Zustand jetzt gar nicht so bedenklich aus. Doktor Rink fand die Sache »keineswegs hoffnungslos«.

Wie ergrimmt sie war gegen diesen Doktor! Sicher, er mußte ein Charlatan sein! Und eines Tages, als er ein Pulver verordnet hatte für die Kleine, das Thekla von vornherein entschlossen war, nicht zu verabreichen, kam ihr wie eine Eingebung der Gedanke: Doktor Beermann!

Daß sie nicht gleich an diesen alten Freund ihrer Familie gedacht hatte! – Freilich er war ein Greis geworden inzwischen und praktizierte so gut wie gar nicht mehr; aber mit ihr würde er schon eine Ausnahme machen.

Natürlich sagte sie es Doktor Rink, daß sie sich an 91 einen anderen Arzt zu wenden gedenke. Der meinte geschmeidig: das könne ihm nur sehr recht sein; vier Augen sähen manchmal mehr als zweie.

Doktor Beermann kam auf Theklas Brief. Es war noch ganz das alte, lächerlich häßliche, groteske Gesicht, vor dem sich Thekla als Kind so gefürchtet hatte. Aber wie machte der Glauben ihr jetzt dieses Gesicht freundlich und schön erscheinen.

Beermann ließ sich die ganze Leidensgeschichte erzählen, untersuchte die Kleine und meinte schließlich: Wie ein Pflanzreis sei das kleine Wesen, das wurzellos im Erdreich stünde, gerade nur vegetierend. Vollständig veränderte Lebensbedingungen seien notwendig: andere Luft, anderes Wasser, andere Umgebung, eine »richtige Umtopfung«, wenn aus dem kleinen Dingelchen noch etwas werden solle.

Thekla atmete auf. Das klang so einleuchtend. Luftwechsel! – Wohin sollten sie gehen? Was meinte er? Sie war zu allem bereit.

Daß sie sehr weit weg gehe mit dem Kinde, sei garnicht von Nöten, erklärte der Arzt. Vor allem Waldluft, frische würzige Waldluft? Hier in der Stadt müsse ein so schwächlicher Organismus ja verschmachten.

Die Mutter dachte sofort an Wyraburg. Das war in wenigen Stunden mit dem Wagen zu erreichen. Und Luft, Waldluft, gab es dort aus erster Hand! In der »grünen Buche« war sicher Platz. Sie erzählte Doktor Beermann davon. Er ließ sich die Lage des Platzes beschreiben und erklärte sich einverstanden.

* * *

92 Am nächsten Morgen schon fuhren Thekla, Doktor Beermann und die Kleine im halbverdeckten Wagen nach Wyraburg. Hedwig, die Kinderfrau und Gerd kamen mit der Eisenbahn. Das Haus sollte unter Karls und der Köchin Obhut bleiben. Ein Telegramm hatte die Wirte der »grünen Buche« unterrichtet, daß man komme. Die nötigsten Sachen für das Baby befanden sich im Wagen, alles andere brachte Hedwig nach.

Doktor Beermann hielt Thekla davon ab, den Wagen schließen zu lassen. Wozu denn? Man solle doch mal ruhig so thun, als fehle der Kleinen garnichts. An frischer Luft sei noch kein Kind zu Grunde gegangen, wohl aber manches an Ängstlichkeit der Mutter. Wirklich gelang es ihm auch, Thekla etwas mehr Mut einzuflößen. Sie ließ mit der Zeit den Schirm weg, mit dem sie Agathchen gegen die Sonne schützen wollte. Und als das Kindchen darauf nieste, rief Beermann triumphierend aus: »Sehen Sie wohl, wie sie rebelliert! Wo ist denn da noch Krankheit?«

Doktor Beermann hatte sich bereit erklärt, ein paar Tage lang mit in der grünen Buche zu bleiben. Er habe Zeit, sei ein alter Junggeselle, und Thekla und ihre Kinder erinnerten ihn an ihren Vater, Tante Wanda und manchen anderen lieben Verstorbenen.

Unter Beermanns Anleitung wurden die Bäder für das Kind um einige Grad kälter genommen, die sterilisierte Milch gänzlich abgeschafft, dafür Milch von der Kuh, stark abgekocht und verdünnt, gereicht. Vor allem aber verlangte er, daß die Kleine der Sonne ausgesetzt werde, und daß man sie nicht ängstlich vor jedem Windzuge schütze.

Nach ein paar Tagen schon war in Agathchens Befinden eine wesentliche Besserung zu verspüren. Sie begann der Nahrung zuzusprechen, ihre Haut bekam Farbe. 93 Beermann reiste ab, versprach aber, sobald er gerufen wurde, wiederzukommen.

Theklas Beglückung kam zum Ausdruck in einem langen Briefe an ihren Mann. Sie hatte ihm bisher ja nur in aller Kürze die Thatsache ihres Umzuges mitgeteilt. Jetzt mußte sie, was sie auf eigene Verantwortung gethan hatte, doch auch näher erklären! Würde nicht Leo staunen, wie kühn sie geworden war? Was sie unternommen hatte, konnte er ja nur billigen, jetzt, wo der Erfolg sie zu rechtfertigen begann.

Am Sonntag ging Frau Thekla nach Wyraburg zur Kirche. Sie nahm Hedwig und Gerd mit, die Kleine der Kinderfrau überlassend. Das große Gotteshaus war in der Erntezeit nur halb gefüllt, denn viele von den kleinen Leuten des Städtchens bestellten am Feiertag ihr Stück Feld vor dem Thore. Man nahm im Schiff Platz. Gerd war zum ersten Male in einer Kirche. Er wurde zwischen die Mutter und Hedwig gesetzt und ermahnt, artig zu sein. Es gab hier so vieles zum Anstaunen, daß der Junge gar nicht daran dachte, sich bemerkbar zu machen.

Der Gottesdienst ergriff Frau Thekla im Innersten, die einfachen Gesichter der halb ländlichen Gemeinde, der schlichte Gesang, die Stimmung von Innigkeit, die ungesucht natürlich über dem Ganzen lag. Hier gab es keine selbstgerechte Marie Kalkmeyer, keinen Spötter Wächtelhaus, keine Weltdame Lilly, die einen hätten in der Andacht stören können.

Und zu dieser schlichten Herde paßte der Hirte. Der Geistliche hielt keine gedrechselt geistreiche Rede, sondern verkündete mit einfachen Mitteln lauter und rein das Wort Gottes.

Seine Predigt hatte zum Text: Die Speisung der Fünftausend aus dem Marcus-Evangelium. Christus, dem 94 alles möglich ist, hat mit sieben Broten und ein wenig Fischlein fünftausend Hungrige gespeist, so daß alle satt geworden sind und man noch sieben Körbe mit Brocken aufhebt. – Die Art wie der Prediger das Wunder behandelte, zeigte, daß er dem Berichte Wort für Wort Glauben schenkte. So natürlich vorgetragen und so treuherzig erklärt, verlor das Ereignis alles Legendenhafte. Hier war es Thatsache, an die sich der Zweifel nicht wagen durfte, das Unwahrscheinliche war im schlichten Herzen zur Wirklichkeit geworden.

Wie einen das an die Kindheit erinnerte, wo man alle diese lieben alten Geschichten auswendig gewußt hatte. Wie wehte es einen daraus wehmütig zugleich und erquickend an. Ja ja, sie wollte zurückkehren zu dieser klaren frischen Quelle, sie wollte wieder fromm werden!

Gerd sah die Mutter weinen. Ganz richtige große Tropfen fielen. Das war ihm sehr unheimlich. Auf einmal rief er ziemlich laut, ehe Hedwig es verhindern konnte: »Hast du dir Wehweh gemacht, Mama?« –

Der Ruf des Kindes verursachte weiter kein Aufsehen, denn die Leute waren harmlos hier, und einzelne schliefen auch.

Frau Thekla nahm noch Vaterunser und Segen mit und verließ, während das »Wir sind dein Herr!« ertönte das Gotteshaus, im Herzen Sonnenschein, für den ganzen übrigen Tag zur Andacht gestimmt.

Tags darauf erhielt sie einen Brief aus England. Leo würde ihr sicher viel zu erzählen haben diesmal; denn bisher hatte sie nur kurze Postkarten von ihm erhalten.

Anstatt dessen enthielt der Brief nur Vorwürfe, daß sie so Hals über Kopf von zu Haus weggegangen sei, gegen Doktor Rinks Willen. Am schärfsten aber tadelte der Gatte, daß sie sich gerade nach Wyraburg begeben habe, 95 in die grüne Buche, die er eine »Fuhrmannskneipe« nannte. Er könne sie nicht verstehen! Was wolle sie denn dort mit einem kranken Kinde? Er ersuche sie, nach Haus zurückzukehren, und das so schnell wie möglich.

Thekla war nur anfangs bestürzt über dieses sonderbare Schreiben. Dann sagte sie sich, daß er ja, als er diesen Brief abgeschickt hatte, ihren letzten mit den guten Nachrichten von Agathchen noch gar nicht erhalten haben konnte. Immerhin war seine Schreibweise doch sehr schroff!

Die Männer wollten behaupten: Frauen seien unberechenbar und inkonsequent. Wie ungerecht sie doch selbst oft waren!

Dem Befehle Leos, nach Haus zurückzukehren, glaubte sie nicht nachkommen zu brauchen. Sie wußte zu genau, daß sie recht daran gethan hatte, hierher zu gehen; und mit der Zeit würde das Leo ja auch einsehen. Sie blieb in der von ihm gescholtenen grünen Buche wohnen, begünstigt vom herrlichsten Sommerwetter.

Eines Tages hörte man von dem Städtchen her tosenden Lärm erschallen: Musik, laute Rufe, Schüsse. In Wyraburg sei Schützenfest, erklärte die Wirtin, das jedes Jahr um diese Zeit hier stattfinde. Ob die gnädige Frau sich's nicht auch mal ansehen wolle; es sei eine Sehenswürdigkeit der Gegend.

Frau Thekla lachte anfänglich über dieses Ansinnen; überlegte sich schließlich aber, daß Gerd doch nun in dem Alter sei, wo ihm eine Menagerie oder ein Puppentheater Spaß machen könnten. Im zeitigen Nachmittag ging sie mit der Kinderfrau und dem Jungen zum Schießplatz, Hedwig bei der Kleinen zurücklassend.

Man sah Gaukler und wilde Tiere. Thekla fuhr Gerdchen zur Liebe sogar mit auf dem Karrussel. Der Junge quiekte vor Vergnügen in den höchsten Tönen.

96 Schon waren sie wieder auf dem Wege, als aus der letzten Bude ein Mann auf sie zutrat: »Hier herein meine schöne Dame! Treten Sie gefälligst ein! Hier werden Sie photographiert, nach dem neuesten Verfahren, genannt: Momentaufnahme. Nur fünfzig Pfennige das Bild.«

Die Kinderfrau redete zu: Gerdchen möchte gern einmal photographiert sein; dann könne man dem gnädigen Herrn doch auch ein Bild von seinem Prinzen schicken. Der Gedanke belustigte Thekla.

Man trat in die Bude. Drinnen war eine Frau damit beschäftigt, ein junges Paar, offenbar Liebesleute, aufzunehmen. Der Mann, welcher nur den Zutreiber spielte, verschaffte einen Stuhl und fragte: ob Einzelbild oder Gruppe, Visitenkarte oder Kabinett gewünscht werde. Er brachte ein Album herbei, das ziemlich abgenutzt und nicht ganz sauber war; die schöne Dame möge nur gefälligst bestimmen, wie sie es haben wolle. Dann lief er wieder hinaus, um andere Kunden einzufangen.

Thekla blätterte unschlüssig in dem Album, während die Kinderfrau Gerdchen zurechtputzte und ihn ermahnte, »recht artig« auszusehen, damit der Papa ihm was hübsches mitbringe aus England. Frau Thekla hatte Zweifel, ob sie hier wohl am richtigen Platze sei. Die Photographieen waren doch gar zu grob.

Plötzlich blieb ihr Blick haften auf einem kleinen Bilde: einen Herrn und eine Dame darstellend. Die Farbe war bereits in's Bräunliche übergegangen. Aber in Gestalt und Haltung des Herrn lag etwas, das sie fesselte – mehr als fesselte – das ihr den Atem stocken machte.

Das war ja Leo! Er trug einen Strohhut schief auf dem Ohre, der die ganze obere Gesichtspartie beschattete, aber Mund und Kinn blieben doch ganz deutlich zu erkennen. Die Hände waren in die Rocktaschen versenkt. 97 Und die Dame? Sie blickte den Beschauer gerade an. Thekla fragte sich, ob sie dieses Gesicht schon je in ihrem Leben gesehen hätte; fand aber keinen Anhalt in ihrem Gedächtnis.

Wie lange mochte es her sein? Die Toilette der Person nahm sich unmodern aus. Thekla entsann sich, diesen auffällig groß karrierten Sommeranzug noch an ihrem Manne gekannt zu haben.

Solche Erwägungen waren die Sache einer kurzen Minute. Dann wurde Thekla gestört durch die Besitzerin der Bude, welche inzwischen mit ihrem Pärchen fertig geworden war, und nun nach den Wünschen der »Madame« fragte.

Aber Frau Thekla war alle Lust vergangen. Sie wollte so schnell wie möglich weg von hier. Um dafür nur irgend einen plausiblen Grund zu haben, sagte sie: das Licht sei jetzt nicht hell genug, sie werde morgen früh wiederkommen.

Auf dem Rückwege versuchte sie die unangenehmen Gedanken zu verscheuchen, die diese Entdeckung in ihr erregten. Was war denn weiter? Daß Leo eine Vergangenheit habe, wußte sie doch längst! Im ersten Jahre ihrer Ehe hatte sie darüber wohl bittere Thränen vergossen, jetzt war es für sie längst eine harte Thatsache geworden. Neugier, wer diese Person gewesen, wer und wie überhaupt jene unseligen Geschöpfe seien, bei denen er in früheren Zeiten sogenannte »Liebe« gefunden, empfand sie nicht. Und wenn er mit Bekenntnissen darüber angefangen hätte, würde sie ihn gebeten haben, aufzuhören davon.

Etwas ganz anderes war es, was sie aufregte: ein Verdacht, eine Vermutung, eine Ahnung fast nur.

Hatte Leo mit dieser da in der grünen Buche zu Wyraburg gewohnt? Hatte er das Unerhörte gethan: 98 seine Frau an den nämlichen Platz, vielleicht in die nämlichen Räume zu führen, die das widerlichste Zerrbild der Liebe mit angesehen haben mochten? –

Dieser Gedanke, aberwitzig und furchtbar, wie er ihr selbst erschien, ließ sie nun nicht mehr los.

Sie hatte die Tage von Wyraburg an seiner Seite immer zu den schönsten, ungetrübtesten, beglücktesten ihres Lebens gezählt. Einer Liebe hatte sie sich da hingegeben, so tief befriedigt, so gesegnet, wie niemals vorher oder nachher. Das, was sie ihm da gegeben, was er ihr da geschenkt, sollte für ihn eine zweite Auflage bedeutet haben, gewissermaßen? – Wäre es nicht zum Wahnsinnigwerden? Es konnte nicht sein!

Leo war nicht so unklug! Es wäre doch geradezu Aberwitz gewesen, seine Frau an die Stätte zu führen, die eine solche Vergangenheit hatte. Wenn er nur einigermaßen gesund empfand, mußte ihm diese Umgebung doch einen steten Vorwurf bedeuten! Oder machte er keinen Unterschied zwischen seiner ihm angetrauten Gattin und jener anderen, für die sie nicht einmal eine Bezeichnung wußte? –

Konnte man ein anständiger Mann, ein vornehmer Herr sein, und zugleich so frivol? Thekla besaß ihre Erfahrungen mit Leo. Sie hatte Anschauungen, Zumutungen, Gelüste an ihm kennen gelernt, die sie entsetzten. Wenn die Erziehung einen Menschen davor nicht schützte, dann konnte man sich jeder Unlauterkeit von ihm gewärtigen. Sie wagte sich hier einmal bis zum Äußersten in ihrem Nachdenken. Großer Gott! ja: es war ihm zuzutrauen! –

Und auch Äußerlichkeiten sprachen dafür: die Art wie er sie im Vorjahre davon abzuhalten gewußt hatte, sich mit der Wirtin einzulassen. Natürlich, er hatte besorgt, die könne sich verplappern. Was für Unsauberkeiten mochten 99 da noch weiter sein, an die sie gar noch nicht gedacht hatte! –

Auch sein Brief konnte ihren Verdacht nur vermehren. Warum war er so ungehalten? Sprach nicht daraus das schlechte Gewissen?

Vieles schien das Unglaubliche zu bestätigen, ja geradezu zur Gewißheit zu machen. Einzig und allein ein schwaches Hoffen, ein Rest von Glauben in ihrem Herzen sprachen dagegen.

Unter allen Umständen wollte sie Gewißheit haben! Sie dachte sogar daran, die Photographenbude noch einmal aufzusuchen und sich zu erkundigen, wo und wann dieses Bild aufgenommen worden sei. Aber sie ließ diesen Plan wieder fallen. Würden die Leute sich darauf noch besinnen, und auf was für Vermutungen mußten sie geführt werden?

War es da schließlich nicht besser, man versuchte es mit der Wirtin? Aber es schien so etwas Ungewohntes, Trauriges, sich auf's Spionieren verlegen zu müssen. Frau Thekla spürte so gar keine Veranlagung in sich dafür.

Da kam ihr ganz von ungefähr Hedwig zu Hilfe. Eines Tages sagte das Mädchen: »Gnädige Frau werden verzeihen, aber ich weiß nicht, wie ich mich dazu verhalten soll . . . . . .«

Und nun berichtete Hedwig, daß die Wirtin ihr unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit anvertraut habe: der gnädige Herr hätte bereits früher einmal hier logiert, aber mit einer ganz anderen Dame. Das sei der Wirtin nicht auszureden gewesen.

So erzählte Hedwig; als sie aber sah, welche Wirkung ihre Worte auf die Herrin hervorbrachten, schwieg sie bestürzt. Das Mädchen war auch nicht ganz ohne Hintergedanken gewesen, hatte erkunden wollen, was etwa Wahres 100 an solchem Gerede sei, und wie weit die gnädige Frau selbst etwas davon wisse. Nun aber that ihr leid, was sie angerichtet. »Ach, das wird schon nicht wahr sein! Weinen die gnädige Frau nur nicht! Die Thieme hat sonst was gesehen! Wahrscheinlich ist's einer gewesen, der unserm Herrn ähnlich sieht.«

Thekla forschte nicht weiter; sie wußte genug. Und überdies kam ein neuer Brief aus England. Leo verlangte darin abermals und noch energischer als im vorigen, daß sie die grüne Buche verlasse und nach Haus zurückkehre. Der Platz sei nicht passend für sie. Der Brief war kurz. Zum Schluß war noch eine Nachschrift angefügt, worin er sie mit beweglichen Worten bat, doch Vernunft anzunehmen. Es werde sie sicher gereuen, wenn sie bei ihrem Eigensinn verharre.

O, wie sie ihn verstand! Er hatte Angst, ganz gewöhnliche Angst! Wie mochte er es jetzt verwünschen, sie jemals nach Wyraburg gebracht zu haben! –

Eine große Bitterkeit kam über Thekla, nicht gegen ihren Mann allein; alle Freude am Leben, das sie eben erst wieder angefangen hatte, gut zu finden, schien wie ausgelöscht. Widerlich waren ihr die Menschen. Frau Thieme, in der sie bisher eine harmlose Person gesehen, war auf einmal zur Mitwisserin, ja Hehlerin dunkler Machenschaften geworden. Widerlich ward ihr auch das Haus und die Zimmer, die sie bewohnte. Was galt ihr jetzt noch der Blick auf die Landschaft, was der Wald? Alles hatte seine Unschuld eingebüßt, alles schien ihr besudelt.

Trotzdem konnte sie sich nicht sofort entschließen, wegzugehen. Sie war doch ihres Kindchens wegen hierher gegangen. Sollte sie die Kleine herausreißen aus einem Leben, das ihr augenscheinlich gut that? – Was würde Doktor Beermann dazu sagen?

101 Daß Leo ihr in zwei Briefen anempfohlen hatte, nach Haus zurückzukehren, galt ihr nichts; im Gegenteil, es hätte sie bestärken können, in der Absicht, zu bleiben. So war jetzt ihre Verfassung. An ihn zu schreiben, konnte sie sich nicht entschließen. Was hätte sie ihm sagen sollen? Entweder ihr Brief log, oder er würde so bittere Wahrheit enthalten, daß ihr selbst davor graute. Vielleicht würde Leo aus ihrem Schweigen die richtige Antwort entnehmen.

Der Aufenthalt wurde ihr schließlich ganz unerträglich gemacht. Ob nun die Wirtin weitergeschwatzt hatte, oder ob Hedwig nicht imstande gewesen war, ihre Zunge zu zügeln, jedenfalls fing nun auch noch die Kinderfrau an mit versteckten Andeutungen und indiskreten Fragen. Womit solchen Leuten den Mund stopfen?

Auch das Wetter wurde schlecht. Welche Qual, bei Regen in mangelhaft eingerichteten Räumen sitzen zu müssen, in einer Stimmung, die trüber noch war, als der hoffnungslos verhangene Himmel! – Nein, es kam zu viel über sie! Und eines Tages entschloß sie sich, nach Haus zurückzukehren.

Sie telegraphierte an Karl, daß er alles im Hause vorbereiten solle, für ihre und der Kinder Rückkunft. Doktor Beermann wurde nicht unterrichtet; Thekla fürchtete, er werde sie in Wyraburg zurückzuhalten versuchen.

Sowie sie mit den Kindern in ihren vier Pfählen wieder einigermaßen eingerichtet war, ließ Frau Thekla den alten Arzt rufen. Aber der kam nicht, sondern schrieb: wenn sie so geringe Ausdauer hätte, daß sie wegen eines bißchen schlechten Wetters eine gut anschlagende Kur über Bord werfe, dann sei ihr und dem Kinde nicht zu helfen; dann möge sie sich nur an einen Arzt wenden, der sich solche Inkonsequenz gefallen ließe.

Auch das noch! Nun hatte sie den alten Freund vor 102 den Kopf gestoßen. Das Wetter, dachte er! Konnte man ihm die Wahrheit sagen? Gewisse Dinge lassen sich nicht erklären. Sie hatte so handeln müssen.

 


 


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