Wilhelm von Polenz
Thekla Lüdekind. Zweiter Band
Wilhelm von Polenz

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IV.

Sie hielt Wort, seiner Bitte zu gedenken. Und wenn sie ihr Versprechen vergessen hätte, Gerd würde sie daran erinnert haben.

337 Dem lebhaften Knaben hatte das Begräbnis und alles, was er dabei gesehen und erlebt, starken Eindruck gemacht. Er brachte davon allerhand neue Bekanntschaften und Beziehungen zurück. Seine Vettern, die Grafen Nieden, hatten ihn eingeladen, sie in Berlin zu besuchen. Mit seiner Cousine Molly Erf war verabredet worden, Briefe zu wechseln; ein Versprechen, dem von Gerds Seite mit Feuereifer nachgekommen wurde. Molly hatte dem kleinen Vetter eine Photographie von sich und ihrer Schwester zugeschickt, mit der er harmlosen Heiligenkultus trieb.

Am wichtigsten erschien dem Knaben begreiflicher Weise die väterliche Einladung. Der Vater war ihm während der Jahre, wo er ihn nicht gesehen hatte, doch mehr oder weniger zu einem vagen Begriffe geworden. Um so stärker hatte Wernberg jetzt in seiner ganzen Überlegenheit auf ihn gewirkt. Gerd, der in dem Alter stand, wo man auf Kleidung, Körpergröße, kurz, auf alle äußeren Auszeichnungen, viel Wert legt, fand, daß er mit seinem Erzeuger zufrieden sein könne. Ja, lächerlich, wie es klingen mag, er fühlte seinen Stolz gehoben, seitdem er wußte, mit welch feinem Herrn seine Mutter verheiratet gewesen sei. Immer rätselhafter kam es ihm vor, daß sie nicht mehr bei ihm lebte. In seiner Naivetät dachte er manchmal, die Eltern könnten doch vielleicht noch in irgend einer Weise wieder zusammenkommen. Tante Lilly, die er aus früher Kinderzeit in Erinnerung hatte, und die in seinen Vorstellungen die Rolle einer bösen Fee spielte, dachte er, könne entlarvt werden. Er komponierte sich die abenteuerlichsten Geschichten zusammen, in denen er die Rolle des Befreiers spielte.

Frau Thekla ahnte von den romantischen Plänen im Kopfe ihres Jungen nichts. Immer noch war sie sich nicht im Klaren, was sie thun solle, ob sie Gerd wirklich 338 erlauben dürfe, seinen Vater zu besuchen. Denn deutlich sah sie die Konsequenzen einer solchen Genehmigung vor Augen: es würde nicht bei diesem einen Besuche bleiben. Unwillkürlich würde sich Gerd mehr und mehr an den Vater anschließen; schon jetzt, nachdem der Junge ihn einmal gesehen, schwärmte er ja für ihn.

War das nicht eine vollständige Verkehrung dessen, was sie bisher gewollt und erstrebt hatte? Gab sie nicht dadurch schwer Erkämpftes leichtsinnig preis? War sie nicht drauf und dran, eine große Unklugheit zu begehen? –

Die Ansicht, daß sie einen unklugen Schritt vorhabe, vertrat auch ihr Freund Reppiner. Er hatte durch Gerd davon gehört, was in der Luft schwebe. Eines Abends, als der alte Junggeselle bei Frau Thekla zu Besuche war, kam er darauf zu sprechen. Nach seiner zuwartenden Art verklausulierte er seine wahre Meinung.

»Es wird jetzt viel darüber gesprochen und geschrieben,« ließ er sich vernehmen, »daß die Frauen das Recht der Vormundschaft unbeschränkt haben wollen. Auch Ihre emancipierten Freundinnen sind natürlich Feuer und Flamme dafür! Das Hauptargument, welches angeführt wird, ist: die Mutter stünde ihren Kindern sowieso näher als der Vater. Ich will das nicht bestreiten. Jeder Vernünftige muß den Frauen zugestehen, daß die Auferziehung kleiner Kinder dasjenige Gebiet ist, auf dem ihnen kein Mann Konkurrenz machen wird und kann. Aber zwischen Kinderwartung und tutela ist doch noch ein großer Unterschied! Ich komme immer auf meine alte Behauptung zurück: gerade die Haupttugenden des Weibes, Gemüt, Wärme des Gefühls, unmittelbares schnelles Empfinden bilden in der Welt der nüchternen Thatsachen einen Nachteil. Frauen als Juristen, ein Unding! Frauen als Vormünderinnen, ich bedaure die Mündel! Mit ihren leicht 339 beweglichen Herzen würden sie mehr Schaden stiften, als die Männer mit aller Herzenshärte, die ihnen vorgeworfen wird, jemals anrichten könnten. Gott sei Dank, daß wir unsere Vormundschaftsgerichte haben! Und alles Geschrei der Rechtlerinnen über mittelalterlichen Zwang und Tyrannei wird hoffentlich an den Ohren des Gesetzgebers verhallen.«

Frau Thekla widersprach ihm nicht, sie sah keine rechte Veranlassung, auf ein solches Gespräch einzugehen. Er verwechselte sie wohl mit Tessi Nieden oder mit einer anderen Vertreterin der Frauensache? –

»Wissen Sie, Frau Thekla,« begann er, da er eine Antwort nicht erhielt, an die er hätte anknüpfen können, »mir ist heute etwas passiert, was ich seit langen Jahren nicht erlebt habe! Ich habe mich tüchtig über Sie geärgert.«

»Über mich?« –

»Ja, Sie fallen in Fehler zurück, die ich längst überwunden glaubte; in die alte, unbedachte Gutmütigkeit, den Großmuts-Raptus, möchte ich's nennen. Sie rennen in eine große Gefahr hinein, weil Sie das Herz wieder mal nicht im Zügel haben.«

»Ich kann mir denken, Reppiner, was Sie meinen. Aber ich bin wahrhaftig nicht im stande, Ihnen zu erklären, weshalb ich es für heilsam, ja für notwendig halte, daß Gerd seinen Vater kennen lernt. Es giebt gewisse Sachen, die man nicht auseinandersetzen kann!«

»Natürlich giebt es die! – Daß ich ein Recht nicht habe, mich in diese Angelegenheit zu mischen, weiß ich. Aber ich dachte, ich hätte mir als alter Freund das Recht gewissermaßen ersessen, Sie vor sich selbst zu warnen, Frau Thekla! Bedenken Sie doch ja, was Sie vorhaben! Ist denn schon ganz und gar vergessen, mit welchen Opfern Sie sich Gerds Erziehung erkauft haben!«

»Das Recht werde ich auch niemals aufgeben.«

340 »Sie sind drauf und dran, es sich aus den Händen nehmen zu lassen. Wissen Sie denn nicht, mit wem Sie es zu thun haben? Ich gehöre doch gewiß nicht zu Herrn von Wernbergs Verehrern, aber daß er klug ist, muß ihm sein Feind lassen. Das sieht jetzt so harmlos aus: Besuch beim Vater! Was ist da weiter dabei? Und eins nach dem anderen wird sich daraus entwickeln! Sie werden Ihre Nachgiebigkeit bereuen; denken Sie an mich! Herr von Wernberg rechnet auf Ihre Arglosigkeit und Herzensgüte, die er nur zu gut kennt. Gewisse Leute spekulieren ja immer erfolgreich mit der anständigen Gesinnung anderer. Wenn er erst Gerd wieder in seiner Hand hat, wird er vielleicht abermals ein lukratives Geschäft versuchen mit Ihnen, da ihm das erste so glänzend geglückt ist.« –

»Hören Sie auf, Reppiner!« rief Thekla empört. »Sie sind häßlich! Schämen Sie sich!«

Reppiners Warnung hatte den Erfolg, daß Gerds Besuch bei dem Vater eine Weile hinausgeschoben wurde. Frau Thekla ging noch einmal ernstlich mit sich zu Rate.

Was Reppiner gesagt hatte, war wie alles, was er zu sagen pflegte, verständig; aber auch nur das! Es gab eben noch höhere Gesichtspunkte als Vorsicht allein.

Was war für Gerds Entwickelung das Richtige? Darauf allein kam es an! War es gut, das Kind dauernd von dem Vater fernzuhalten? Durfte diese unnatürliche Lücke in seiner Entwickelung bestehen bleiben, jetzt, wo er anfing, sie zu empfinden? –

Sie kam zu dem Ergebnis, daß Gerd, wenn er wirkliches Verlangen habe, den Vater zu besuchen, nicht daran gehindert werden dürfe. Sie wollte die Entscheidung in Gerds Hand legen. Er sollte ihr später mal nicht den Vorwurf machen, daß sie ihn aus mütterlichem Egoismus dem Vater entfremdet habe.

341 Sechs Wochen etwa, nachdem man die alte Frau von Wernberg in die Erde gesenkt hatte, kamen mehrere schwere Packete an, adressiert an Gerd, enthaltend eine Anzahl Bücher, Bilder und Wertgegenstände, welche, wie Gerds Vater in einem anliegenden Briefe schrieb, ihm von seiner Großmutter testamentarisch vermacht worden seien.

Gerd fühlte sich natürlich nicht wenig stolz in diesem Besitze. Die Bücher nahmen sich mit ihren schönen Einbänden prächtig aus auf seinem Bücherbrette; sie zu lesen ließ er sich Zeit. Die Verstorbene hatte ja nur die fromme Litteratur gelten lassen, während ihr Enkelsohn nach wie vor das abenteuerliche Genre bevorzugte.

In seinem Briefe fragte Herr von Wernberg an, wann Gerd ihn besuchen werde. Er schlug die Herbstferien, die vor der Thür standen, als passende Zeit vor. Gerd möge sein Rad mitbringen; er wolle mit ihm Touren unternehmen.

Nun war die Entscheidung da. Natürlich war Gerd Feuer und Flamme für die Reise, seit er diese Aussicht hatte.

Stürmisch umarmte er seine Mutter. »Mama, wann reisen wir?«

»Wir!« – erwiderte Frau Thekla, der die Thränen in den Augen standen. »Mein Kind, ich kann dich nicht begleiten. Du mußt die Reise allein machen!«

Gerd war darob verwundert. Er hatte es als ganz selbstverständlich angenommen, daß die Mutter mit ihm zum Vater fahren würde.

»Warum willst du denn nicht mit, Mama? Neulich habt ihr doch zusammen gesprochen! Ich dachte, ihr wäret wieder gut miteinander!«

Thekla konnte sich nicht enthalten, zu lächeln, trotzdem ihr sehr ernst zu Mute war. Die Unbefangenheit 342 stand dem Jungen so gut; aber es lag eine große Gefahr darin. Man mußte ihn aufklären, ehe er reiste; er sollte wissen, wie es zwischen ihr und seinem Vater stünde.

»Gerd!« begann sie, »daß ich neulich mit deinem Vater gesprochen habe, war eine große Ausnahme. Wir trauerten um seine gute Mutter; und der Schmerz führt die Menschen zusammen. Du wirst das später alles besser verstehen! Nur eines wollte ich dir sagen, weil du das wissen mußt: ich bin von deinem Vater geschieden durch Gerichtsspruch, für alle Zeiten. Und wir können nie wieder zusammenkommen.«

»Habt ihr euch denn nicht mehr gern?« fragte Gerd.

Was sollte man darauf erwidern? Es lag soviel Selbstverständlichkeit in der Frage aus Kindermund.

»Mein guter Junge!« sagte die Mutter nach einigem Zögern, »du weißt doch, daß dein Vater wieder geheiratet hat.«

»Tante Lilly! – Ich kann sie nicht ausstehen! Und ich werde mal mit meinem Vater sprechen, weshalb er das eigentlich gethan hat.«

»Gerd!« rief die Mutter, »das wirst du unterlassen! Dein Vater würde sehr böse auf dich werden, wenn du dich das unterstündest, und mit Recht! Kinder haben nicht zu urteilen über Erwachsene. Du wirst mir versprechen, gut zu sein! Wenn du mir Schande machtest, das würde mich furchtbar schmerzen. Versprichst du mir das, Gerd?«

»Soll ich auch zu Tante Lilly nett sein, Mama?«

»Bescheiden und höflich sollst du sein, ihr gegenüber, wie gegen jede andere Dame. Sie ist die Frau deines Vaters.«

»Aber ›Mutter‹ brauche ich sie nicht zu nennen – nicht wahr?«

343 »Niemand kann das von dir verlangen. Wie ich sie kenne, wird sie sich sehr wenig um dich kümmern; und das wird auch das Beste sein für alle Teile!«

Während der Tage, die noch bis zu den Ferien vergingen, hatte Gerd nicht viel anderes im Kopfe als die Vorbereitungen für seine Fahrt; war es doch die erste Reise, die er allein unternehmen durfte! Nur ein Kummer trübte vorübergehend seine Freude, nämlich, daß Herr Reppiner, dem er voll Begeisterung seine Pläne mitgeteilt hatte, durchaus kein Verständnis für das Unternehmen an den Tag legen wollte. Die Mutter war auch nicht gewillt, den Jungen aufzuklären, warum dieser Freund auf einmal so kühl geworden war.

Von Frau Thekla auf den Bahnhof geleitet, reiste Gerd. Er spielte sich auf den erfahrenen Reisenden; kaufte sich selbst sein Billet, gab sein Rad auf und wollte nicht viel von den mütterlichen Ratschlägen wissen.

Für Thekla Lüdekind kamen Tage voll banger Zweifel.

Reppiner zeigte ihr dadurch, daß er nicht mehr kam, was er von ihrem Verhalten denke. Arthur machte ihr erst recht das Herz schwer; er behauptete: diese Reise Gerds zu seinem Vater sei ein geradezu unverantwortlicher Streich. Hedwig ließ den Kopf hängen, weil der junge Herr – so nannte sie Gerd neuerdings – verreist war. Schwarzseherisch, wie die Jungfer nun mal veranlagt, prophezeite sie: das werde nicht zum Guten ausschlagen. Sie hatte ihren Traum gehabt – Thekla wußte, was der Inhalt war besagten Traumes – wenn es in der Familie ihrer gnädigen Frau ein Unglück gegeben hatte, dann war Hedwig stets durch die nächtliche Erscheinung ihres verflossenen Bräutigams, des Postgehilfen, gewarnt worden.

Die einzige, die sich mit Theklas Handlungsweise einverstanden erklärte, war die Gräfin Nieden. Tessi liebte 344 es ja, ihr Geschick mit dem der Schwägerin zu vergleichen und dabei Ähnlichkeiten herauszufinden.

Mit ihren Söhnen hatte sich die Gräfin ausgesöhnt; es schien nicht ausgeschlossen, daß sie durch diese neueste Wendung dem Grafen, ihrem ehemaligen Gatten, wieder näher treten würde. Bereits wurde von einer Zusammenkunft in Berlin gesprochen. Tessi war neuerdings dafür eingenommen, daß man »die alten Beziehungen in veränderter Form« weiterpflege und riet Thekla, ein Gleiches zu thun.

Tessi Nieden war an einem Wendepunkte angelangt. Ihre Mutter hatte mehr Geld hinterlassen, als erwartet worden, und Tessi war die Haupterbin. Marie Kalkmeyers Name hatte in dem Testament der Excellenz überhaupt keine Erwähnung gefunden. Alle Befürchtungen nach dieser Richtung hin waren also umsonst gewesen.

Die äußere Lage der Gräfin hatte sich dadurch wesentlich gebessert. Ihrem Manne gegenüber, dessen Unterstützung sie nunmehr entbehren konnte, besaß sie fortan die ersehnte Unabhängigkeit.

Das übte einen günstigen Einfluß aus auf ihr ganzes Wesen. Ihre Stimmung gegen die Menschen im allgemeinen und gegen die Männer im besonderen war versöhnlicher geworden. Auch in der Diskussion über Frauenrecht schlug sie sanftere Töne an, rückte allmählich von der extremen Linken der Rechtlerinnen hinüber nach der gemäßigten Rechten.

Tessi sah in Gerds Reise zu Leo eine vielverheißende Anknüpfung. Er werde als Taube mit dem Ölblatt zurückkehren, prophezeite sie.

Es bedeutete eine große Beruhigung für Thekla, als sie von Gerd folgenden Brief erhielt:

»Liebste Mama! Ich bin glücklich hier angekommen und befinde mich sehr wohl. Gleich am ersten Nachmittag 345 ging mein Vater mit mir in einen Laden und kaufte mir eine feine Mütze, die er mir schenkte, zum Radfahren. Er bezahlt alles für mich und ist überhaupt sehr freundlich.

»Es wird hier sehr viel später gegessen als bei uns. Sie haben einen Diener, der einen Rock mit Knöpfen trägt, darauf ist das Wernbergsche Wappen. Mein Vater hat mir einen Siegelring geschenkt, den er als Junge gehabt hat, der paßt mir wie neu. Ist das nicht nett vom Vater?

»Gestern abend war ein Fürst hier. Denke mal, sie nennen ihn Nicky! Er ist sehr befreundet mit dem Vater. Ich glaube er kennt Dich auch, denn er sagte, als er mich sah, daß ich meiner Mutter wie aus dem Gesichte geschnitten wäre. Es gab Champagner. Ich dachte erst, es müsse Geburtstag sein; aber es war nur, weil der Fürst zu Tisch da war. Sie sprachen fast die ganze Zeit Französisch. Ich war sehr froh, daß ich es mit Dir geübt habe, sonst hätte ich nichts davon verstanden. Der Vater lobte meine Aussprache. Der Fürst ist ein sehr lustiger Herr. Nach Tisch wurde geraucht, auch Tante Lilly rauchte. Der Fürst bot mir eine Cigarette an, aber der Vater erlaubte es nicht; er sagte, daß er die Verantwortung hätte für mich.

»Tante Lilly hat mir gleich am ersten Tage gesagt, daß ich sie nicht Tante nennen dürfe, ich soll ›gnädige Frau‹ sagen zu ihr. Ich sage es aber nicht; spreche überhaupt nur mit ihr, wenn ich gefragt werde. Ich finde sie nicht nett, sie sieht auch gar nicht hübsch aus.

»Ist das nicht ein langer Brief? Nächstens schreibe ich mehr! Ich soll Dir auch vielen Dank vom Vater ausrichten, daß Du erlaubt hast, daß ich hierher kommen durfte.

In treuer Liebe Dein Sohn

Gerd.«

* * *

346 Frau Lilly war nichts weniger als erbaut darüber, daß ihr Leo seinen Sohn in's Haus gebracht hatte. Das war gegen alle Verabredung! Kinder waren ihr überhaupt unsympathisch und nun gar der Junge dieser Frau! –

Als Leo um sie warb, hatte sie ihm ganz offen erklärt: sie wolle keinen Mann mit Anhang; von Gerd müsse er sich trennen, wenn sie die Seine werden solle. So hatte ihre Bedingung gelautet. Es war Leo nicht leicht geworden, von seinem Kinde zu lassen; aber was thäte ein Mann nicht der Frau zuliebe, die er begehrt.

Lilly war entrüstet, fühlte sich hintergangen gewissermaßen, als er ihr den Jungen nun doch wieder durch eine Hinterthür einschmuggeln wollte.

Ihr Verdruß mehrte sich, als sie sah, wie sich Gerd im Sturme das Herz des Vaters eroberte. Während der acht Tage, die er da war, hatte Leo kaum ein anderes Interesse. Gerd und immer wieder Gerd! Lilly fand das äußerst langweilig.

Wenn Gerd ein junges, schönes Mädchen gewesen wäre, in das sich ihr Mann verliebt hätte, Lilly würde nicht eifersüchtiger haben sein können, als sie es auf den Knaben war. Mit diesem blonden Kinderkopfe zog ja Thekla wieder ein in die Räume, aus denen Lilly sie glücklich verdrängt hatte. Jeder stolze Blick des Vaters, jedes freundliche, an Gerd gerichtete Wort bedeutete einen Triumph Theklas, der Lilly vor Ingrimm kochen machte.

Lillys Verhalten war scheinbar ohne Sinn und Verstand. Um was denn hätte sie ihre Jugendgefährtin und ehemalige Freundin, Thekla Lüdekind, jetzt noch beneiden können? Sie, Lilly Ziegrist, war doch nun Frau von Wernberg, sogar Theklas Haus hatte sie inne; und trotzdem haßte sie niemanden tödlicher als Leos erste Frau.

347 Thekla Lüdekind blieb die unsichtbare Nebenbuhlerin für Lilly. Wie ein Gespenst verfolgte sie die Besorgnis, daß Leo noch an sie denken könne, lag ihm gegenüber auf der Lauer mit dem Verdachte, daß er Vergleiche anstelle.

Sie hatte versucht, alle Spuren von Thekla auszulöschen, den Zimmern ein verändertes Aussehen gegeben, die Lebensweise umgestaltet. Das war ihr äußerlich auch so ziemlich geglückt. Das Tagesleben, der Verkehr, alles trug eine neue Physiognomie, das Haus zeigte ganz unverkennbar Lillys Stempel. Sie herrschte in ihrer Häuslichkeit viel ausgesprochener, als es Thekla jemals gethan oder auch nur angestrebt hatte.

Und trotzdem war Lilly nicht mit dem Erfolge zufrieden. Es blieb noch immer genug übrig, was Thekla vor ihr voraus hatte. Eines vor allem: Thekla besaß einen Sohn und sie, Lilly, blieb kinderlos.

Kinder waren ihr unsympathisch; jawohl! Sie fürchtete sich vor Schmerz und Bürde der Mutterschaft. Und doch neidete sie Thekla nichts glühender als den Sohn, den lebendigen Beweis von Leos Liebe. Immerdar würde diese Thatsache bestehen, als ein unauslöschlicher Hohn auf ihre Unfruchtbarkeit.

Und wenn noch Gerd ein häßliches, kränkliches an Geist und Körper zurückgebliebenes Kind gewesen wäre! – Aber Lilly sah es ja an den Blicken selbst ganz fremder Leute, welche Bewunderung er erregte.

Einen Keil treiben zwischen Vater und Sohn, Leos Neigung für Gerd abschwächen, Mißverständnis säen zwischen ihn und sein Kind, so lautete das Endresultat aller ihrer Überlegungen. Aber, wie das bewerkstelligen? Gerd hatte ihr noch nicht die geringste Handhabe gegeben bisher, den Vater gegen ihn aufzubringen. Die Fallen, 348 die sie versucht hatte, ihm zu stellen, waren an der Harmlosigkeit des Kindes zu Schanden geworden.

Eines Abends, als Gerd eben zu Bett gegangen war, fragte Frau Lilly ihren Mann: »Wie lange soll der Bengel eigentlich noch hier bleiben?«

Leo Wernberg blickte von seiner Zeitung auf. »Bis zum Schlusse der Ferien, das ist bis Ende dieser Woche. – Weshalb?«

»Nur um's zu wissen! Ich würde ihm nicht nachweinen.«

Leo empfand nicht die geringste Lust, sich mit seiner Frau in eine tiefere Auseinandersetzung über dieses Thema einzulassen. Er versank hinter seiner Zeitung in Schweigen.

»Laß mir mal ein Stück ab, Leo!«

Er reichte ihr den Courszettel, wohl wissend, daß sie der am meisten interessierte von allem.

Lilly hatte sich in den letzten Jahren ziemlich verändert. Nicht, daß sie ungewöhnlich schnell gealtert wäre; es lag mehr daran, daß sie sich zu vernachlässigen begann in Haltung und Toilette. Lilly, die als Mädchen soviel Kunst verwendet hatte und Studium auf ihre Erscheinung, ließ sich als Frau gehen. Wozu denn auch? Vormachen konnte man ihm doch nichts mehr! Er kannte sie vom Scheitel bis zur Sohle. Zudem: Toilettemachen kostete Geld; und jeder Thaler reute Lilly, mit dem sie nicht spekulieren konnte.

Nachdem sie mit Befriedigung aus dem letzten Börsenbericht festgestellt hatte, daß von ihren Papieren keines gefallen, eines sogar nicht unwesentlich gestiegen war, gab sie ihrem Gatten das Blatt zurück.

»Geh doch zu Bett, Lilly!« sagte er und gähnte. »Oder lege deine Patience.«

Lilly dachte weder an das eine, noch an das andere. 349 Sie wollte heute etwas ganz Bestimmtes herausbekommen aus ihm. Trug er sich etwa mit der Absicht, Gerd für die nächsten Ferien wieder einzuladen? Eine zufällige Bemerkung, die Leo bei Tisch hatte fallen lassen: »das können wir uns für ein andermal aufsparen, mein Sohn!« brachte sie auf diese Vermutung.

»Gerd schreibt ziemlich viel Briefe. Ist dir das nicht aufgefallen?« sagte sie.

»An seine Mutter jedenfalls! Ich finde das sehr begreiflich.«

»Ich wette, sie hat ihn angestellt dazu. Er soll spionieren, wie's bei uns zugeht und ihr dann haarklein berichten.«

»Sähe Thekla sehr ähnlich! Es war eine große Freundlichkeit von ihr, daß sie mir den Jungen hergegeben hat.«

»O ja!« rief Lilly höhnisch. »Sage doch lieber gleich, daß Thekla ein Engel ist! Und ihre Range . . . . .« –

»Lilly, willst du von meinem Sohne nicht in freundlicherem Tone sprechen!«

»Für mich ist er Theklas Range!«

»Was thut dir das Kind zu leide?«

»Nichts! Er reizt mich bloß!«

»Du kannst nicht über Gerd klagen. Er hat sich nicht unbescheiden aufgeführt.«

»Das fehlte noch! Würde ich ihm gesteckt haben!«

»Und im Hause stört er doch auch nicht.«

»Dich nicht!«

»Es ist mir eine große Befriedigung, das Kind hier zu haben. Schade, daß die Zeit schon um ist!«

»Soll das etwa heißen, daß er fortan öfters kommen soll?« fragte sie lauernd.

Leo umging die Antwort. Er war gewarnt von früheren Gelegenheiten her, kannte die Dämonen, die hinter 350 ihren kalten Augen schliefen. Streit mit Lilly wollte er sich nicht heraufbeschwören; einmal sich im Ernste mit ihr gestritten zu haben, genügte, um die Wiederholung zu scheuen.

»Du bildest dir ein, daß ich in den Jungen vernarrt bin!« sagte er: »Das ist nicht der Fall! Ein blinder Vater zu sein, dazu habe ich ebenso wenig Anlage, wie zum verblendeten Ehemann. Er ist ein Verjüngungsmittel, weiter nichts. So ist man doch auch mal gewesen, so voll Illusionen. Die Jugend, die goldene Jugend, wen kaptivierte sie nicht! Man wird um dreißig Jahre jünger bei solchem Verkehr!«

»Kindischer scheinst du mir in der That bereits geworden!«

»So ein Junge! Diese Ambition! Die ganze Welt, denkt er, gehört ihm! Gestern hat er mir seine Zukunftspläne entwickelt. Zu rührend so was!«

»Und du willst nicht vernarrt sein!«

»Gönne mir doch den Spaß! – Auf den Kopf gefallen ist er übrigens nicht; er faßt schnell. Und Ehrgefühl hat der kleine Kerl! Ein ganzer Gentleman bereits! Wir verstehen uns ausgezeichnet.«

»Weißt du, daß dir der Junge schmeichelt! Das ist das ganze Geheimnis! Überhaupt halte ich ihn für einen Heuchler comme il faut! Thut so, als könne er kein Wässerchen trüben, und dabei hat er's faustdicke hinter den Ohren. Man muß nur die Mutter gekannt haben. Gerd ist Thekla vorn und hinten!«

»Du bist unzurechnungsfähig, wenn du auf dieses Thema kommst, Lilly!« rief er unmutig.

»Thekla – nicht wahr, daran darf man beileibe nicht rühren! Hättest sie ja behalten können, dieses in Gold gefaßte Juwel! Bin ich vielleicht schuld daran, daß sie dir weggelaufen ist – he?« –

Er versenkte sich von neuem in die Zeitung, that als 351 höre er nichts. Sie ließ den Blick nicht von ihm. Leo fühlte, daß sie ihn beobachte, es quälte ihn; er hätte aufspringen mögen und ihr in's Gesicht schreien: sie solle ihn in Ruhe lassen. Lilly wußte, daß er Pein leide unter ihrem Blicke; ihr bereitete das prickelndes Vergnügen.

»Nun du bist mir, bei Gott, ein liebenswürdiger Gesellschafter, das muß ich sagen!« rief sie nach einiger Zeit, lachte, dehnte sich und stand auf. »Und so ein Mensch hat Eroberungen gemacht! – – Nimm dich nur in Acht, daß ich dir nicht auch davonlaufe, aus Langerweile! Thekla ist gar nicht so dumm gewesen! – Gute Nacht!«

Sie gab ihm einen Klaps auf den Kopf, und ging in ihr Schlafzimmer.

Leo ließ die Zeitung sinken, sobald sie hinaus war. Lange starrte er ihr nach; aber seine Gedanken waren ihr nicht gefolgt. Sie weilten dort, wo sie in den letzten Tagen unausgesetzt gewesen: bei Thekla.

War es die Anwesenheit Gerds im Hause, die ihm das Vergangene so vor's Gedächtnis zauberte? Überall, wo er ging und stand, war sie. Aus den großen Augen seines Jungen blickte sie ihn an, in jeder Miene, jeder Geste des Kindes fand er Thekla wieder, wie sie leibte und lebte. Das ganze Haus war erfüllt von ihr. Er vermeinte sie dort am Fenster, an ihrem Lieblingsplatze, sitzen zu sehen. Des Nachts wachte er auf von einer sanften Stimme, die in seinem Ohre nachklang; Thekla war bei ihm gewesen. Seine Sinne hatten ihre Nähe verspürt, noch lange glaubte er den zarten Druck ihrer Umarmung zu empfinden. Auch jetzt wieder griff die Erinnerung wie mit Händen nach ihm; eine Heimsuchung wehmütig schön und grauenvoll zugleich.

Wir haben die Gespensterfurcht aus unserem Glauben verbannt, aber in uns selbst existieren noch genug Tiefen, 352 wo es am hellen lichten Tage umgeht. Die Geister unserer Thaten sind es, die uns begleiten auf Schritt und Tritt, als unsichtbares Gefolge. Je länger wir schreiten, desto länger wird ihr Zug. Wir bemerken die stummen Gäste nicht immer; nur manchmal tritt eine von den bedeutungsvollen Gestalten vor, verneigt sich und sagt uns etwas in's Ohr. Wohl uns, wenn sie nur freundliche Worte zu sagen haben! –

Leo Wernberg neigte nicht zur Empfindsamkeit; was davon in ihm gewesen war, von Natur, hatte er mit Bewußtsein über Bord geworfen, als einen Ballast, der den Kurs zum Erfolg unnütz verzögert. Seit den letzten acht Tagen aber war er rückfällig geworden in eine weichere Stimmung. Gerds unschuldiges Gesicht war's, das ihm einen Hauch der Erinnerung zurückbrachte aus der Kinderzeit.

Kinder üben, ohne es zu wissen, an den Erwachsenen das Amt der Erziehung; mehr noch: sie sind unsere stummen Richter! In ihren klaren Augen ist der Spiegel, der uns ohne Beschönigung vorhält, was wir sind und nicht sind. Sie zeigen uns, wie wir einstmals waren, da wir keusch und unverdorben vom Mutterleibe kamen, zeigen uns, was wir aus der göttlich schönen Anlage gestaltet haben. Ihre Fragen, so ungeschickt und lächerlich sie oft herauskommen, treffen den Dingen in den Kern, ihr Urteil ist unbestechlich, es durchschaut des Menschen Art mit naiver Genialität. Das verhärtetste Gemüt beugt sich, thut sich den Gefühlen der Zärtlichkeit, des Mitleids, der Reue auf, wenn es von dem Zauberstabe unentweihter Jugend berührt wird.

Leo erhob sich. Mit dem Zeitungslesen wurde es heut abend doch nichts mehr. Zum Ausgehen, um irgend welche Zerstreuung zu suchen, war es längst zu spät.

Er begab sich zu seinem Schreibtisch, an dem er sich niederließ. Ein paar Geschäftssachen waren schnell erledigt.

353 Dann öffnete er eine Thür des umfangreichen Schreibpultes, zog ein Fach heraus und begann darin zu kramen. Hefte, Mappen, Kästen brachte er zum Vorschein; aber keins von ihnen enthielt das, was er suchte.

Endlich hatte er's gefunden, in einem Umschlage: eine Kabinett-Photographie. Alles räumte er wieder an seinen Platz, behielt nur die Photographie draußen!

Es war Thekla mit Gerd auf dem Arme.

Sämtliche Bildnisse von ihr waren sonst beseitigt – dafür hatte Lilly gesorgt – von diesem hier sich zu trennen, war er nicht fähig gewesen. Lilly freilich durfte davon nichts wissen; in der hintersten Ecke seines Geheimfaches mußte er das Bildchen vor ihren Augen verbergen.

Die Photographie gab Thekla wieder in der ersten Zeit ihrer Mutterschaft. Es war ein gutes Bild. Dem Photographen war es nicht geglückt, den Ausdruck schlichter Natürlichkeit zu verderben durch erkünstelte Pose.

Leo stellte die Photographie vor sich auf die Schreibtischplatte und versenkte sich in ihren Anblick.

Seine Frau! Wie er dieses beglückte Lächeln an ihr kannte, diesen Blick, aus dem es wie eine innere Sonne strahlte! Wie heimlich, wie traulich ihm die Gestalt war! Für ihn hatte dieses kleine Bild da Bewegung, Atem, Wärme; für ihn duftete es Leben.

Frauenliebe hatte in Leos Dasein keine geringe Rolle gespielt. Seine Liebesabenteuer gehörten zu den geheimen Schätzen, die er am liebsten aufsuchte, um sich an ihnen zu weiden. In der Eroberung des Weibes hatte er, dem im Leben manches geglückt war, den Triumph gefeiert, der ihm der wertvollste erschien, in dessen süßer Erinnerung er sich oftmals erging.

Aber wenn er alles zusammentrug, was er an Liebe genossen hatte, und legte auf die andere Seite der Wage 354 das, was ihm Thekla gegeben, so schnellte jener bunte Haufen abenteuerlicher Erfolge federleicht empor, und ruhig stand die Schale mit dem einen Herzen darin, das sein eigen gewesen war.

Und das hatte er von sich geworfen, um was dafür einzutauschen? – – –

Von allen Seiten rückten die dunklen Gewässer der Reue heran, stiegen und stiegen. Seine Brust krampfte sich zusammen unter ihrem Drucke, sein Mund schmeckte ihre Bitterkeit.

Bis er sich neigte von der Höhe seines Stolzes, bis seine Thränen beichteten, daß er sich schuldig bekenne, bis er vor seiner Frau das lindernde Wort sprach: »Verzeih!«

 


 


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