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11.

Der glühende Juli lag im Lande.

Der riesigen Gartenmuschel entstieg eine einzige gewaltige Blütenflamme. Eine feine Wolke, aus zartestem Duft gewebt, deckte wie ein seidenes Schlaflinnen alles Eckige und Robuste zu, gab der Landschaft weiche, frauenschöne Linien.

Die Nächte waren lebendiger als die träumenden Tage und sehr kurz und heiß. Hoch oben in der ruhigen Himmelswölbung brannten die Sterne mit einem rötlichen Scheine.

Unablässig, Tag und Nacht, schrien die Grillen auf den Wiesen und Feldern. Die erste Heuernte deckte die gebende Erde und dörrte in der Sonne.

Aus dem Sterben unzähliger Blumen und Gräser schlich das Heufieber in die Heilanstalt. In allen Schlafsälen lagen Patienten, von schmerzhaften Halsentzündungen befallen, in den schneeweißen Betten und murrten über Sonne, Heu und alles mögliche.

Trotzdem herrschten viel Lustigkeit und fröhliches Schaffen um mich herum. Es wurde allenthalben zu dem Feste gerüstet, das man alljährlich um diese Zeit anläßlich des Geburtstages des Direktors abzuhalten gewohnt war.

Nur wenige Tage noch trennten uns von dem Feste. Überall regten sich fleißige Hände, die mit einem Eifer schufen, als gälte es, sich in einigen Stunden gesund zu arbeiten.

Ungezählte Meter Tannenreisig wurden gewunden, viele Kilogramm Bonbons sortiert und jedes einzelne Zuckerplätzchen in farbiges Papier gewickelt, ein Juxbazar aufgestellt und die Gegenstände hierzu mit Nummern beklebt.

Bis in die späte Nacht hinein dröhnten die drei bedauernswerten Anstaltsklaviere unter den Händen der Zufallsvirtuosen, die auf ihnen die Musikstücke für den Festabend probten. In einem der Tagsäle wurde von Patienten eine Nestroysche Gesangsposse unter Schwierigkeiten jeder Art eingepaukt. Bis ins Dorf hinunter hörte man das Pathos der probenden Akteure, so daß gar manches Bäuerlein sich mißtrauisch und empört zu seinem Nachbar äußerte:

»Meiner Seel'! 's kimmt mir so vor, als san dös gor kane schwindsüchtigen Leut', sundern nur fäule Stadtherr'n und Fräulner, dö 's Huasten makieren. A so a Brüllerei! Do werd'n ma jo meine Küah' rebellert!«

Das einförmige wochen-, ja monatelange Dahinleben in dem eisigen Einerlei der Kurvorschriften hatte die Menschen hier wieder zu Kindern gemacht. Die Wünsche der Welt schrumpften zu Wünschen der Stuben ein, und ihre Erfüllung weckte nun mehr reine und über den Tag hinauswirkende Freude als in den fernen Tagen der Freiheit und Gesundheit.

Die Vorbereitungen zu dem Fest und die Erwartung wirkten wie ein erfrischendes und neubelebendes Reizmittel auf die Pfleglinge des Hauses, und viele wachten wie aus einer Lethargie auf, um sich mit einer Tatenlust und Regsamkeit, die man ihnen nicht zugetraut hätte, an den Vorarbeiten zu beteiligen.

Selbst Leute, die sich sonst hochmütig und mürrisch verschlossen gaben, zugeknöpft wie ein Winterrock im Schneegestöber, oder denen die Krankheit und ihre Folgen alles verdunkelten und die erschlaffende Müdigkeit des in sein Schicksal ergebenen Menschen in Herz und Gehirn legten, tauten auf, wurden mitteilsam und ein klein wenig wieder zukunftsgläubig. Ja sogar der anscheinend so despotische Direktor, der keine Widerrede vertrug, aber im Grunde seiner etwas rauhen Menschheit ein naturliebendes, barmherziges Kind war und mit Widerwillen den unerbittlichen, strengen Hausherrn in seinem Benehmen gegen die launischen, unvernünftigen Patienten hervorkehrte, bekam einen milden, freundlichen Zug in seine Bärenmaske und zeigte auf fünf Minuten sein wahres Gesicht. Gleich darauf spielte er wieder den finstergesichtigen Gemütsathleten, vor dessen Strenge Ärzte, Pflegerinnen und Patienten in gleicher Weise zitterten.

Elisabeth und ich gehörten dem Festkomitee an und saßen bei dessen Sitzungen nun oft stundenlang beisammen. Umgeben von den anderen Komiteemitgliedern kamen wir freilich nur selten dazu, uns ein stilles, festfremdes Wort zu sagen. Aber es war für mich schon eine Freude, an Elisabeths Seite zu sitzen und ihren klaren, gegenstandsicheren Ausführungen zuzuhören.

Hie und da war es uns gegönnt – meistens vor Beginn der Sitzungen –, einige Minuten ungestört in einer Fensternische zu verplaudern.

War es ein Plaudern?

Vielleicht für die Neugierigen, die uns beobachteten. Für mich waren diese paar von uns gesprochenen Worte Teile unserer Seelen, die sich schon umarmten, die sich schon küßten im keuschen, beseligten Vorahnen des Kommenden.


Der Festabend war angebrochen.

Wir »Komiteeterer« hatten die letzte Hand ans Werk gelegt. Alles harrte gespannt. Auf allen Gesichtern schimmerte Festfreude. Nur die bedauernswerten Bettlägerigen trauerten in ihren einsamen Sälen wie arme Heimatlose dieser Nacht entgegen.

Das Nachtmahl war überhastig eingenommen worden. Das gefürchtete Grieskoch hatte noch weniger Bewunderer gefunden, als es sonst der Fall war, und die wagenradgroßen Breischüsseln waren unberührt in die Küche zurückgekommen, wo in Riesengefäßen der Sekt für das Fest: Himbeerwasser und Limonade, gebraut wurde.

Auf der Terrasse bewegte sich schon eine bunte, dichte Menge erwartungsvoller Menschen in langsamem Promenieren hin und her.

Noch fehlten einige Minuten auf dem Beginn des offiziellen Festes, noch klang keine Musik der scheidenden Sonne in das klare, friedvolle Gesicht, noch lag etwas Verhaltenes, mit Mühe Zurückgedrängtes in den Bewegungen und Gesprächen der Teilnehmer an der Feier, so als schämten sie sich für das Gefühl der Freude, das in ihren Herzen läutete und über das Bewußtsein, krank zu sein, voll und ganz zu siegen schien.

Als ich an Erna vorbeiging, die mit ihrem weißen Piquékleidchen und dem blonden Haargewirr neben der dunkelgekleideten Elisabeth wie eine junge Birke an eine lebensstarke Erle gelehnt dastand, hielt jene mich einen Augenblick auf und sagte:

»Mir kommt es heute so vor, als müßte ich wieder tanzen lernen und stände vor dem ersten Walzer. Ich habe eine Angst und zugleich eine Freude in mir, die ganz komisch ist.«

Ähnlich wie Erna fühlte wohl die Mehrzahl der sich an dem Feste beteiligenden Patienten. War doch dieser Abend ein Ereignis, dem gar mancher nicht nur mit Freude, sondern auch mit Bangen entgegenschaute.

Wird es auch gut zu Ende gehen? Wird die ungewohnte Aufregung keine Verschlechterung in seinem Befinden nach sich ziehen?

Freilich gab es auch viele unter den Kranken, die wie in einem Rausche umhergingen und nur an das Vergnügen der nächsten Stunden dachten. Zu denen gehörte auch Schmutzer. Der unverwüstliche Eulenspiegelkopist hockte, halb Riesenheuschrecke, halb Faun, mit in die Ferne strebenden Storchbeinen auf seinem Liegestuhl, umgeben von einer lachenden Schar Patienten und generalprobte ein Lied, das er sich für diesen Abend gedichtet hatte und das einen wunderschönen Vers auf »Temperatur-Hamur« besaß, den Schmutzer in allen Tonvariationen seinem Publikum vorgröhlte.

Da ich noch eine Viertelstunde Zeit hatte, bis mich meine Pflicht als Komiteeherr an meinen Platz wies, wollte ich noch schnell Feinhals besuchen, der wegen einer schweren Halsentzündung im Bette liegen und schwitzen mußte. Er war der einzige vom Feste Verbannte in seinem Schlafraum, fühlte sich aber ganz wohl in der angenehmen, saalkühlen Einsamkeit und freute sich sehr über mein Kommen.

Unser Gespräch befaßte sich zuerst mit Literatur, um dann bei der ersten Gelegenheit in unser liebstes Thema überzugehen: Das Judentum und seine Mystik, Ethik und Zukunft.

Der Tag war in die Büsche gegangen und der Schatten des Abends lehnte an den Fenstern. Eine milde Atmosphäre von Stille und abgeklärter lächelnder Demut erfüllte den Raum, in dem wir uns befanden und durch den eine Nonne huschte, deren weiße Haube wie eine friedliche Lampe im Schachte des Korridors verleuchtete. Durch die hohen, torähnlichen Fenster schwang sich, gemildert durch die Entfernung, manchmal auftönend wie ein Ausklingen von Musik, das Geplauder der festfreudigen Menge auf der Terrasse.

Und neben mir erzählte einer von der tausendjährigen Qual eines uralten Volkes, von seinem ewigen, unvernichtbaren Hoffen aus Erlösung, von seiner in Schmutz und Demut verborgenen Kraft. Feinhals' jungem Munde entstiegen die Worte wie einem hundertjährigen Greise, und ich sah in seinen braunen, schwermütigen Augen die Weisheit ungezählter Ahnen, die doch nichts anderes ist als erlebte Sehnsucht, die im Enkel wieder Wunsch wurde. Geheimnisvolle Buchstabenbilder formte seine Zunge. In ihnen tönte der Klang von Schwertern, zischte das Flammenfauchen der Scheiterhaufen, klagte das Gestöhn gemordeter Kinder, schallte das Klingen heiliger Tempelgefäße, das Knistern der Seiten mächtiger Folianten und selten, selten ein fröhlicher Zitherschlag und ein frohes Halleluja. Sie kamen daher wie Wanderer aus allen Ländern der Erde und mindestens so alt wie Ahasver. Einige trugen den Duft von Mandelblüte, Aloe und Myrte in sich, andere rochen wie Blut, verbranntes Fleisch und enge, stinkende Judengassen, und wieder andere wie Grabgewölbe und vermoderte Bücher.

Die Betten im Saale ragten aus dem zunehmenden Dämmer wie Altäre und Opfersteine, wie zusammengeprasselte Brandstöße oder wie die niederen Steinlöcher in einem mittelalterlichen Judenviertel, in deren Dumpfheit die grelle Flamme Jehuda ben Halevy auflohte und Rabbi den Spinoza sich aus den schweren, schwarzen Tüchern der Vergangenheit und weltfremden Verzückung seines Volkes wand, um auf der Straße der Verachtung und des Hohnes die Helle der Wahrheit zu suchen.

Feinhals' Worte glühten mich an:

»Unser Fluch, Freund, die Peitsche, die uns vor bald zweitausend Jahren über die Erde trieb, in das Elend der Geächteten hinein, ist der allzu starke Drang zur Vergeistigung alles Stofflichen, ein Allzuwenig an trotziger Liebe zum materiellen Leben, zu dem Leben der Natürlichkeit, das sein Genüge im Tun der Hände findet und die Schau ins Dunkle den Sternen überläßt. Wir verließen die Ackerscholle, weil sie uns zu wenig an Wundern gab, und wir wurden geächtet und gemieden von der Zeit an, wo unserer geistigen Sinnlichkeit die Erde zu klein ward und wir nach einem Märchendasein verlangten, das dem Boden unserer Heimat fremd war.«

»Ein neues Judenreich?«

»Es wird keines mehr entstehen. Wir sind die ewig Wandernden geworden, weil wir die ewig Unzufriedenen unter den Menschen sind. Wir sind zu schwach, um in der Zukunft einen starken Staat zu bilden. Denn stark und mächtig müßte er sein, um sich autonom verwalten und entwickeln zu können. Unter der Schutzherrschaft irgend einer anderen Nation zu leben, würde für unsere Kultur den Tod bedeuten; für unsere Kultur, die sich – so paradox es klingen möge, ist es doch Wahrheit – gerade durch das Zerstreutsein ihrer Angehörigen über die ganze Erde seltsam rein erhalten hat. Wir würden Türken unter Türken, Franzosen unter Franzosen, Engländer unter Engländern werden, oder – wieder Ausgestoßene, mit dem gelben Schmähkreuz Behaftete, wie einst im Mittelalter.«

»Und der kulturelle Wert des Zionismus wäre also ein illusorischer!« warf ich ein.

»Nein, durchaus nicht! Der Zionismus ist eine die Trägheit ungezählter Massen Juden umpflügende Kraft. Der Sozialismus des jüdischen Ostens. Er kriecht in Löcher, worin der blindeste Aberglaube mit dem gräßlichsten sozialen Elend zusammenhockt, und streut dort den Samen der Aufklärung in einen Boden, auf dem der Sozialismus mit seiner anscheinenden Negierung alles Mystischen mehr Haß und Verachtung auslöst als das Christentum. Die Utopie des Zionismus, die Errichtung eines Judenstaates, hat einen sehr realen Grund. Es ist dies die Bodenreformbewegung unserer Zeit, die der jüdische Geist mit den Träumen seiner phantastischen Seele durchtränkt hat. Doch ich höre schon Violinen und Flöten stimmen. Sie sollen nicht länger bei einem langweiligen, melancholischen Juden sitzen, wo dort unten so viel Freude auf Sie wartet.«

Er gab mir die Hand zum Abschied und zog mich in einem plötzlichen Impuls zu sich heran, indes er mir lächelnd zuflüsterte:

»Merken Sie sich's: Der Mensch, der glücklich werden will, muß viel trotzige Liebe zum Leben haben und den Mut besitzen, des Lebens trotzige Liebe zu erringen!«


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