Wilhelm von Polenz
Thekla Lüdekind. Zweiter Band
Wilhelm von Polenz

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VII.

Frau Thekla befand sich in den nächsten Tagen in einem Zustande der Mutlosigkeit, wie man ihn noch nicht an ihr erlebt hatte. Sie ging nicht aus ihrem Schlafzimmer heraus, nahm sogar die Mahlzeiten dort ein. Hedwig allein bekam ihren fassungslosen Schmerz zu sehen. Leo kam ihr nicht zu nahe, ließ sich nur hin und wieder nach ihrem Befinden erkundigen.

Dafür erschien Doktor Rink täglich. Der Mensch war durch nichts zu vertreiben; er verschanzte sich dahinter, daß sie krank sei, und daß es daher seine Pflicht wäre, bei ihr auszuhalten. »Wir Ärzte gewöhnen uns an alles!« sagte er lächelnd, »selbst an schlechte Behandlung.« Sein Lieblingswort war jetzt: »Gemütsdepression.«

Rinks häufiges Kommen hatte schließlich doch eine heilsame Wirkung: es stachelte Thekla zur Opposition auf.

Gemütskrank sollte sie sein! Sie sah ordentlich Doktor Rinks wichtig schlaue Miene, wie er ihrem Manne das schonend mitteilte, hörte die Ausdrücke verständnisinnigen Bedauerns, welche die beiden wechseln würden. Nein, sie wollte nicht bedauert sein! Dieser Doktor war eine Kreatur ihres Mannes. Beobachtet sollte sie werden, beeinflußt, eingelullt! –

Sie wollte gesund werden; man konnte das, wenn man sich's fest vornahm. Die Notwendigkeit war der beste Arzt. Frau Thekla hatte einen Plan.

Leo mochte sagen, was er wollte, der Junge war ihr! Sie hatte ihn unter dem Herzen getragen, sie hatte ihn mit Schmerzen geboren, sie hatte ihn genährt und von frühester Kindheit an gehütet. Was hatte er für das Kind gethan? Es manchmal geliebkost, sich belustigt über seine Possierlichkeit, wenn ihm der Sinn danach stand, zu anderen 215 Zeiten es links liegen lassen, je nach Laune. Und jetzt wollte er seine Vaterschaft geltend machen, behaupten, der Junge gehöre ihm zu; nicht aus Liebe, nur aus Rechthaberei, und weil er wußte, daß er mit dem Kinde das Herz der Mutter in der Hand halte.

Sie war entschlossen, sich ihr Kind zu erkämpfen. Wenn der Vater sich auf das geschriebene Recht der Gesetzbücher stützte, würde sie das lebendige Recht des Mutterherzens geltend machen. Bis zum Äußersten wollte sie gehen, wenn es nicht anders ging, krumme Wege einschlagen, fliehen, den Jungen entführen, ihn vor dem Vater verbergen! – Gegen die brutale Macht, gegen Vergewaltigung, half schließlich nur List. Sie war in ihrer Verzweiflung zu allem bereit.

Aber dazu mußte man gesund sein. Sie nahm an sich selbst eine Kur vor, zwang sich zum Essen und Schlafen; bei schönem Wetter ging sie in den Garten.

Doktor Rink schrieb die Fortschritte, welche ihr Befinden machte, seiner Behandlung zu. Sie ließ ihn bei dem Glauben. Eines Tages gestattete er, sie dürfe nun wieder mit ihrem Herrn Gemahl zusammen essen.

Leo war von ausgesuchtester Höflichkeit gegen seine Frau, als sie sich zum ersten Male nach ihrer letzten Auseinandersetzung wieder von Angesicht zu Angesicht sahen. Er traute dem Frieden nicht, wußte nicht genau, wie sie eigentlich zu einander ständen, und maskierte das durch Zuvorkommenheit.

Nach Tisch, als Thekla sich eben anschickte, in ihr Schlafzimmer zurückzukehren – sie fühlte, daß sie an der Grenze angelangt sei dessen, was sie ertragen könne – bat er sie, noch einen Augenblick zu warten; er habe ein paar Zeilen an sie von seiner Mutter. Er holte das Schreiben herzu; die Mutter habe es einem Briefe an ihn beigelegt. 216 Ich wollte alles vermeiden, was dich erregen konnte. Und da ich nicht weiß, was meine Mutter an dich schreibt, hielt ich es für besser, den Brief vorläufig zurückzubehalten. Ich hoffe, du machst mir keinen Vorwurf daraus, Thekla; es war Rücksicht auf deinen Zustand!«

›O, wie zartfühlend!‹ dachte sie, sagte »gute Nacht!« und ging mit dem Briefe auf ihr Zimmer.

Ihre Schwiegermutter schrieb:

»Meine liebe Thekla! Durch Leo höre ich, daß dein Befinden kein gutes ist. Ich bedauere das lebhaft für euch beide. Befolge nur die Ratschläge des Arztes recht genau, denn eine Mutter muß sich den Ihren gesund erhalten. Mit Gottes Hilfe wirst du – darum bete ich mit euch – bald wieder hergestellt sein.

Gleichfalls mit tiefem Bedauern erfahre ich, daß zwischen euch Meinungsverschiedenheiten bestehen; und wie ich aus dem Ernste von Leos Schreiben entnehme, sind diese keineswegs leichter Natur. Leo ist sehr niedergeschlagen infolge einer Auseinandersetzung, die er neulich mit dir gehabt hat.

Ich kann dir kaum sagen, liebe Thekla, wie peinlich mich diese Nachricht berührt hat! Ich weiß, daß Leo sonst nicht leicht etwas über seine Familienangelegenheiten äußert; und das ist nur recht von ihm. Auch mir liegt es sehr fern, mich in eure intimen Beziehungen zu mischen, aber ich fürchte, Leo verschweigt mir das Schlimmste; zwischen seinen Zeilen war manches zu lesen.

Sollte ich aber recht haben mit meinen Befürchtungen, ist es wirklich zwischen euch zu einem Bruche gekommen, oder droht ein solcher, so ist es meine Pflicht, dir, Thekla, ein Wort der Warnung zuzurufen. Nicht als Schwiegermutter spreche ich, sondern als Frau zur Frau. Das eheliche Band zu lösen, ist unter allen Umständen ein Frevel; denn: ›was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht 217 scheiden!‹ Es ist auch kein Segen dabei, für keinen Teil! Ich sehe das recht deutlich an Tessi. Glücklich kannst du nie wieder werden, wenn du das von dir wirfst, was ein Höherer dir als köstlichste Bürde für's Leben auferlegt hat. Junge Frauen begehen sehr leicht den Irrtum, daß sie sich einbilden, die Ehe sei dazu geschaffen, darin Befriedigung zu finden. Das ist ganz thöricht und jugendlich hoffährtig gedacht! Wenn man älter wird, lernt man erst erkennen, daß uns der liebe Gott nicht in die Welt gesetzt hat, damit wir glücklich seien, sondern, damit wir unsere Pflicht thun. Und die Pflicht des Weibes, wenn ihr Gott Mann und Kind geschenkt hat, ist, bei diesen auszuharren, unter allen Umständen! Der Platz der Frau ist an der Seite ihres Mannes; den Posten hat sie zu halten, bis Gott sie abruft. Ein schlechtes Weib, das ihn vorzeitig verläßt! Hast du dir deinen Mann etwa nicht selbst erwählt? Du wußtest doch, was du thatest, als du zum Altar gingst, denn du warst damals kein Kind mehr! – In neunundneunzig von hundert Fällen ist die Frau der schuldige Teil. Ich meine nicht in jenem äußerlichen Sinne, wonach der Richter fragt; in einem tieferen Sinne ist die Schuld bei ihr zu suchen, indem es von Natur geordnet ist, daß die Frau die Treue wahren soll. Wenn der Mann die Treue bricht, so ist das schlimm, aber von Seiten der Frau ist es widernatürlich! Was soll werden, wenn wir Frauen nicht aushalten? –

Ich will nicht untersuchen, wo in eurem Falle die Schuld liegt; ich halte mich an dich, Thekla! Du hast das heilige Feuer zu wahren, das auf eurem Herde brennen soll. Wenn es ausgeht, so bist du die Pflichtvergessene gewesen. Vor Gott und Menschen stehst du gerichtet da. Überlege dir genau, was du thun willst! Die Reue, die einer übereilten That folgt, ist lang und bitter.

218 Ich schreibe das wahrlich nicht in Leos Sinne, ich schreibe es für dich; wahrhaft schmerzlich wäre es mir, zu erleben, daß du dein Leben ruiniertest. Denn darüber gieb dich nur keinen Illusionen hin: Zufriedenheit und Ruhe kannst du nimmermehr finden, oder gar den Frieden mit Gott, wenn du solches Unrecht an Mann und Kind begehen willst.

Gebe Gott, daß dir meine Zeilen zu Herzen gehen! Möge er dich erleuchten; ich lege alles in seine Hände.

Deine dir wohlgesinnte Mutter und Freundin

Irmgard.«

* * *

Der Brief machte Eindruck auf Thekla. Zwar, daß sie im Unrecht sei und Leo im Recht, davon hatte sie auch das Schreiben ihrer Schwiegermutter nicht überzeugen können. Die alte Dame wußte ja nicht, was vorgefallen war, wie alles sich gesteigert hatte bis zu diesem Punkte; und selbst wenn sie es gewußt hätte, würde sie zu ihrem Sohne gestanden, ihm den Rücken gesteift haben.

Aber das, was sie von der »Treue« gesagt hatte, traf Theklas Gewissen. Man hätte der Excellenz ja entgegenhalten können: dein Sohn kennt die Treue selbst nicht, die er fordert, er verlangt Hingebung und Selbstverleugnung und ist die Rücksichtslosigkeit in Person. Und trotzdem, diese Gründe wären nicht stichhaltig gewesen!

Es gab eine Treue im höchsten Sinne, die allein der Frau zu bewähren gegeben ist. ›Was soll werden, wenn wir Frauen nicht aushalten?‹ Es war ergreifend, das von der Hand einer Frau geschrieben zu lesen, deren 219 ausgesprochenste Eigenschaft Stolz war. Was für Erfahrungen mochten hinter einem solchen Satze liegen? Mit siebzig Jahren zog sie gewissermaßen das Fazit für ihr ganzes Geschlecht, und das lautete: wir müssen uns bescheiden; müssen das uns gefallene Los tragen bis zum Ende.

Und sicherlich hatte die alte Dame auch darin recht, wenn sie sagte: glücklich könne Thekla nie wieder werden, wenn sie ihren Mann verlasse. Ebenso fest stand freilich auch, daß sie es nimmermehr sein könne, wenn sie bei ihm ausharrte. Aber vielleicht kam es wirklich im Leben mehr darauf an, seine Pflicht zu thun, als glücklich zu sein.

O, es war schwer, das Augenmaß zu finden, in welchem diese Dinge betrachtet sein wollten!

Kummer und Schmerz hätte sie gern auf sich genommen, aber warum sollte Weibsein durchaus bedeuten: Unrecht dulden? –

Wenn man, wie sie, eine Reihe von Jahren mit einem Manne zusammengelebt hatte, dann war man nicht allein durch Gesetz und Sitte verbunden mit ihm, man war in einander verwachsen durch tausenderlei Gewohnheiten und Beziehungen; ein Geflecht, das kaum noch entwirrbar schien. Es war etwas zwischen ihnen entstanden, das einen Namen nicht besaß: etwas Gemeinsames, zu dem jedes einen Teil seines Selbst hingegeben hatte, ein Einverständnis trotz aller Verschiedenheit des Empfindens. In Sprechweise, Manieren, Mienenspiel, Liebhabereien war das übergegangen. Er hatte ihr etwas eingeimpft von seinem Wesen. Es waren ja seine Kinder gewesen, die sie unter dem Herzen getragen hatte; und wenn die Zeit vieles auszulöschen vermochte, der Eindruck davon blieb, den trug man mit zu Grabe. Er war es, der in ihr das Weib befreit, das Mädchen zur Mutter gemacht hatte. Das, was er ihr gewesen, konnte nie und nimmer von ihr genommen werden. 220 Er blieb in alle Ewigkeit der Mann, dem allein sie sich hingegeben hatte; ein Band der Vertraulichkeit, wie es kein zweites gab, bestand von ihm zu ihr. So liebte man nur einen. Wird solche Liebe verraten, dann kann keine Macht der Welt das wieder jung und grün machen, was verdorrt ist.

Frau Thekla würde, wenn es sich nur um eine Antwort auf den Brief ihrer Schwiegermutter gehandelt hätte, schon ein Wort gewußt haben, was sie ihren »Pflichten der Frau« entgegensetzen wollte. Es gab auch eine Ehre der Frau.

Aber sie wußte zu genau, daß Leos Mutter das nicht verstehen konnte, und wenn sie es verstünde, daß sie es nicht zugeben würde. So unterließ sie es denn, überhaupt zu antworten.

Leo Wernberg war zufrieden mit der Wirkung, die der Brief seiner Mutter auf Thekla hervorgebracht hatte. Er fand, daß er doch ganz geschickt operiert habe, indem er der alten Dame seine Beschwerde vortrug. Sie war ganz die Person dazu, soetwas in's Gleichgewicht zu bringen. Was sie an Thekla geschrieben habe, wollte er gar nicht wissen, da er den guten Erfolg sah. Man konnte mit Thekla nun wieder wie mit einer vernünftigen Frau verkehren; ihre Reizbarkeit war verschwunden, das Gewitter schien im Abziehen begriffen.

Übrigens hatten auch auf Leo die Erlebnisse der letzten Wochen Eindruck gemacht, tieferen sogar, als er es sich selbst eingestehen wollte. Das Wort »Scheidung« in Theklas Munde hatte ihm einen Schrecken in die Glieder gejagt, den er nicht so leicht verwinden konnte. Vieles, was sie gesagt hatte, mußte man ihrer Erregung zu gute halten, aber es war auch ein Unterton darin gewesen, dessen Ernst bedenklich machen mußte. Das war diesmal nicht bloße 221 Laune gewesen, »Hysterie«; ihre Verstimmung hatte viel länger gedauert, als sonst. Und um sie zu beschwichtigen, hatte er zu dem außerordentlichen Mittel greifen müssen, seine Mutter zu Hilfe zu rufen. Sah das nicht fast danach aus, als sei er nicht Herr im eigenen Hause, als könne er allein nicht fertig werden mit seiner Frau? –

Solche Szenen durfte man sich nicht wieder heraufbeschwören. Für's nächste galt es, Thekla beruhigen, was etwa an Groll noch in ihr zurückgeblieben war, vollends besänftigen. In kleinen Dingen wollte er ihr gern nachgeben; man vergab sich ja damit nichts. Solches Verhalten mußte sie ja schließlich wiedergewinnen. Er hätte die Frauen nicht kennen müssen! –

Es wurde jetzt öfters zwischen ihnen vom Verreisen gesprochen. Sein Plan war eine gemeinsame Seereise, vielleicht an's Nordkap. Er schilderte ihr die Fahrt auf einem der großen Ozeandampfer in den anziehendsten Farben. Die Seeluft, meinte er, würde für ihren jetzigen Zustand das Heilsamste sein.

Frau Thekla wollte davon nichts wissen. Sie hatte längst gewählt. Schon seit Jahren war es im Geheimen ihr Wunsch gewesen, mal wieder jenen Badeort in Süddeutschland aufzusuchen, wo sie als junges Ding mit Tante Wanda einige Sommermonate zugebracht hatte. In ihrer Erinnerung lebte dieser Platz als ein stiller, lauschiger Winkel, mit herrlichen Spaziergängen, von wenigen einfachen Kurgästen besucht. Das war der Ort, wie sie ihn in ihrer jetzigen Verfassung brauchte.

Leo gab ihr zu Liebe die Idee einer gemeinsamen Nordlandfahrt auf. Sie mochte ganz ihren Willen haben; nicht einmal Doktor Rink, sein Orakel, sollte sich einmischen dürfen.

Es wurde also entschieden, daß Thekla in's »Selzbad« 222 reisen solle. Nun blieb nur noch zu bestimmen, was mit Gerd würde während ihrer Abwesenheit.

Auch hierfür hatte Frau Thekla ihren Plan fertig. Gerd sollte zu ihrer Mutter gehen. Leo wandte dagegen ein, daß der Junge auf diese Weise aus dem Unterricht herausgerissen würde. Thekla erklärte, das Fräulein, das ihn bisher unterrichtet hatte, sei bereit, Gerd zu begleiten. Auch ihre Mutter wäre davon verständigt, sie freue sich sehr auf den Enkelsohn.

Leo war überrascht; wie selbständig sie gehandelt und alles vorausbedacht hatte! Im Grunde war er mit ihrer Einrichtung ganz einverstanden. Auch ihm paßte es schließlich ganz gut, wenn er den Jungen nicht die ganze Zeit auf dem Halse hatte. Man war auf diese Weise freier. Die Aussicht, mal wieder als Junggeselle zu leben, hatte ihr verlockendes.

Erstaunlich geradezu, wie einig man jetzt war! Es schien das eine Bewahrheitung seiner Theorie, daß von Zeit zu Zeit auch in der Ehe ein Gewitter notwendig sei, um die Sonne darauf um so schöner leuchten zu machen. Leo war ordentlich übermütig bei dem Gedanken: wie gut sich die Dinge, die eben noch so kraus erschienen waren, schließlich gefügt hatten; er schrieb das natürlich seinem eigenen klugen Verhalten zu.

Frau Thekla betrieb ihre Abreise nach Möglichkeit. Der Boden brannte ihr hier unter den Füßen.

Ihre Mutter kam, um Gerd abzuholen; sie blieb ein paar Tage. Leo war von ausgesuchter Zuvorkommenheit gegen seine Schwiegermutter. Die Witwe, gutartig und leicht zu gewinnen, wie sie war, vergaß schnell sein früheres, wenig nettes Verhalten ihr gegenüber, und that das, worauf allein er spekulierte: Thekla gegenüber sein reizendes Wesen lobend hervorzuheben.

223 Am Abende vor ihrer Abreise in's Selzbad blieb Thekla noch spät auf. Hedwig war bei ihr im Schlafzimmer und besorgte das Packen. Es war ausgemacht worden, daß die Jungfer auf Urlaub gehen solle zu Verwandten, weil Frau Thekla ganz allein zu sein wünschte in der nächsten Zeit; selbst die Gegenwart dieses treuen Dienstboten wäre ihr zuviel gewesen.

Nachdem Hedwig ihrer Herrin noch das Haar durchgekämmt und für die Nacht geflochten hatte, wollte sie sich verabschieden. Das Mädchen weinte, als sie Frau Theklas Hand küßte.

»Aber Hedwig!« sagte Thekla. »Es ist doch nicht für die Ewigkeit!«

»Ich denke immer, gnädige Frau, daß wir in dieses Haus nicht zurückkehren werden,« sagte Hedwig und entfernte sich.

Ihre Rede berührte Thekla ganz wunderlich; auch ihr war es heute den ganzen Tag über gewesen, wie ein Abschiednehmen für immer.

Hedwig war ja Pessimistin! Seit sie damals die Enttäuschung mit dem Postgehilfen gehabt hatte, sah sie die ganze Welt in dunklen Farben. Thekla hatte sie deshalb schon ihren »Unglücksraben« getauft. Ob des Raben Voraussage diesmal Recht behalten sollte? –

Frau Thekla ließ sich auf ihr Bett sinken. Nicht in dieses Haus zurückkehren? – – – War es nicht der geheimste, kühnste Wunsch ihrer Seele. Was anderes bedeutete es als: Freiheit? Wie oft hatte sie die Flucht im stillen als ihre letzte Rettung betrachtet! Aber würde sie den Mut dazu finden?

Sie sah sich um. Das hier war nun ihr Schlafzimmer, der Raum, wo ihre beiden Kinder das Licht der Welt erblickt, wo Agathchen sein kleines Leben ausgehaucht 224 hatte. Ein Haus mit solchen Erinnerungen sollte sie verlassen? So etwas dachte man, aber man führte es nicht aus.

Sie würde wiederkommen. Die Bande waren zu fest, mit denen sie hier gefesselt war. Nach kurzem Anlauf zur Freiheit würde sie zurückkehren, das Leben von neuem aufnehmen bei ihm, dieses Leben voll Schmach und Demütigung. Mit der Zeit würde sie es vielleicht erträglich finden, alt und grau werden an seiner Seite, von der Welt gepriesen, als eine glückliche Frau; und vor sich selbst – – – schrecklicher Gedanke!

Wie eine Gruft kam ihr das Zimmer vor, voll Moderduft. Hier lagen unzählige Leichen: ihre Hoffnungen, Illusionen, ihre Persönlichkeit mit allem, was aus ihr hätte werden können, langsam verfallend. Die Luft war schwer von erstickten Klagen, der Raum beengt durch die Anwesenheit unsichtbarer Dinge.

Hierher zurückkehren hätte bedeutet: sich lebendig in's Grab legen.

Als sie noch so kauerte und in die Nachtstille hinein sann, hörte sie mit einemmale Geräusch: seinen Schritt, den sie aus hunderten heraus erkannt haben würde. In jähem Schrecken fuhr sie zusammen; sie hatte vergessen, die Thür zu verriegeln.

Leo trat ein, eine Kerze in der Hand. »Noch nicht ausgezogen? Ich dachte, du lägest längst im Bett!«

Sie musterte ihn mißtrauischen Blickes; was wollte er um diese Stunde bei ihr?

Er stellte das Licht weg und begann von alltäglichen Dingen zu reden. Wieviel Gepäck es wäre, und ob sie genug Geld habe. Sie wußte, daß das nicht der wahre Grund seines Kommens sei; dies zu besprechen, wäre morgen früh Zeit genug gewesen.

225 »Du hast mir immer noch nicht gesagt, Thekla, wie lange du im Selzbade zu bleiben gedenkst. Man möchte doch einen ungefähren Anhalt haben.« –

»Ich kann dir nur wiederholen, Leo, daß ich das selbst nicht weiß. Es kann sehr lange dauern – vielleicht. Ich will gesund werden; alles andere tritt davor zurück.«

»Und wenn du gesund bist, dann schreibst du mir, mein Herzchen, nicht wahr? Dann darf ich dich besuchen?«

»Nein!« erwiderte sie schroff. »Ich will allein sein! Deutlicher kann ich mich doch nicht ausdrücken.«

»Es wird sehr einsam für dich werden, Thekla! Du wirst mir's wieder sagen! Ich hoffe, wenn der erste Monat vorüber ist, wird sich dein harter Sinn erweichen. Denn: es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei!« –

Er kam auf sie zu. »Meine Thekla!«

»Was willst du?«

»Du weißt doch – –«

»Laß mich! Die Zeiten sind vorüber.«

»Das ist nicht dein Ernst, Herzchen! Wir sind noch jung. Du bist die Schönste, die Verlockendste noch immer! Du ahnst nicht, wie bezaubernd du sein kannst.«

Mit jedem seiner Worte wurde ihr Gemüt härter. Die sprödeste Jungfrau hätte nicht entschlossener sein können, ihre Ehre verzweifelt zu verteidigen, als diese Frau es ihrem Manne gegenüber war.

»Es ist Nacht, alles zu Bett! Wir sind allein, meine Thekla! Laß mich nicht so lange bitten!«

Schmachtend sank er zu ihren Füßen nieder, umfaßte ihre Kniee. »Thekla, meine Geliebte!« –

Thekla verschränkte die Arme über ihm. Sie fühlte sich sicher. Und wenn er zehnmal stärker war als sie, anhaben konnte er ihr nichts; ihr Stolz, ihre Verachtung schützten sie. Wie Eis war ihr Leib, ihr Auge starr in 226 die Ferne gerichtet. Was hatte sie mit dem da noch zu schaffen? Ihre Seele, ihre jungfräuliche Seele, kannte ihn nicht. Tief in ihrem Inneren hielt sie ein goldenes Thor verschlossen, das nimmermehr sich aufthun würde vor ihm. Einstmals hatte er alles besessen: Seele wie Leib; aber jetzt lag der Schlüssel dazu versenkt weit, weit draußen im Meere, viele tausend Meilen tief. Und sie selbst, wenn sie auch gewollt hätte, würde ihn nicht wiederfinden.

 


 


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