Wilhelm von Polenz
Thekla Lüdekind. Zweiter Band
Wilhelm von Polenz

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Buch

I.

Es war Gerds dreizehnter Geburtstag. Seine Mutter hatte dem zu Ehren ihre nächsten Verwandten eingeladen. Sie wohnten jetzt alle am nämlichen Orte: Frau Sänger, Arthur mit Ella und die Seeheims.

Frau Thekla, die seit der Scheidung ihren Mädchennamen wieder angenommen hatte, war hierher gezogen, einmal, um den Ihren nahe zu sein, vor allem aber, weil sie nicht in der nämlichen Stadt zu leben wünschte mit ihrem ehemaligen Gatten, der ein Jahr etwa nach vollzogener Scheidung ihre Jugendfreundin Lilly heimgeführt hatte.

Gerds Geburtstagsfeier, die in der üblichen Chokolade mit Geburtstagskuchen bestand, schenkten sich die Herren. Arthur war daheim bei seiner Pfeife geblieben, und Seeheim, jetzt in der angenehmen Stellung eines Etatsmäßigen, mußte seine Pferde bewegen. Dafür aber waren die Damen: Frau Sänger, Ella und Agnes erschienen. Ella hatte ihr Töchterchen, Gertrud, mitgebracht, und Agnes war mit ihren sämtlichen vier Jungens angetreten. Die beiden ältesten Seeheims, Kadetten, befanden sich augenblicklich auf Weihnachtsurlaub zu Haus.

Frau Thekla Lüdekind wohnte in einem schönen neuen 282 Hause in bester Lage der Stadt. Ihres Jungen wegen hielt sie auf eine geräumige Wohnung. Bei Gelegenheiten, wie die heutige, lud sie ihm gern Altersgenossen ein, und da mußte man Raum haben zum Spielen. Das Geschick, einziges Kind einer alleinstehenden Frau zu sein, sollte Gerd – das war der Mutter Wunsch – niemals drückend empfinden.

Gerd kam jetzt in das Alter, wo sich das Selbstbewußtsein stärker zu regen beginnt, wo beim Knaben, als der Männlichkeit erster Vorbote, der Ehrgeiz hervortritt. Der junge Herr hielt etwas auf sich, legte Wert auf den Sitz seiner Anzüge und die Farbe seiner Kravatten und war stolz darauf, der beste Turner in der Klasse zu sein. Die Mutter hatte ihm an diesem Geburtstage seinen höchsten Wunsch erfüllt, indem sie ihn mit einem Fahrrad beschenkte.

Daß er keinen Vater über sich hatte, trug dazu bei, das Selbstbewußtsein des Knaben zu vermehren. Die Schicksale, die das Kind in jungen Jahren durchgemacht hatte, das Bewußtsein, einen Vater wohl zu besitzen, ihn aber niemals sehen zu dürfen, der Umstand, daß er einen anderen Namen führte, als seine Mutter, alle diese außergewöhnlichen Verhältnisse, gaben ihm unter den Kameraden eine abgesonderte Stellung, machten Gerd von Wernberg älter, reifer und erfahrener erscheinen, als er in Wahrheit war.

Frau Thekla räumte ihm mit Bewußtsein eine Selbstständigkeit ein, die über seine Jahre hinausging. Sie wollte ihren Jungen so erzogen haben, daß er sich weiter finden könne durch die Welt, wenn sie eines Tages abgerufen würde. Ein Muttersöhnchen, das in ihren Kleidfalten Schutz suchte vor den Unbilden des Lebens, wünschte sie nicht. Mochte nur Gerd bei Zeiten anfangen, sich seiner 283 Haut zu wehren, damit er gestählt sei für die Kämpfe, die später mal nicht ausbleiben konnten.

Oft freilich zitterte sie im Geheimen. Die regste aller Einbildungen, die mütterliche Phantasie, sah allerhand Gefahren des Leibes und der Seele für ihren Liebling drohen. Doch ließ sie ihn von ihren geheimen Sorgen nichts merken; wußte sie doch, daß nichts ansteckender ist als Verzagtheit. Thekla wollte einen herzhaften Sohn haben.

Gerd war ein Kind, das dem Mutterherzen gefallen konnte. Schlank, schmiegsam, kernig wuchs er empor wie ein junges Bäumchen, das einen guten Standort hat. Obgleich seine Züge noch ganz den Charakter blütenzarter Kindlichkeit trugen, ahnte man aus seiner Haltung, seinem Gang, seinen Bewegungen bereits Kraft und Schönheit des zukünftigen Mannes.

Die Fürsorge für Gerd beherrschte Theklas Dasein von früh bis spät. Es gab für sie nichts, was ihr Interesse dauernd von diesem einen großen Zwecke hätte ableiten können. Sie lebte durch dieses Kind und in diesem Kinde.

Ihre Liebe für Gerd hatte einen tragischen Beigeschmack; Sorgen und Kämpfe lagen dem Gefühle zu Grunde. An Menschen, um deretwillen wir haben schwer leiden müssen, sind wir ja mit besonders starken Ketten gefesselt. Gerd stellte die lebendige Erinnerung dar an die trübste Periode ihres Lebens; ein zweites Mal gewissermaßen hatte sie dieses Kind geboren, da sie es sich unter Torturen der Seele hatte erkämpfen müssen. Bange Monate hindurch, während des Scheidungsprozesses, hatte Thekla in Unsicherheit geschwebt, ob Gerd ihr verbleiben würde, oder ob sie ihn werde hergeben müssen.

Aber diese dunklen Zeiten waren nun vorbei. Gerd gehörte ihr zu, kein fremdes Anrecht bestand mehr auf ihn. Was auch immer sonst das Leben gegen sie verübt haben 284 mochte an Grausamkeiten, da es ihr dieses Kind gelassen hatte, konnte sie ihrem Geschicke nicht gram sein. Vielleicht, wer konnte es wissen, war sie durch alle diese bitteren Erfahrungen geführt worden, damit sie reif würde für das verantwortungsreichste aller Ämter, das der Mutter! –

Oft, wenn Gerd längst schlief und sie aus dem Nebenzimmer seine regelmäßigen, tiefen Atemzüge durch die Stille der Nacht hörte, setzte sich die Mutter in ihrem Bette auf, sann nach. War sie die rechte Mutter für ihn? Würde sie die schwierige Aufgabe bewältigen, sie, eine schwache Frau, ihn, einen Knaben, zum Manne zu erziehen? – Wurde die Aufgabe nicht von Jahr zu Jahr schwieriger, je näher er dem Jünglingsalter kam, je mehr er der mütterlichen Hilfe entraten konnte? – Wie leicht mochte man den rechten Weg verfehlen! Dann hämmerte ihr Herz, schweißgebadet saß sie und starrte in die Dunkelheit. Die Nacht vergrößert ja alles, wirft alles Licht auf einen Punkt, verhüllt das Trostreiche und läßt das Unbedeutende schwer und unheimlich erscheinen.

Wenn Gerd ein Mädchen gewesen wäre, um wieviel leichter hätte sich ihre Aufgabe gestellt! Für jeden Schritt, für jedes Erlebnis würde man dann aus dem Katechismus der eigenen Erfahrungen Rat haben erteilen können. Aber ein Knabe! – –

Bis jetzt, Gott sei Dank, war sie noch immer ausgekommen mit dem, was ihr der gesunde Instinkt sagte; aber würde nicht einmal die Zeit kommen, wo das nicht mehr ausreichte, wo sie vor Fragen gestellt werden mochte – vielleicht aus Gerds Munde selbst – die nur ein Mann beantworten konnte. Denn eines Jünglings Bedürfnisse waren andere, als die eines Mädchens, wie Mannesnatur von Weibesart grundverschieden ist. Würde sie jede seiner Regungen recht verstehen, und wenn sie sie 285 verstand, würde sie imstande sein, sie in die rechten Bahnen zu lenken? Würde ihr jemals jene ärgste Demütigung widerfahren, vor der sie zitterte, daß Gerd sie den Gatten vermissen lassen sollte, weil der Sohn väterlicher Leitung bedurfte? –

Aber solche Ängste erschienen nur als Nachtgebilde, die dem hellen Tage bisher noch stets gewichen waren. Frau Thekla hoffte auf den guten Stern ihres Gerd, daß er an den Klippen, die jedem, der das Meer befährt, drohen, nicht scheitern werde. Und noch mehr hoffte sie auf seine gute Natur. Keine Frage: Gerd war glücklich veranlagt! Es war nicht etwa mütterliche Verblendung, die ihr das vorgaukelte. Überall zeigte sich das. Im Sturm eroberte sich der Knabe die Herzen der Lehrer, der Mitschüler. Das Wohlgefallen der Menschen fiel ihm zu, weil er frei war von Arglist, von irgend welcher Berechnung. Er wußte sich zur Geltung zu bringen, gehörte von Anfang an in seiner Klasse zu den tonangebenden Knaben. Ein Mucker war er nicht. Seine lebhaften, wißbegierigen Augen erzählten, welche Lebenslust und welche Lebenskraft hier heranreiften. Seine Leistungen waren gute; das Betragen ließ manchmal zu wünschen übrig. Wenn er bestraft wurde, war es fast immer für Übermut oder kindlichen Leichtsinn, niemals für eine Handlung, die niedriger Gesinnung entsprungen wäre.

Sache der Erziehung war es, diese guten Anlagen zu schützen gegen feindliche Einflüsse, aus ihnen etwas Ganzes zu formen. Zum Erziehen – das sah Thekla mehr und mehr ein – gehörte viel Geduld, Entsagung und Selbstzucht. Liebe allein that es nicht. Mit jener Liebe, die sich nicht zurückzuhalten versteht, erstickte man die zarten Keime der Persönlichkeit, statt sie zu fördern.

Ein Beispiel solcher Affenliebe, dem eigenen Kinde 286 gegenüber, hatte Thekla in Arthur und Ella stetig vor Augen. Gertrud war nur um weniges älter als Gerd. Die Eltern vergötterten das kleine Ding. Gertrud lohnte es ihnen damit, daß sie das ganze Haus tyrannisierte mit ihrem Eigensinn. Das Kind wußte, daß es hübsch sei, und die Mutter bestärkte sie in der frühreifen Eitelkeit. Es war ein Jammer, das mit anzusehen. Als Außenstehender erkannte man ja freilich immer die Fehler der Erziehung viel leichter, als die Beteiligten. Arthur, mit dem Thekla einmal darüber sprach, gab selbst zu, daß Gertrud nicht richtig erzogen werde; aber könne man es von ihm verlangen, fragte er, gegen dieses einzige Kind, das ihm geblieben war, Strenge walten zu lassen. – Außerdem war Gertrud kränklich von Anlage, das machte es doppelt schwierig, sie richtig anzufassen.

Gerd fand begreiflicher Weise großes Wohlgefallen an seiner allerliebsten Cousine. Früh übte er sich ihr gegenüber in ritterlichen Diensten, und sie ließ es sich in mädchenhafter Koketterie gefallen.

Wie Thekla erinnert wurde an die Jugendzeit, wenn sie diese Kinderköpfe bei einander sah, Gertruds braune Locken und Gerds blondes Borstenhaar. Alles kam wieder im Leben, für den, der Gedächtnis hatte und in veränderter Gestalt die Grundform wiederzuerkennen verstand.

Aber man wäre strafbar gewesen, wenn man die eigenen Erfahrungen nicht nutzbar gemacht hätte für die heranwachsende Generation, nicht versucht hätte, jenen Arglosen die ärgsten Irrtümer und Fehltritte zu ersparen. Nein, es war nicht erwünscht, daß Gerd jemals sein Herz verliere an diese Cousine. Ganz, ganz anders stellte sich die Mutter im Geiste die Frau vor, welche würdig sein sollte, sie abzulösen bei ihrem Sohne.

Doch das waren Zukunftsträume, denen Frau Thekla 287 nur ausnahmsweise nachhing, wenn sie ihren Gedanken mal Feiertagsurlaub gab. Für gewöhnlich war ihr Denken und Sinnen auf das Nächstliegende, Notwendige gerichtet.

Thekla Lüdekind hatte darin manches gelernt von ihrer Schwester Agnes, der sie überhaupt näher kam, seit man in einer Stadt lebte. Frau von Seeheim war mit den Jahren eher noch nüchterner und derber geworden. Sie hatte niemals nach den Sternen gegriffen, hell blickten ihre Augen in die Wirklichkeit. Besondere Anmut konnte man weder ihr noch ihrem Familienleben nachrühmen. Alles atmete da den Charakter einer gewissen trockenen Hausbackenheit; dafür aber ging es ordentlich zu, die Dienstboten parierten, die Kinder waren in guter Zucht. Bei aller Einfachheit dieser Offizierswirtschaft, hatte man als Gast der Seeheims doch stets das Gefühl, in einem anständigen Hause zu sein.

Heute also war Agnes mit ihren vieren gekommen. Der älteste, Herbert mit Namen, war zwar bereits fünfzehn Jahre alt und hoffte in drei Jahren spätestens auf das Leutnantspatent; aber für Geburtstagschokolade und Torte war schließlich auch er noch zu haben. Die Mutter hatte ihn besonders ermahnt, diesmal das Streiten mit Gerd zu unterlassen. Die beiden Vettern, Herbert und Gerd, vertrugen sich nämlich nicht besonders. Ein besonderer die Eifersucht fördernder Umstand war, daß sie beide ihre Cousine anbeteten; und Gertrud hatte es bisher unentschieden gelassen, welchem der Vettern sie die Palme ihrer Gunst reichen wolle.

Herbert, der Realpolitiker war, hatte alles zu halten versprochen, was ihm die Mutter gesagt. Im stillen war er entschlossen, zunächst einmal die Geburtstagschokolade vorüberzulassen, das übrige aber von Gerds Verhalten 288 abhängig zu machen, mit dem er vom letzten Zusammensein her noch ein Hühnchen zu rupfen hatte.

Ganz ähnliche Ermahnungen wie Herbert, empfing Gerd von seiner Mutter. Theklas Sohn, harmloser als sein Vetter, versprach ohne Hintergedanken, den Frieden zu wahren.

Bald, nachdem die Chokolade beendigt war, erhielten die Kinder Erlaubnis, sich in Gerds Zimmer zu begeben, um dort zu spielen. Er hatte ein Kartenspiel zum Geburtstage bekommen, das eingeweiht werden sollte.

Die Mütter saßen inzwischen in Theklas Salon, bei ihnen befand sich Hedwig. Sie war von ihrer Herrin herbeigerufen worden, um einen neuen Schnitt zu erklären. Frau Thekla ließ sich neuerdings die Kleider von ihrer getreuen Jungfer anfertigen. Hedwig war in den letzten Jahren etwas in die Fülle gegangen und sah ungemein behäbig aus. Der Postgehilfe seligen Angedenkens würde jedenfalls, hätte er sie in dieser Vollkommenheit erblickt, erst recht bedauert haben, daß er sich ein so molliges Glück verscherzt hatte. Sie war nach wie vor begeistert für den jungfräulichen Stand. Und seitdem nun auch ihre Gnädige den Mann abgeschafft hatte – so nannte es Hedwig – fühlte sie sich erst recht stolz in ihrer längst bewährten Männerverachtung. Einen einzigen nahm sie aus und der war noch kein richtiger Mann: Gerd. Ihm brachte Hedwig alle jene zärtlichen Gefühle entgegen, die ihr Busen dem übrigen Geschlechte versagte.

Während man in das interessante Problem einer Tunika vertieft war, drangen von Gerds Zimmer her verlorene Töne herüber: Lachen, Geschrei, Rufe, Gepolter.

»Sie scheinen sich gut zu unterhalten dort!« sagte Agnes, als eben wieder ein mächtiges Lärmen laut wurde.

289 Ella machte ein bedenkliches Gesicht. »Gertrud soll sich nicht aufregen! Der Doktor spricht . . . . . .«

»Ach, laß ihr doch mal einen Spaß!« rief Agnes. »Was wird's ihr denn schaden? Haben wir in dem Alter nicht auch mit den Jungens getollt? Außerdem hat mir Herbert versprochen, Ruhe zu stiften, wenn's zu arg wird.«

Gleich darauf that sich die Thür auf. Die kleine Gertrud erschien. Sie flog ihrer Mutter in die Arme. Sprachlos mit großen Augen starrte sie die Damen an; ihr niedliches Puppengesicht war von Erregung ganz entstellt.

»Was ist dir, Kind?« fragte Thekla erschreckt.

Gertrud schluckte und brachte schließlich nur die Worte hervor: »Herbert – Gerd! – –«

»Prügeln sie sich?«

Gertrud nickte. Endlich flossen die befreienden Thränen. Ella nahm das fassungslose Kind in den Arm, suchte sie zu beruhigen.

»Na wart, ich werde euch!« – rief Agnes. Sie und Thekla eilten in das Knabenzimmer.

Hier bot sich ihnen ein eigentümlicher Anblick. Tische und Stühle waren an die Wand gerückt, so daß die Mitte des Zimmers frei blieb. In dieser Arena, am Boden, lagen zwei Ringer, Gerd und Herbert. Die drei jüngeren Knaben standen als Publikum dabei, das interessante Schauspiel atemlos verfolgend. Der zweite Seeheim hielt den Uniformsrock, den sein Bruder abgelegt hatte, sorgsam über dem Arm, um dieses kostbare Stück zu schonen.

Im Augenblicke, als die Mütter eintraten, lag Gerd zu unterst, Herbert kniete auf ihm. Gerd schien jedoch keineswegs gewillt, sich zu ergeben; er focht mit Beinen und Armen, sich aus dieser Lage zu befreien.

Agnes eilte auf die Kämpfenden zu, packte Herbert 290 resolut an der Schulter, riß ihn in die Höhe und versetzte ihm, ehe der große Junge sich dessen versehen, ein paar schallende Ohrfeigen.

Gerd stand, sowie er frei geworden, auf, schüttelte sich wie ein Pudel und sagte, noch bleich und keuchend vor Erregung: »Ich bin aber nicht besiegt!«

Herbert stand verblüfft und trotzig da. Die ihm widerfahrene Behandlung fand er eines Kadetten der zweiten Division durchaus nicht für würdig. Auf die Frage seiner Mutter: wer angefangen habe, antwortete er nicht.

Die kleineren Seeheims, erfüllt von dem Bewußtsein, ausnahmsweise unschuldig zu sein und daher verhältnismäßig sicher vor der mütterlichen Hand, schrieen im Chor: »Gerd hat angefangen!«

»Ich habe ihn gefordert!« erwiderte Gerd, den Kopf stolz zurückwerfend. »Weil er mich beleidigt hat.«

»So behandelst du deine Gäste!« sagte Thekla. »Ich schäme mich, Gerd!«

Der Junge senkte die Augen, sagte aber nichts.

Thekla bat Agnes um Verzeihung. Die meinte nur: »Es ist einer soviel wert wie der andere!« Und zu ihrem Ältesten gewendet: »Zieh deinen Rock an; zur Strafe gehen wir jetzt sofort!«

Nachdem die Geburtstagsfeier auf diese Weise ein unerwartet schnelles Ende gefunden hatte – denn auch Ella ging mit Gertrud – rief Frau Thekla ihren Jungen zu sich.

»Daß du dich mit Herbert geprügelt hast, ist noch nicht so schlimm, aber daß du dein Versprechen so wenig ernst nimmst, das betrübt mich, Gerd!«

Der Junge blickte seine Mutter groß an, sah weg, zuckte die Achseln und schwieg. Die Mutter stand befremdet; Verschlossenheit war sonst nicht Gerds Eigenschaft. Hier 291 lag etwas verborgen, dem sie auf den Grund kommen wollte.

»Was hast du denn mit Herbert gehabt?« fragte sie.

»Er war frech! Dafür habe ich ihn gefordert.«

»Und daran, daß Herbert dein Gast war, dachtest du nicht, und was ihr beiden Großen den Kleinen für ein Beispiel gebt! Alles in den Wind geredet, was ich dir gesagt! Trittst du mit solchen Vorsätzen in das neue Jahr, Gerd?« Sie sah ihm eindringlich in die Augen.

Der Junge zauderte noch einen Moment, dann schlang er die Arme um den Hals der Mutter. »Mamachen!« flüsterte er ihr in's Ohr. »Ich wollte dir's eigentlich nicht sagen, was Herbert von uns gesagt hat. Ich hätte ihn schon noch untergekriegt, wenn ihr nicht dazwischen gekommen wäret. Nun sagt er womöglich, daß er mich besiegt hat. Und ich war doch im Rechte! Weißt du, er hat mich damit geneckt, daß du geschieden bist von meinem Vater; ich hätte überhaupt gar keinen richtigen Vater, sagte er. Und die anderen Kinder haben darüber gelacht. Das konnte ich mir doch unmöglich gefallen lassen! Ich hätte ihn auch noch ganz sicher untergekriegt, wenn ihr uns nur in Ruhe gelassen hättet.«

Frau Thekla war auf's äußerste betroffen; aber größer fast noch als ihr Schreck war ihre Freude. Der Junge hatte die Beleidigung, die ihm und ihr angethan worden war, nicht auf sich sitzen lassen wollen. Wie sie ihn liebte dafür, ihren ritterlichen kleinen Beschützer, der für ihre und seine Ehre zugleich eingetreten war! –

Aber die Sache hatte doch auch ihre bedenkliche Seite. War von den häßlichen Behauptungen, die Gerd vernommen hatte, ein Eindruck haften geblieben in seiner Seele? –

Einem klugen Kinde, wie Gerd, hatte es frühzeitig auffallen müssen, daß seine Eltern getrennt lebten. Thekla 292 hütete sich wohl, ihm die traurige Thatsache zu verschleiern. Offenheit schien ihr auch darin das Weiseste.

Nur wenn Gerd, wie es hie und da geschah, forschte: warum die Eltern nicht zusammenlebten, warum der Vater ein zweites Mal geheiratet hätte, wer das erlaubt habe, und was solch kindliche Fragen mehr waren, mußte ihm die Mutter antworten: er sei noch zu jung, das zu begreifen, und sie werde es ihm später erklären.

Thekla befürchtete, daß Gerds bisherige Unbefangenheit eine ernstliche Erschütterung erlitten haben könne; unberechenbarer Schaden mochte entstanden sein. Gerd kam nun in das Alter, wo er sich Gedanken machte über allerhand. Wenn er nun anfing zu grübeln! Wenn er gar den Schluß zog aus dem Erlebten, daß ihm Unrechtes geflissentlich verheimlicht werde! Vielleicht schwand dann sein Vertrauen in die Mutter. Schrecklicheres konnte sich Thekla nicht vorstellen.

Gespannten Ohres lauschte sie auf das, was Gerd sagte.

»Andere Jungens haben mich auch schon damit geneckt,« begann er, »aber jetzt wagt es keiner mehr; denn du weißt doch, Mama, ich bin der Stärkste! In der Klasse wissen sie's alle, daß ich mir's nicht gefallen lasse; und Herbert brauchte doch auch nicht davon anzufangen, noch dazu, wenn er hier eingeladen ist. Nicht wahr, Mama?«

Die Mutter nickte. Mit inniger Befriedigung hörte sie aus Gerds Worten die frühere Naivetät heraus. Nein, der war ihr nicht verdorben worden, Gott sei Dank!

»Und das ist doch gar nicht wahr, Mama, was Herbert sagt, daß ich keinen richtigen Vater hätte. Wenn ihr auch geschieden seid, so ist doch der Vater mein Vater – nicht wahr, Mama?«

Thekla umarmte ihn, statt zu antworten.

»Aber es ist doch merkwürdig, Mama, daß der 293 Vater mir heute nicht geschrieben hat; findest du nicht auch?«

Die Mutter fürchtete längst, daß er diese Frage stellen werde; sie hatte sie sich mehr als einmal selbst vorgelegt im Laufe des Tages. Warum hatte Leo nicht geschrieben? – Gerds Geburtstag war sonst die einzige Gelegenheit im Jahre, wo er etwas von sich hören ließ. Zwar konnte sie nicht behaupten, daß ihr diese Briefe des Vaters an den Sohn lieb gewesen wären – so fürchterlich steif und gemacht waren sie – aber man hatte sich eben an den Geburtstagsbrief gewöhnt und machte sich unwillkürlich Gedanken, da er ausgeblieben war.

Auf die Frage ihres Jungen antwortete Frau Thekla: »Vielleicht hat dein Vater das Datum vergessen, Gerd! Er kann auch nicht an alles denken, weißt du!«

»Dann brauche ich ihm wohl auch nicht mehr zu seinem Geburtstage zu schreiben, Mama?«

»Das kannst du machen, wie du willst, mein Kind! Wenn du deinem Vater etwas zu sagen hast, dann darfst du ihm jederzeit schreiben.«

»Wenn ich's machen darf, wie ich will, Mama, dann schreibe ich ihm überhaupt nicht mehr. Denn, weißt du, Mama, ich habe mich immer über den Vater gewundert, daß er sich eine andere Frau genommen hat, nachdem er mit dir verheiratet gewesen ist. Ich finde das nicht gut von ihm!«

Gerds letzte Worte gingen der Mutter noch lange im Kopfe herum an diesem Abende.

Was es doch um das unverfälschte Urteil des Kinderverstandes war! Wenn Leo hätte ahnen können, daß er gerichtet stand in den Augen seines Sohnes! Niemals hatte Frau Thekla den Jungen ein hartes Urteil hören lassen über den Vater. Sie wollte, daß ihm der so lange 294 wie möglich eine Autorität bleibe. Und nun hatte sich Gerd ganz ohne ihr Dazuthun selbst seine Schlüsse gezogen aus dem, was er gesehen. »Ich finde das nicht gut von ihm!« – Man mußte wissen, was das in Kindesmund bedeutete!

O, wenn sie der Rache bedurfte, der Vergeltung für das, was ihr geschehen war, doppelt und dreifach hätte sie sie gehabt, in dem schlichten Urteile ihres Kindes! –

Gerd war zu Bett gegangen, nachdem er der Mutter für den schönen Tag gedankt hatte. Sein Schlafzimmer lag neben dem ihren. Frau Thekla suchte ihn unnötig niemals dort auf, schon jetzt in ihrem Jungen das andere Geschlecht achtend. Nur manchmal, wenn sie sicher war, daß er fest schlafe, öffnete sie die Thür und weidete sich an dem Anblick des Schlummernden.

So that sie auch heute. Sie fand ihn wie gewöhnlich, einen Arm unter dem Kopfe, den anderen lang ausgestreckt, mit angezogenen Knieen, das Gesicht ein wenig zur Seite geneigt. Man sah seine schlanken Formen durch die Bettdecke. Welch liebliche Frische, welch schwellende der Entwicklung zustrebende Kraft in der jugendlichen Gestalt!

O, daß er so hätte bleiben können, in der Unverdorbenheit seiner Jugend, so unberührt von der Häßlichkeit des Lebens! –

Die Mutter wußte wohl: das war ein frommer Wunsch. Seine Kindlichkeit würde er verlieren, seine Unschuld. So wie der mädchenhaft zarte Schmelz, der jetzt noch seine Haut bedeckte, einer rauheren, männlichen Farbe Platz machen mußte, so würde seine Unbefangenheit, seine Harmlosigkeit von ihm genommen werden. Nichts konnte diesen Prozeß aushalten, der ein natürlicher war. Nichts konnte ihn vor der Versuchung bewahren, alle mütterliche Liebe nicht; alle Bitten, Ermahnungen, Thränen 295 würden nicht verhüten, daß er eines Tages der Sinnenlust den unausbleiblichen Zoll entrichtete. Das Fleisch war in ihm mächtig, wie in jedem anderen. Er würde sündigen, wie seine Väter gesündigt hatten, würde Schmerzen zufügen, Frauen weinen machen. Nichts würde er anderen ersparen und nichts konnte ihm erspart bleiben von dem, was menschlich war.

Wie lange noch, dann würde er ihren hütenden Händen entwachsen sein! Würde, sein eigener Herr, wandern durch die gefährliche Welt, die nicht nach den Ängsten des Mutterherzens fragt, die in dem jungen Menschen einen willkommenen Spielgefährten sieht ihrer Lust, einen leckeren Bissen für ihre Gier. O, daß ein freundlicher Stern über ihm walte! Daß er nicht ganz sich verlieren möchte! Daß ihm dann ein Engel zur Seite stehe! Daß das Kind seines Ursprungs nicht ganz vergesse! Daß seinen männlich wilden Trieben das mütterliche Erbteil guter Sitte stets die Wage halten möge!

Darum wollte sie beten. Und sie ließ sich an dem Bette nieder, leise, vorsichtig, damit der Sohn nicht erwache.

* * *

Frau Thekla Lüdekind war in den letzten Jahren stark ergraut. Einer ihrer ältesten Freunde, den sie hier wiedergetroffen hatte, fand, daß sie ihrer verstorbenen Tante Wanda immer ähnlicher werde. Thekla war zufrieden mit dem Vergleich und auch mit ihrem grauen Haar; sie fand selbst, daß es ganz gut zu ihr passe. War es nicht besser, man sah älter aus, als man sich innerlich fühlte! Gern nahm sie das weiße Haar auf sich als einen Ehrenschmuck, 296 ein Zeichen der Reife, des Matronentums. Ihr Auge ruhte lächelnd auf diesem Silberschein, wenn sie sich im Spiegel betrachtete; es sah so mütterlich aus. Ihr goldenes Haar von ehemals feierte ja längst seine Auferstehung auf Gerds Haupt.

Reppiner – denn er war der Freund – hatte die Advokatenpraxis schon vor Jahren aufgegeben. Die Mittel, die er sich durch früheren Fleiß erworben, gestatteten ihm jetzt, die Hände in den Schoß zu legen.

Äußerlich war der Mumifizierungsprozeß, dessen Anfänge Thekla früher schon an ihm wahrgenommen hatte, nunmehr bei Reppiner beendet. Er lebte einsam und freundlos, grub sich in sein Junggesellentum ein wie ein Maulwurf in das schwarze Erdreich. Doch hatte seine gallige Laune gegen früher abgenommen; aus dem Hypochonder war ein Stoiker geworden. Was nutzte es, sich über die schiefe Welt zu ärgern, sie kam dadurch nicht in's Lot. – Ja, Reppiner fand neuerdings Sinn für behaglichen Lebensgenuß. Eine gute Cigarre und eine Tasse starken Mokkas vermochten ihn über vieles zu trösten. Sein wichtigstes Betäubungsmittel allerdings waren die Zeitungen. Mit ihren fingierten Nöten und Aufregungen mußten sie dem unthätigen Junggesellen den Ballast ersetzen, den für das Lebensschifflein anderer Menschen Amt, Familie, Nahrungssorgen, Ehrgeiz abgeben.

In der ersten Zeit, nachdem Thekla als geschiedene Frau an ihren neuen Wohnort gezogen, war Reppiner ihr aus dem Wege gegangen, bis sie ihn eines Tages angesprochen hatte. Von da ab war das alte Verhältnis in seiner ganzen Vetraulichkeit wieder hergestellt. Nur in einer Beziehung unterschied es sich wesentlich von der früheren Freundschaft: Reppiner war nicht mehr Theklas Berater in Geschäftssachen. Die Zeiten hatten sich eben 297 geändert; aus dem unerfahrenen, unselbständigen, hilfsbedürftigen Mädchen war eine Frau geworden, der das Leben praktischen Sinn anerzogen hatte. Reppiner pflegte ja ehemals zu behaupten, Thekla werde niemals lernen, ihren Vorteil wahren. Er hatte falsch prophezeit; jetzt, wo ihr Vorteil gleichzeitig der ihres Kindes war, fand sie miteinemmale auch dazu in sich die Begabung.

Der Scheidungsprozeß war eine Schule herber Erfahrung für sie gewesen.

Zu Anfang hatte Arthur ihre Sache geführt. Aber sehr bald mußte Thekla erfahren, daß ihr Bruder kein geeigneter Sachwalter sei für sie. Es fehlte ihm an Ruhe, an Überlegenheit; er war erfüllt von Haß gegen Wernberg und verlor über der persönlichen Voreingenommenheit alle Besonnenheit, gab sich Blößen, welche die Gegenpartei geschickt auszunutzen verstand.

Thekla mußte also ihre Sache selbst in die Hand nehmen. Beide Teile wollten Trennung. Im Laufe der Ehe hatte sich auch genug Unfriede, Abneigung und Verfehlung angesammelt, um dem Richter das Verlangen nach Scheidung begründet erscheinen zu lassen.

Der Fall wurde schwierig erst dadurch, daß beide Gatten das Kind für sich beanspruchten. Und zwar hatte der Vater nach Lage der Sache alle Aussicht, den Jungen zugesprochen zu erhalten.

Es waren mit die düstersten Stunden in Theklas Leben, als sie erkennen mußte, daß das, was sie für ihr heiliges, unantastbares Recht angesehen hatte, vor dem Gesetze keinerlei Geltung besaß. Gerd hingeben müssen in Leos Hände! – Hätte damit nicht das Dasein für sie Zweck und Sinn verloren! – Jedenfalls wußte der Gegner, daß sie an dieser Stelle tödlich zu verletzen sei, und traf danach seine Maßnahmen.

298 IhreAussichten verschlechterten sich immer mehr. Schließlich blieb ihr nur eine Hoffnung, die eine herbe Demütigung in sich schloß – aber was hätte sie um ihres Kindes willen nicht auf sich genommen! – Sie wollte sich an Leo wenden, wollte in Güte von ihm zu gewinnen suchen, was er sich mit Gewalt nicht nehmen ließ. Sie schrieb an Gerds Vater, bat um eine Zusammenkunft. Vielleicht hatte sie doch noch nicht alle Macht über ihn verloren! –

Wernberg antwortete ihr in einem höflich gehaltenen Schreiben: er sei gern zur Erfüllung jedes berechtigten Wunsches bereit, aber von einer persönlichen Zusammenkunft könne er keinen Nutzen ersehen. Was zwischen ihnen schwebe, sei eine Rechtsangelegenheit; er müsse sie mit ihrem Verlangen an seinen Advokaten verweisen.

Wie diese diplomatische Reserve Leo ähnlich sah! Den wahren Hintergrund seiner Politik freilich konnte Thekla nicht ahnen.

Außer der Entscheidung, wem das Kind zugesprochen werden sollte, schwebte noch die Vermögensfrage zwischen ihnen. Es war klar, daß Thekla bei der Absonderung verlangen konnte, ihr Eingebrachtes zurückzuerhalten. Dazu gehörte auch das von Tante Wanda ererbte Grundstück mit dem darauf erbauten Hause. Nun machte Wernberg geltend, daß er nicht unbedeutende Summen aus seinem Privateinkommen in das Haus gesteckt habe, die er zurückerstattet haben wollte. Darüber gab es langwierige Verhandlungen. Am liebsten hätte Herr von Wernberg offenbar Haus und Grundstück für ein Billiges an sich gebracht.

Nachdem Theklas Advokat erfahren hatte, daß dieser Wunsch vom Gegner gehegt werde, war die Sache in seinen Augen zum Handelsgeschäft geworden. Nun fragte es sich nur noch, wie billig der Preis sein dürfe, für den man 299 dem Gatten das Grundstück mitsamt dem Hause ablassen wollte, damit er seinerseits den Anspruch auf den Jungen niederschlüge.

Thekla wollte von einem solchen Handel nichts wissen. Sie sollte sich ihren Jungen erkaufen! Denn was sonst wäre es denn gewesen? Ein Advokatengedanke! Leo würde ja darauf niemals eingehen!

Ihr Rechtsanwalt konnte ihr jedoch den Beweis führen, daß der Vorschlag bei ihrem Gatten gar nicht auf die Entrüstung stoße, die sie als selbstverständlich angenommen. Ja, der gegnerische Anwalt hatte bereits angefragt, ob man nicht geneigt sei, gänzlich dem Anspruche auf das Hausgrundstück zu entsagen; in diesem Falle – aber auch nur in diesem – würde Herr von Wernberg wegen der Erziehungsfrage des Knaben mit sich reden lassen. Thekla traute ihren Sinnen nicht; aber es stand da Schwarz auf Weiß in der Korrespondenz, die die beiden Advokaten mit einander geführt.

Sie hatte merkwürdige Dinge an Leo erlebt, aber das hatte sie ihm doch nicht zugetraut. Thekla konnte den Verdacht nicht los werden, daß dahinter noch jemand anderes stecke. War in solchem Cynismus nicht deutlich Lilly zu erkennen? Lilly, von der ihr längst eine Ahnung sagte, daß sie ihre Nachfolgerin an Leos Seite werden würde!

Wunderlichste aller Verquickungen! Durch Lilly sollte ihr der Wunsch erfüllt werden, Gerd für sich zu haben! Durch Lilly! Weil sie Leo besitzen wollte, weil ihr Egoismus, ihr Geiz, ihre Berechnung in dem Knaben eine lästige Zugabe erblickte, weil sie sein unschuldiges Kindergesicht nicht um sich zu ertragen vermochte! –

Der Advokat rechnete Thekla vor, daß das betreffende Hausgrundstück keinen unbedeutenden Wert repräsentiere. Er riet, es auf keinen Fall an die Gegenpartei zu 300 verschleudern. Der Mann konnte nicht verstehen, was hinter dem bitteren Lachen steckte, mit dem seine Klientin erklärte: nicht einen Pfennig wolle sie haben, sie schenke das Ganze wie es stehe und liege an Herrn von Wernberg. Es blieb dabei, trotzdem der Anwalt die Hände zusammenschlug über eine so schlecht angebrachte Generosität.

Der Preis, den sie gezahlt hatte, kam ihr winzig vor im Vergleich zu dem, was sie gewann. Gerd, ihr Kind! Alles, was sie besaß, hätte sie ja gern hingegeben, um ihn zu retten.

Und als sie schließlich die Nachricht empfing, Leo Wernberg habe Lilly Ziegrist zum Altar geführt, da empfand sie weder Staunen noch Kummer; nur ein Gefühl unendlicher Dankbarkeit und Beruhigung darüber, daß Gerd der Gefahr entronnen war, Lilly zur Pflegemutter zu erhalten.

Thekla war weit entfernt von aller Eifersucht. Sie gönnte Lilly das Glück, das sie sich mit solcher Beharrlichkeit erkämpft hatte.

Leo Wernberg nahm, noch während der Scheidungsprozeß schwebte, seinen Abschied als Staatsbeamter, ging in eine Hofstellung über. Thekla glaubte auch darin Lillys Einfluß zu erkennen. Lilly hatte immer gefunden, daß Leo zu gut sei für's Bureau; das möge man den Bürgerlichen überlassen! In der Hofkarriere könne man es, dank seiner Verbindungen und seiner gesellschaftlichen Gaben, viel schneller zu etwas bringen. Und es dauerte auch wirklich kein Jahr, seit der neue Ehebund geschlossen war, da hatte Leo Wernberg das erste Hofamt inne, mit dem Titel Excellenz.

Lillys Lebensideal war also erfüllt. Sie hatte den Mann, den sie liebte, besaß Vermögen, ein schönes Haus, war Excellenz und genoß überdies noch den prickelnden 301 Triumph, der ihr diese Erfolge besonders süß machte, daß sie ihre Jugendfreundin Thekla in allem ausgestochen hatte.

 


 


 << zurück weiter >>