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14.

Wieder einige Blätter aus meinem Tagebuch. Wenn ich so diese weißen Buchseiten ansehe mit den Schriftzeichen darauf, die eines Menschen größtes Glück und tiefstes Leid gebar, dann komme ich mir vor wie ein längst Gestorbener, durch dessen skelettierte Hand die immerdar fruchtbare Erde sickert.

Friede ist in mir und einem ewigen Frieden sehe ich die Welt entgegenwandern.

Aber das, was mir diese fröhliche Lebensruhe gab, die Stunden meines früheren Daseins, gleiten immer und immer wieder durch meine Seele und machen sie stärker und reicher durch das Erinnern an eine herrliche Liebe.

Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht eine dieser Aufzeichnungen lese.

Sie sind mein Brevier geworden.

Mögen andere darin nur den Alltag sehen und sein schlichtes Erleben; ich schaue darin Sonn- und Festtage, ausgefüllt mit der Heiligkeit der Evangelien, durchbraust von dem Hohenlied Salomos.


20. August 19..

Die Sonne blüht in ihrer üppigsten Schönheit über die Augusttage.

Die Stunden vom frühesten Morgen bis in die heißen Abende hinein sind des regsten Schaffens voll.

Schnitter schneiden sich keuchend in die gelben Flächen der Getreidefelder ein.

Schmäler und kürzer wird die gewaltige Masse der stetig leise wogenden Fruchthalme.

Über die Felder wandert der schöpferische Tod, der nimmt, um zu geben, der vernichtet, um zu schaffen.

Auf der wie Glas glitzernden Landstraße schaukeln viele Wagen dahin, hochbeladen mit Kornschütten und der zweiten Heumahd des Sommers.

Die Scheunen stehen weit offen, zum Empfang der Ernte bereit, und die Bauern gehen mit schnellholprigen Schritten und erloschenen Pfeifen an mir vorüber, hastig grüßend.

Sie haben keine Zeit zum bedachtsamen Leben. Die Erde gibt, und da heißt es nehmen; noch dazu wenn der Himmel ein so freundliches Gesicht macht.

Wegen der Hitze auf der sonnenüberglühten, schattenlosen Terrasse habe ich meinem Liegestuhl einen Platz im Walde gegeben.

Hier liege ich nun stundenlang im kühlen Schatten von Ahorn und Eiche, schaue in den sonnendurchströmten Wiesengrund hinab, wo ein Volk Blüten und Insekten seine letzten Orgien feiert, lausche dem Bächlein seine Wandermelodie ab und höre dem Schlage meines glückvollen Herzens zu, das über dem breiten Wiesenland dort im blauen Dämmer der Tannengruppe ein anderes Herz schlagen hört, ebenso voll Glück und Sehnsucht, wie es selbst ist. Ja, dort drüben auf der anderen Seite des Parkes liegt Elisabeth, und vielleicht treffen sich unsere Blicke gar oft, zur selben Zeit, auf derselben Blume, im blühenden, gluttiefen Gartengrund.

Und einem königlichen Zitronenfalter oder landstreichenden Ligusterschwärmer, der, im Schaukelflug eine Sekunde lang über meinem Kopfe schwebend, zu Elisabeth hinübergaukelt, flüstere ich nach:

»Grüß' mir die Liebste, Freund!«

Summt eine putzig gepanzerte Hummel um mich herum, höre ich es ganz deutlich in meinem Ohr tönen:

»Sie läßt dich grüßen viel tausendmal … sie läßt dich grüßen viel tausendmal …«

Die Liebe macht mich zum weisen Merlin, der aller Wesen Sprache und Tun versteht.

Ich schaue in das Dasein jeder Kreatur.

Alle Märchen der Kindheit erwachen in der Seele des Mannes zur Wirklichkeit.

Verwunschene Gärten öffnen ihre Pforten, und ich wandle durch Hecken, dornichte Verhaue, hinter denen die Wunderblume leuchtet, die ich pflücken darf:

Liebe!

In nachtversunkene Schachte gleite ich, in denen das Fallen einer Nähnadel Donner weckt und das Grauen mit feuchten Händen über meinen Körper streicht – aber ich fürchte mich nicht vor dem Dröhnen meiner Schritte, vor den gespenstigen Nebelgestalten, die der warme Hauch meines Mundes formt – ich schreite und schreite bis zu der Nische in der Felswand, fasse meine Wunderlampe – alles Dunkle, Grausige versinkt in der klaren Lichtflut dieser heiligen Leuchte:

Liebe!

Was mir alle Ärzte, die Bücher der Vergangenheit und Gegenwart, die gläubige oder ungläubige Lüge der Priester nicht spenden konnten: das ewige Leben, das gibt mir nun der Stein der Weisen, den ich Sonntagskind auf meiner Straße fand:

Liebe!

Geheiligt ist mein Leben!

Mein Leben?

Ich lebe nicht ein Dasein, sondern deren viele, ungezählte, vom Beginn der Zeit bis an ihr Ende.

Mein Atmen ist der Hauch aller Dinge der Welt, in meinem Schreiten hallt der Trittschall von Millionen wandernder Füße, die zu dieser Stunde auf allen Wegen und Straßen der unendlichen Erde Sehnsucht tragen.

Aus meinen Augen strahlt das Licht des kleinsten Staubkornes und des erhabensten Gestirnes. Mein Mund birgt die Stimmen aller Wesen, so wie mein Gehirn ihre Gedanken und Träume lebt. Jeder Nerv in mir ist ein seines Kettenglied, das mich mit allem und jedem im Kreise der Zeit und des Weltraumes verbindet.

Mein Körper streckt auf dem Liegestuhl seine Ungeduld nach Erfüllung seiner tiefsten Sehnsucht aus, gebannt durch die Krankheit und einen fremden Willen, indes meine Seele die Welt befährt.

Die Hand hält ein Buch, meine Augen nehmen Wort- und Satzbilder in sich auf, die klägliche Tagesweisheit eines Menschen zieht durch mein Gehirn, auf Minuten nur, dann verschwindet sie spurlos, hinweggeweht von dem Glutatem der ewigen Weisheit, die aus Gras, Baum und Sonne kommt.

Streitende Worte fallen an mein Ohr … Hinter mir verficht Steiner gegenüber einem anderen Patienten seine Weltanschauung, den Sozialismus:

»Marx sagt in seinem … Auf dem Parteitag zu Hainfeld … Das verstehen Sie nicht … Die friedliche Evolution …«

Seine harte, jedes Wort abwägende Stimme scheucht die Finken und Meisen von den Bäumen fort.

In meinem Innern hebt sich ein Erbarmen auch für diesen Menschen, der sein Dasein aus einem Kerker in den andern führt, indes um ihn die wahre Freiheit ihre Banner rauschen läßt.

Doktor Pohl fällt mir ein, der Sozialist mit dem stillen Munde und dem tönenden Herzen, dessen Menschentum ein armer, verblendeter Sterbender in seiner letzten Stunde segnete, da er ihm mit seiner Güte das Licht gebracht hatte, das er, der blinde Eiferer, vergeblich in Kirchen und Kapellen suchte.

Welch eine Kluft trennt den Sozialisten Steiner von dem Sozialisten Doktor Pohl!

Der Streik hinter meinem Rücken nimmt eine gehässige Form an. Wie Kampfhähne flattern die Worte der Gegner gegeneinander. Sie betasten sich gegenseitig die verwundbarsten Stellen ab und stoßen den Stachel der intoleranten Wut hinein.

Ich versenke mich in mein Buch und flüstere Worte vor mich hin, die nicht darin stehen:

»Und wenn ich mit Menschen- und Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz und eine klingende Schelle!«

23. August 19..

Es reihen sich die Tage um mich herum gleich spielenden Kindern, denen ich die segnende Hand auf die goldenen Scheitel lege.

Gestern regnete es.

Der Tag hatte einen milchig-trüben Schein, und nur selten sah man die Sonne hinter den Wolken hängen wie eine schlafsüchtige Stallaterne.

Alle Patienten waren mürrisch, schimpften auf das Wetter und lagen in den Liegehallen wie Mumien, eingehüllt in ihre dünnen Sommerdecken, weil es auch unangenehm kühl geworden war.

Hie und da flog ein Witz auf wie ein zerzauster, regennasser Sperling, nicht viele lachten über ihn.

Die große Sehnsucht nach dem starken, ungehemmten Leuchten der heilenden Sonne saß in allen Herzen und vernichtete die armselige Feuerwerksarbeit einiger Gehirne.

Nur ich schritt fröhlich durch den kranken Tag.

Trübsinnte einer:

»Die Sonne wird totgeregnet!«

Und ein anderer brummte in die schleiernde Feuchte:

»Wie ein Lebendigbegrabener komme ich mir vor!«

In einer Ecke der Liegehalle saßen zwei und spielten Karten.

In das Schnarchen, Knurren, schläfrige Reden und Rauschen und Knistern mit Buch- und Zeitungsseiten plantschte das taktmäßige Aufschlagen der Kartenblätter wie das Auf- und Abschnellen fetter Fische im Wasser.

Plötzlich fuhr ein in der Nähe der Spieler liegender Kranker auf und schrie ihnen zu:

»Hörts doch auf mit dem dummen Spiel, wir sind doch in keinem Kaffeehause! Laßts mich schlafen!«

Ein Streit begann. Die Halle füllte sich mit erregten Stimmen. Die Für und Wider der Meinungen rauften sich zwischen den Liegestühlen herum wie Schulbuben ohne Vernunft und mit der Bosheit des Augenblicks.

Die Karten lagen vergessen auf dem kleinen Tischchen, und der Karokönig grinste verächtlich auf diese Gruppe eingeregneter Menschen, die ein Tag ohne Sonnenschein zu mißgünstigen, böswilligen Rangen machte.

Als ich zu Mittag mit Elisabeth zusammentraf und ihr von dem Vorfall in der Liegehalle erzählte, der mir wie ein Sturm im Wasserglas vorkam, und dessen Bedeutung und Wichtigkeit für die Leute ich ableugnete, widersprach mir meine Braut:

»Alles was sich um uns abspielt, das Komische wie das Tragische, ist Bewegung und eine Kraftäußerung, aus der wir Zuschauer lernen sollen. So unnütz dir der Streit um das Kartenspiel erscheint, so wichtig kommt er vielen anderen vor, die solche Menschen sind, wie du einer bist, und die du in all ihrem Tun verstehen lernen mußt, willst du sie lieben, wie du vorgibst. Ich werde unsere Kinder lehren, in der sinnlosesten Handlung die Weisheit des Lebens aufzuspüren. Unsere größte Schwäche ist: Wir leben zu wenig universal, zu wenig kosmisch. Uns allen fehlt das starke, überquellende Naturempfinden und Weltgefühl. Uns gilt die Form alles und nichts der Inhalt. Wir sollen eine Linie sein, die sich durch das Chaos aller Erscheinungen zieht und bei der leisesten Berührung in Schwingungen gerät, sind aber nur ein ruhender Punkt, der kaum seinen eigenen Körper fühlt und für den sein Inneres dunkelste Nacht ist.

Liebster! Du darfst diese Leute nicht fliehen. In ihrem Lallen, im Ton ihrer zornigen Worte ist das quälende Suchen des Wesens nach Wirkung und Tat. Bleibe mitten unter ihnen, senke dich in ihr Leben und verlasse nicht ihren Kreis, aus dem oftmals eine tiefe Weisheit blüht wie die herrliche Lotosblume aus den indischen Fiebersümpfen. Ihr anscheinend sinnloser Lärm ist für dich gesünder als die weiseste Stille, in der deine Tatkraft erstickt. Einsamkeit ist Schwäche und diese der Tod aller Liebe.«

Und Elisabeth sprach weiter von unserem Kinde, dem sie ein aufrechter Führer werden will, durch die Wälder, Wüsten und über Gebirge des Erlebens zu dem Gralberg seines erkannten Menschentums hin, neben sich immer die anderen Wanderer, in steter Fühlung mit allen.

Unser Kind …

Wenn Elisabeth von diesem Wesen, das noch im Schoße der Urnacht ruht, spricht, als wenn es schon in ihren Armen läge, dann ist es mir so, als höbe mich eine schwere Hand aus dem sonnenüberspannten, rosengesegneten Lande der Gegenwart und schleudere mich in die Dumpfheit, Nacht und Armut meiner Vergangenheit zurück.

Unser Kind …

Ich fühle, wie meine geheimen Tränen auf mein Herz tropfen und eine Wunde brennen.

Etwas schlägt mir gegen die Augen, und ich muß den Kopf wenden, damit Elisabeth den trüben Blick nicht sieht. Und Elisabeth spricht oft, sehr oft von diesem fernen Kinde. Manche Minute macht sie mir dadurch – ohne daß sie es ahnt – sonnenarm, trauerschwer.

Aber ich liebe sie auch wegen dieser heiligen Muttersehnsucht noch viel mehr, wenn überhaupt bei dieser Liebe von der Möglichkeit einer Steigerung die Rede sein kann; trage alle meine Sorge und Freude zu ihr, und mir ist, als wäre ich der mindere Teil von Elisabeths Ich, so tief lebe ich mich in sie hinein.

Ich beuge mich vor ihr wie der Halm unter dem reifenden Winde des Sommers und spüre den Baum meines Lebens früchtebringend sich herausheben aus der Fläche des Nichtigen und Ereignislosen.

25. August 19..

Heute sprang ein Sturm aus der grauen Regenwolke. Der peitscht diese, seine eigene Mutter, in die Flucht und gräbt die Sonne aus.

Lächelnd, als wäre sie nie fern und im erbittertsten Kampfe gewesen, sendet die Sonne Strahl um Strahl in die reingewaschene Landschaft, bis in dieser alles wieder leuchtet wie aus sich selbst heraus:

Bäume, Blumen, Menschen, Häuser …

Die große, schöpferische Lüge, aus der jedes Wesen seine Kraft zum Dasein nimmt:

Wir selbst leuchten!

Wir sind die Tat!

Wir sind nur unser Eigentum und gehören keinem anderen an!

Indes versteht in uns ein Nerv den anderen nicht, wachen Gedanken in uns auf, die sich mit haßheißen Blicken anstarren, und ist eine Fremdheit zwischen unseren Handlungen, die zu Mord und Totschlag führt.

Die heilige Lüge …

Manchmal steht einer in unserem Kreise auf, der sie erkennt, reißt ihr die göttliche Maske herab, speit ihr in die enthüllte dämonische Fratze und predigt Abkehr von diesem Götzenbild der Eigenliebe.

Aber die Menschen verhüllen die Augen und schließen die Seele vor der wahren Rede des kühnen Götzenstürmers, und ihre Hände greifen nach Steinen, und im Wurfe der Menge verblutet der eine, der dieser Welt die Erlösung bringen wollte.

Steinhaufen und eingeäscherte Scheiterhaufen säumen die Straßen ein, Opferstätten der Märtyrer, die die heilige Lüge erkannten und den Kommunismus des Herzens predigten.

Ich bin auf einem Spaziergang durch den Wald.

Hoch oben in dem Wipfelgebüsch rast der Sturm. Er reitet mir voraus, mein Herold. Alle Augenblicke donnert seine gewaltige Stimme:

»Platz da dem Herrn der Welt!«

Und links und rechts beugen sich die Bäume gebetetief vor mir.

Hinter meinen Augen brennt hell der Reflektor der Liebe, alles um mich her beleuchtend.

Und nicht nur nach außen hin sehe ich die Dinge im Lichte ruhen. Sie öffnen sich auch nach innen zu, zeigen mir ihr geheimstes Denken und den verborgenen Sinn ihrer Form und Art.

Eine Schar Pilze winkt mich zu sich heran.

Da lugt der giftige Hexenpilz zu mir herauf mit seinem vertrauenerweckenden Pilgerhut, unter dem das rote Geäder in der Fülle seines verderblichen Blutes aufglänzt; an ihn reiht sich eine ganze Schar dottergelber, harmloser Pfifferlinge, die aussehen, als wollten sie sogleich durch den ganzen Wald tanzen. Der phantastische Schwefelkopf streckt das Medusengewirr seiner Glieder dem samthaarigen, zufriedenen Brätling entgegen, der sich auf die Erde duckt wie ein armer Pilgrim vor der Eisenfaust eines grimmigen Räubers. Stumm, in seinem unersättlichen Zwergenhaß glüht der furchtbare Fliegenpilz in das hohe, brausende Laub der Bäume hinein, indes der graue, wie aus Porzellan geformte Speitäubling seine innere Ruhe auch äußerlich bewahrt und nichts von dem Gifte kündet, das unter seiner Philisterhülle gärt und nach unschuldigen Opfern lechzt.

Alle diese Pilze bilden auf dem arsenikgrünen Waldboden einen Kreis, einen Ring des Lebens.

Dieser wächst zur mächtigen Größe empor und in die Weite.

Ich stehe vor dem Kreise der Welt und Zeit.

Ein Wesen stützt sich auf das andere. Das Gute trägt das Böse, und dieses wieder gibt einen guten Halt. Keine Lücke gähnt mir vom Moosboden entgegen. Ich sehe das Bild eines Weltgesetzes vor mir.

Alles Erleben ist ein Kreis.


Weit wächst eine Wiese dem Tale entgegen.

Der Wind hopst in lustigen Sprüngen über sie, und ich gehe ihm nach.

Ein roter Kirchturm ragt über die Landstraße wie ein riesiger Storchenschnabel zum Himmel auf, ja, als hätte er Appetit auf die Sonne.

Dort in dem kleinen Marktflecken, der sich um das Kirchlein ausbreitet und den ein waldiger Berg vor meinen Blicken verbirgt, werden in vier Wochen Elisabeth und ich als Ehepaar in ein kleines Bauernhäusel einziehen. Doktor Pohl hat uns darin zwei Stuben gemietet mit einem großen alten Garten.

Mein Herz schlägt lauter als die Turmglocke, die zum Segen bimmelt.

Lauter vor Glück und Liebe als alle Glocken der Welt.

Ich setze mich auf einen insektenverlassenen Ameisenhügel.

Wie ich so sinne, den Sturm im Haare, die Sonne auf der Stirn, fliegt ein zarter Hauch die Haut meiner rechten Hand an.

Ein Zitronenfalter ruht sich auf der braunrotschimmernden Handfläche von seinem Nachmittagsflug aus.

Die haarfeinen Fühler zittern im nervösen Spiel in der Luft, und der zierliche schmale Körper atmet wonnig die Minute Ruhe ein und führt meiner Haut eine seltsam trauliche Wärme zu.

Mir kommt es vor, als wäre das Tierchen direkt aus der Sonne herabgekommen.

Wird es mein geflüstertes Fragen nicht wegscheuchen?

»Zittergoldchen, wer bist du?«

Ein sachtes Staunen gleitet durch mich, denn hat es da nicht geflüstert:

»Dein Schwesterchen!«

Eine zweite Frage drängt sich hauchweise über meine Lippen:

»Zittergoldchen, wo kommst du her?«

Und wieder ist es mir, als verhalle ein feines Stimmchen an meinem Ohr:

»Aus der Sonne, Bruder!«

Ich bin in einem Märchen.

Nochmals frage ich:

»Zittergoldchen, was ist deine Heimat?«

Da erhebt sich der Falter, wohl erschreckt durch den stärkeren Hall meiner Frage, und schwebt von dannen, wie eine gelbe Flamme leuchtend.

Noch fühle ich den spinnwebschweren Druck seines wundersamen Körperchens auf meiner Handfläche, und es ist mir, als hätte er, schon im Fluge, mir noch die Antwort auf meine letzte Frage zugerufen:

»Die Welt, Bruder, die Welt!«

Ich schleudere den Hut in die Luft und jauchze, so gut ich es mit meiner engen Brust vermag, dem gaukelnden Schmetterling nach, der mich Bruder nannte und dessen Heimat die meine ist.


Im Abendschatten wandere ich heim.

Mit schwarzen, wissenden Augen schaut die Nacht in den Wald.

Stimmen, die am Tage schwiegen, sind nun erwacht.

Aus ihrem Sinn und Ton formt sich meine Seele ein Lied:

Die Stundenmühl' des Tages
hat ihr Gewerk vollbracht.
Nun lauscht gar frommen Schlages
die Seele in die Nacht.

Aus mächtig schwarzem Düster
steigt Stern um Stern empor
und zärtliches Geflüster
verrannt an meinem Ohr.

Und geh ich das Gelände
der Wiese ab, sodann
ist's mir, als greifen Hände
mich sacht und schüchtern an.

Ja, heimlich und voll Zagen
zupft's mich an Latz und Hemd,
und Stimmlein hör' ich klagen:
»Was tust du nur so fremd?«

Stumm sind wir, wenn im Schaffen
sich reget deine Hand;
doch wenn der Tag will raffen
zusammen sein Gewand

Und alle Hände ruhen,
da gehn wir, Stein und Pflanz'
und Baum, in lichten Schuhen
zum frohen Gottestanz.

O komm doch mit und fasse
uns an zum Ringelreih'n,
sperr ab dein Haus und lasse
uns, Bruder, nicht allein.


28. August 19..

Feinhals hat Augen, die wie Eimer in des anderen Seele tauchen und daraus alles Geheime heraufbringen.

Heute – auf einem einsamen Spaziergang – erzählte ich ihm von der wetterfinsteren Wolke, die im Kreise auf dem Himmel meines Glücks segelt und mir oft Sonne und Sterne verhüllt; gab ihm Kunde von der Unterredung mit Doktor Pohl, schilderte ihm die gewaltige Muttersehnsucht Elisabeths, ihren inbrünstigen Glauben an die Stärke ihres Leibes, einem Kinde das Leben zu schenken, und beichtete ihm meine Qual, dies hören und sehen zu müssen mit dem Wissen, daß diese Sehnsucht nicht erfüllt werden darf. Diese heiligste Menschensehnsucht nach der Verewigung zweier Ich in der Frucht ihrer Liebe, die nicht erfüllt werden durfte, um Elisabeth nicht verlöschen zu sehen wie ein Lichtlein, dessen Fünkchen vielleicht im Versinken zu schwach sein wird, um noch eine neue Flamme entzünden zu können.

Lange sprach Feinhals kein Wort, und wir gingen eine Weile schweigend nebeneinander her. Plötzlich ging ein Ruck durch seinen Leib, alles an ihm straffte sich, und mich starr ansehend, sprach er zögernd und mit etwas heiserer Stimme:

»Vielleicht ist dieses Sterben im inneren Schauen des neuen Wesens der herrlichste Tod für solch ein Weib, wie Elisabeth es ist, und Sie hätten die Pflicht, ihr diesen zu verschaffen. Diesen Tod, der nichts gemein hat mit unserem elenden Ende!«

Mir waren diese Worte in ihrem schrecklichen Sinne wie Eisstücke auf die bangende Seele gefallen, und ich konnte es nicht gleich fassen, daß sie Feinhals, der Jude, dessen Leben sublimstes Verstehen und Gefühl war, zu mir und für mich gesprochen hatte.

Eine tierische Grausamkeit schien mir aus dem Gehörten entgegenzuwehen, eine entsetzliche Blasphemie.

Grauen schüttelte mich. Ich wollte Feinhals an die Kehle fahren und ihn wie einen wütenden Wolf würgen, nachdem er mich mit geiferndem Zahne gebissen.

Aber er stand nicht mehr neben mir.

Mit langsamen, abgemessenen Schritten sah ich ihn etwa fünfzig Schritte vor mir der Heilanstalt zuschreiten.

Heute abend beim Abendessen ging ich Feinhals aus dem Wege und sprach auch mit Elisabeth nur das Notdürftigste, Unpäßlichkeit vorschützend.

Nun liege ich hier im einsamen Saale – alle anderen Schlafkollegen sind noch im Spielraum oder auf den Korridoren und Stiegen – und sinne mit zerquälten und nach Klarheit ringenden Gedanken dem furchtbaren Ausspruch Feinhals' nach.

Weiß schimmern die zehn Betten um mich herum wie Marmorsarkophage in einer Grabkrypta, unbarmherzige weiße Helle strahlen die Seiten meines Tagebuches aus, und das harte, kalte Licht der elektrischen Lampe auf meinem Nachtkästchen greift mir mit grausamem Griffe ins Gehirn und zerrt daraus Bilder, vor deren Gräßlichkeit ich die Augen schließe, um dann im Banne des erzwungenen Dunkels noch tausendmal qualvollere Bilder zu fühlen.

Draußen um die Mauern der Hustenburg streichen die letzten Düfte des Sommers, rinnen die Strahlenbäche der Sterne in Kaskaden über die steinernen Vorsprünge der Gebäude und sprüht der Mond silberne Tropfen in die sanft entschlafene Landschaft.

Aber für mich gibt es in dieser Stunde kein Licht. Mond und Sterne sind zugeschüttet.

Sturmtiefe Herbstnacht, die alles Helle vermauert, strebt durch das Fenster zu mir herein und wirft alle meine Gedanken in ihren höllischen Kerker.

Wo ist der strahlende Himmel, das Haupt Gottes mit seinem segnenden Sonnenauge, das die Kraft der Erde und ihre Liebe ist?

Wo ist der schimmernde Himmel, das Haupt Gottes mit seinem gütigen Mondauge, das die Ruhe der Erde ist?

Der Erde, die meine Mutter, meine Schwester, mein alles, alles ist.

Kraft und Ruhe haben mich verlassen.

Ich stöhne:

»O meine Mutter, o meine Schwester, wie seid ihr kraft- und ruhelos! Armes Seelchen, was beginnst du nun?«

Und ich spanne die Hände um meine Brust und möchte mich zermalmen vor Angst und Trostlosigkeit.

Im Nebel, der blutig abdampft, erschaue ich Elisabeth. Ich breite die Arme nach ihr aus und – sie versinkt vor meinem schreienden Blick.

Ich lausche …

Warum singt kein Wandersmann auf naher Straße ein menschenfröhliches Lied zu seinem Schreiten?

Warum höre ich nicht wie sonst das freudebebende Wellengejubel des Wiesenbaches, das mir alle Nächte vorher ein so süßes Schlummerlied war?

Warum dringt heute nicht die Melodie all der vielen Dinge in mein Gehör?

Ich möchte jeden tönenden Hauch an mich reißen und mit büßender Inbrunst in mir aufnehmen, so wie einst Wüstenheilige die Stimme ihres erträumten Gottes.

Doch nichts, nichts tönt …

Die Welt, meine schöne, herrliche Welt ist tot!

Ich soll mein Weib sterben lassen, dem sicheren Grabe übergeben wegen eines Wesens, dessen Seele ich nicht kenne, dessen Trost für mich nur ein hungriges Schreien sein wird …

Feinhals, du Teufel!

Mein Herz krampft sich zusammen in pochender Qual und heißestem Hasse.

Meine zitternde Seele, dir ist sehr bange.

Du fühlst dich ärmer als das frierende Blatt im fressenden Sturme.

Ausgehöhlt bist du, und was in dir noch lebt ist irre Verzweiflung.

Und du sollst doch der Atem der Schöpfung sein und sollst die Fröhlichkeit besitzen, wie sie Gott hatte, als er in einer Lichtstunde dich schuf, dich und die Welt.

Die Welt?

Einmal jubelte ich:

»Die Welt bin ich!«

Das war gestern, nein, heute noch – und jetzt?

Ach, es ist dieses Dasein doch immer nur ein ewiges Irregehen und ein häßliches Irregehen.

Wer steht da auf einmal vor mir? Wessen Schatten fällt auf die bleiüberzuckte Papierfläche meines Tagebuches?

Feinhals ist es.

Ich will auffahren, ihm die Faust ins Gesicht schlagen und zorngeballte Worte:

»Meuchler, jüdiger Hund …«

Aber der Blick seiner braunen, tiefgründigen Augen bannt mir Hand und Zunge, und der erste Laut aus seinem Munde träuft wie kühlendes Öl auf meine wunde Seele.

»Freund, Sie leiden sehr unter dem, was ich Ihnen heute sagte,« sprach er, »und Sie sehen in mir einen, der mit der ganzen Heimtücke und Freude seines Volkes an dem Leid anderer Ihnen diesen anscheinend tödlichen Streich versetzte und Ihr so herrliches Glück vernichtete. Ich ahnte so etwas und bin zu Ihnen gekommen, um Sie aus der Irre Ihrer Gedanken zu führen und Ihnen zu zeigen, daß dort, wo Sie dichteste Finsternis sehen, das hellste Licht brennt und in Ihrem höllischen Leid das heiligste Glück ruht.«

»Sie wollen dem Weibe Ihrer Liebe das Höchste und Herrlichste des Lebens geben: eine Heimat! Aber merken Sie sich, die Heimat des Weibes ist sein Kind, seine Mutterschaft. Nicht der Geliebte, nicht der Mann. Zeigen Sie ihm diese Heimat, so wird es den Tod nicht fürchten, ja, wenn es sein muß, ihn aufsuchen und ihn mit Jubel erdulden. Nehmen Sie einem echten Weibe – und das ist Elisabeth – die Aussicht auf das Mutterwerden, so wird es heimatlos – unglücklicher als Ahasver. O, ich kenne es, kenne es ganz genau, das Leben der Menschen, die ohne Heimat sind, die nicht wissen, woher sie kommen und wohin sie wandern, die sich freuen wollen wie die Heimatgesegneten und sich sagen müssen: Du gehörst nicht zu ihnen, du bist ein Fremdling! Die die Qual des ewigen Suchens in den Augen tragen und mit der Zeit die niedrige Bewegung von Bettlern annehmen, die warten müssen mit glühenden Füßen, warten, warten, bis ihre Herzen erfroren sind. Freund, geben Sie ihrer Elisabeth die Heimat, schenken Sie ihr das Gottesahnen der Mutter.«

Ein leiser Tritt über den Fußboden – Feinhals ist gegangen.

Der Saal füllt sich mit Schlafgenossen. Auf jedem Nachtkästchen leuchtet ein Lämpchen auf – wie Sterne aus abendlichem Dämmer.

»Geliebte, du sollst deine Heimat haben!«

30. August 19..

Mit Erna hatte sich etwas Seltsames begeben.

Vor zwei Tagen verschwand sie plötzlich aus der Heilanstalt.

Sie war am Abend nicht zum Nachtmahl gekommen, und als sie sich zur Zeit des allgemeinen Schlafengehens nicht in ihrem Zimmer einfand, wurde man unruhig und verständigte den Direktor von ihrem Verschwinden.

Der Direktor ließ sofort von Dienern und Pflegeschwestern im Hause selbst und in der nächsten Umgebung der Heilanstalt Nachforschungen über den Verbleib Ernas anstellen, die aber resultatlos blieben.

Man war ratlos, da man keinerlei Anhaltspunkte vorfand, die auf die Spur einer Erklärung für das Verschwinden des Mädchens geführt hätten. Auch Elisabeth, die Schlafraumkollegin und nächste Freundin der Verschwundenen, wußte nicht das geringste, bis heute, wo sie einen Brief von Erna bekam, der in einer weitentfernten kleinen Provinzstadt des östlichen Österreich aufgegeben war und die einfache Lösung des rätselhaften Verschwindens Ernas enthielt.

Erna hatte die Heilanstalt verlassen, um dem Drange ihres Herzens zu folgen, das nach Vereinigung mit einem geliebten Manne schrie. Dieser, ein Postoffizial, war als noch ganz junger, erlebnisleerer Mann in eine Ehe geraten, die nichts war als ein tägliches Nebeneinanderhinbrüten, in dessen Dunkel nur der gegenseitige Haß aufblitzte. Er hatte Erna in der Heilanstalt kennen gelernt und eine tiefe Neigung zu dem Mädchen gefaßt, die von diesem in gleicher Weise erwidert wurde. Als er vor einigen Wochen die Heilanstalt verließ, hatten sich die Liebenden verabredet, daß Erna ihm sobald als möglich folgen sollte. Er wollte dann mit ihr über die Grenze nach Rußland flüchten, wo er Freunde hatte, die ihm gewiß weiterhelfen würden. Dies war nun geschehen. Die Stadt, aus der das Schreiben Ernas an Elisabeth adressiert war, lag nur eine Bahnstunde von der Grenze entfernt, und zurzeit atmete das liebende Paar wohl schon die Luft der Freiheit eines neuen Lebens.

Elisabeth freut sich sehr über die entschlossene Tat Ernas, und als ich ihr heute entgegenhielt, daß Erna mit ihrem schweren Lungenbefund den Aufregungen und dem ungesunden Klima Rußlands nicht gewachsen sein dürfte und einem frühen Tode entgegensieht, erwiderte sie mir:

»Glaub' mir, Karl, wir Frauen schreiten mit Lächeln unserem Glück entgegen, wenn es auch der Tod in den Händen hält. Und ist eine Stunde stürmischen Überschäumens lieber als Jahre des seichten Dahinplätscherns. Das Leben ist uns kein Rechenexempel wie euch Männern, dessen tausendfache Versuche zum Bösen und dessen Drang zum Guten ihr Philosophie nennt. Wir schauen das Dasein als eine Flamme an, ob sie nun lange brennt oder eine kleine Spanne Zeit, was kümmert's uns! Nur hell muß sie leuchten und neue Flammen entzünden – dann wird sie von uns gesegnet!«


Die Mutter Ernas ist gekommen; eine noch ziemlich junge Frau, mit einem flachen Ausdruck der Gleichgültigkeit im Gesicht, hinter dem aber die rohe Gier nach dem Leben hockt wie hinter einer Marmorsäule eine schmutzige Bettlerin.

Sie hört kalt und unnatürlich ruhig Elisabeth an, die ihr von dem Briefe ihrer Tochter Kunde gibt und sie bittet, die Sache auf sich beruhen zu lassen, da ja doch daraus der starke Wille zweier Menschen spräche, der wohl nicht zu brechen sei, ohne die beiden tief unglücklich zu machen.

Die Mutter sagt nicht ja, nicht nein, dankt kühl und gemessen-freundlich für die erhaltene Auskunft und empfiehlt sich mit leichtem Gruß von Elisabeth und mir, der ich der Unterredung beigewohnt habe.

»Weißt du, Karl, daß diese Frau ihre Tochter beneidet?«

Elisabeth sagt dies, indem sie der ruhig dahinschreitenden Mutter ihrer Freundin nachsieht, und ohne auf meine Antwort zu warten, setzt sie noch hinzu:

»Und Erna ist auch beneidenswert, wie alle Menschen es sind, die den Mut finden, über ihr Grab zu springen. Entweder sie nehmen den Sprung zu kurz und stürzen hinein oder sie erreichen den winkenden Rand und fühlen sich als Sieger.«

2. September 19..

Die Wälder fangen an zu bluten.

Die Luft ist reich und gütig, voll von spendender Liebe.

Der Herbst steht an der Tür, die Hand zum Anklopfen bereit.

Der Wald lächelt leise seinem Sterben entgegen. Mit ruhigem Bescheiden sieht er die ersten Blätter seiner grünen Pracht schwinden und predigt im sanften Rauschen den braungelben Stoppelfeldern und den auf die letzte Mahd wartenden Wiesen von der innerlichen Ewigkeit aller wahren Schönheit und wirklichen Kraft.

Ich bin ein unermüdlicher Bewunderer der Wälder geworden. Alle Zeit, die mir die strenge Kur läßt und die ich nicht mit Elisabeth verbringen kann, gehe ich im Reiche der Bäume spazieren und entdecke bei jedem Schritte neue Herrlichkeiten und Wunder.

Aller Dinge Zweckmäßigkeit und reife Schönheit kommt mir von Tag zu Tag mehr zum Bewußtsein, weil ich, seitdem Elisabeth in mein Leben trat, von einer wundervollen, nie stillstehender Empfänglichkeit bin, die meine Seele erklingen läßt durch den zartesten Hauch.

Wie wird das erst werden, wenn Elisabeth und ich, durch keine erbarmungslose Hausordnung für den größten Teil des Tages mehr getrennt, eng beisammen leben dürfen als Eheleute, die in ihrem Bunde die große schöpferische Liebe spüren wie eine zweite Sonne.

Und das wird bald sein … bald sein!

Nur noch wenige Tage … dann, dann …

Eine heiße Freude steigt in mir auf. Ich möchte es in die Welt hinausjauchzen, so wie ich es in den Wald juble:

»Seht meine Liebe, seht mein Glück!«

Viele Stunden lang sitze ich auf der Bank, von der aus ich die Straße erblicken kann, die in das Dorf führt, wo zwei Stuben und ein Gärtchen auf uns warten.

Jede Schwalbe, die zum Wandern rüstet und vor mir ihre kühnen Flugübungen macht, frage ich, ob sie vielleicht in dem und dem bestimmten Häuschen ihren sommerlichen Nestbau hat.

Vielleicht wohnen sie alle dort und bauten ihr Schwalbenglück unter das Tor, durch das mein Weib und ich in wenig Wochen zum eigenen Herde schreiten werden.

5. September 19..

Spätherbstwetter, und doch sind wir erst im September.

Seit Tag und Stunde hängt ein trübes, graues Wolkengewimmel über der Landschaft, die wie in einem Weltwinkel gekauert daliegt.

Ein kalter Regen fließt in dünnen Schnüren unermüdlich, ohne Pause herab, und das erste verstohlene Frösteln kriecht aus der Erde.

Da habe ich mit einem Menschen Bekanntschaft geschlossen, der mir auf eine schlichte Art zeigt, wie viel Heldentum und Seelengröße im tiefen Elend zu finden sind und wie man einem dunklen Dasein Sonne schafft.

Er weilt erst seit zwei Wochen in der Heilanstalt, in die er aus dem Versorgungshause der Großstadt geschickt wurde. In letzterer Anstalt war er schon seit zehn Jahren wegen eines mächtigen Höckers und eines alten Lungenleidens Zögling und hätte wohl in diesem Heime, wo es ihm ganz erträglich ging, sein Leben beschlossen, wenn nicht ein Ereignis in seinen Lebenskreis getreten wäre, das ihn aus dem Frieden und der mageren Zufriedenheit des Siechenhauses herausriß. Seine Schwester war gestorben und hatte eine siebenjährige Tochter zurückgelassen, deren Kindheit und Erziehung von dem Waisenamt stockfremden, teilnahmsleeren Leuten anvertraut wurde.

Als der bucklige, kranke Onkel davon hörte, faßte er sofort den Entschluß, es möglich zu machen, daß er das verwaiste Kind zu sich nehmen könne, um ihm wenigstens halb die Liebe zu ersetzen, die die tote Mutter zu ihren Lebzeiten dem Töchterchen gegeben. Er beschloß, um gesund zu werden, die Aufnahme auf ein Freibett in der Lungenheilstätte anzustreben, was ihm auch nach langen Bemühungen gelang.

Hier will er nun bleiben, so lange, bis seine Lunge notdürftig zusammengeflickt ist, dann will er zu seinem gelernten Beruf, der Schuhmacherei zurückkehren, sein Mündel zu sich nehmen und es hätscheln und pflegen »wia an' Kanarivogel«!

Mit ihm und einem dritten Patienten, dessen Aufenthalt in der Heilanstalt erst Tage zählt und der in meinem Schlafsaal liegt, ging ich heute durch den bis in sein verstecktestes Laub erschauernden Wald.

Trübe Feuchte umgab uns. Das monotone Aufschlagen der Regentropfen auf den Blättern verschlang jeden helleren Ton. Hie und da krächzte ein Rabe, und der neue Patient in unserer Mitte schlich trostlos und traurig daher.

Man fühlte aus jedem seiner müden Worte, die er sprach, den dichten Nebel, in dem seine Seele stak. Er konnte die Lustigkeit und fröhliche Stimmung des buckligen Pfründners neben sich nicht begreifen und fragte ihn, wieso er in seinem Elend noch lachen könnte, besonders an einem solchen Tage, an dem selbst die Sonne weinte und sich vor Lebensunlust hinter den Wolken verberge.

Da hob der Bucklige ein gelbes, durchscheinendes Ahornblatt, das der Tod gestreichelt hatte, von der fröstelnden Erde auf und ließ mich und den Trübsalbläser durchschauen.

Was wir zu unserem Erstaunen sahen, war nicht die graue, verregnete Landschaft von vorhin, sondern eine heitere, wie von goldenen Strahlen beglänzte Flur.

»Sehen Sie,« sprach der höckerige Philosoph, »mich hat das Leben gelehrt, überall auf meinem Wege eine solche Zaubermaschine zu finden, die mich in der traurigsten und trübsten Zeit das Dasein erträglicher und sogar schön sehen läßt. Einmal ist das Zauberding ein farbiges Glas, ein andermal ein Mensch, eine Blume, dann wieder irgend ein Gegenstand, und manchmal sogar, wie jetzt, ein welkes, durchscheinendes Blatt. Ich sehe es an oder schaue durch und spür' gleich neue Freude zum Leben, wenn's mir vorher noch so schlecht gegangen ist.«


Dieser arme, von vielen tief bedauerte Krüppel, wie reich, wie unermeßlich reich ist er doch.

Auch er lehrt mich:

Liebe und Lebensfreude gehören zusammen!

8. September 19..

Ich sitze in einer Gartenlaube, überrieselt von den warmen Strahlentropfen der milden Septembersonne.

Die grünen Ketten des wilden Weines mit ihren rostroten, breiten Blattschließen werfen Schattengitter auf die Seiten des Buches, in dem ich lese:

Brentanos Gedichte!

Und wie die Buchstaben aus dem Gitterwerk der Schatten, so schaut zwischen dem Dornengerank der Erlebnisse Brentanos der reine, hohe Geist des Dichters und segnet mich mit jedem seiner Gedichte, das ich lese.

Viele brechen über ihn den Stab, weil er in die mystischen Gänge des Katholizismus seinen Schritt trug und an dem Siechbett einer verzückten Nonne Gott suchte. Aber vielleicht hatte er gerade da den tiefsten Frieden für seine Seele gefunden, denn:

Das höchste Glück des Menschen ist, seine Sehnsucht im Gottesbewußtsein münden zu sehen.

Wenn ich so vom Buche aufschaue und in das leise Sterben der Natur blicke, drängen sich unwillkürlich die Worte Brentanos über meine Lippen:

Einen kenn' ich,
Wir lieben ihn nicht;
Einen nenn' ich,
Der die Schwerter zerbricht.
Weh', sein Haupt steht in der Mitternacht,
Sein Fuß im Staub.
Vor ihm weht das Laub
Zur dunklen Erde nieder.
Ohn' Erbarmen
In den Armen
Trägt er die kindlich taumelnde Welt,
Tod, so heißt er,
Und die Geister
Beben vor ihm, dem schrecklichen Held.

Hätte Brentano, als er dies dichtete, schon die große Liebe gehabt, die er am Ende des Lebens empfand, wäre dieses Gedicht nicht geschrieben worden.

11. September 19..

Ist eine Glocke voll Weisheit, voller stiller, fröhlicher Besonnenheit, die Kirchglocke meines Dörfleins.

Sie schreit mir nicht wie eine boshafte Hexe die Sünden der Welt ins Ohr.

Sie schimpft und brummt nicht wie ein alter, verdrießlicher Domherr.

Sie erniedrigt nicht den heiligen Glauben ihres Metalles durch ein rohes, freches Proselytentum.

Ihre Stimme ist ganz Jesu.

Die göttliche Kultur der Wälder und Felder, über die sie läutet, formt ihre Seele, daß sie solch edlen Klang gibt. Nichts in ihrem Singen tönt wie dumpfer Stein, erstickte Liebe, wie Kettengeklirre, haßgewordene Demut, wie ein nächtlicher Wolfslaut, erdrosselte Sehnsucht nach Gott.

Ihr Gesang ist immer ein Psalm der Freude, der keine Demut kennt und voll schwingender, jubelnder Sehnsucht ist, die ungebunden jedem Leben entgegenjauchzt, neue, schaffende Sehnsucht weckend.

Wenn der dunkle Leib des Priesters, bekleidet mit dem farbenschimmernden Prunkkleid, vor dem Altar steht, beschienen von dem düster flammenden Trug der Kerzen, und Gott anruft mit Worten, die er nicht mit der Seele fühlt, dann bittet hoch oben im lichterfüllten Holzgefüge der Turmstube die Glocke Gott um Verzeihung des Frevels.

»… Oh Hochmut, o Dunkel des falschen Wissens, du bist der Tod der Weisheit, der Kerker der Gnade!«

Und froh und selig singt sie über aller Priesterlüge und Menschenschmach den Bäumen und Gräsern das Jesulied zu:

»Liebe, Liebe, Liebe!«

Und alles lauscht …

Denn in ihrem Erz tönt Gottes Herz.


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