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12.

Als ich aus der kühlen Nachtstille des schlafenden Hauses in das von vielen Lichtern erleuchtete Abendland trat, hatte das Fest schon begonnen.

Ein aus der Stadt verschriebenes Quartett, bestehend aus zwei Geigern, einem Guitarre- und einem Flötenspieler, trug einem Walzer nach dem andern vor, so daß die Füße der auf Stühlen vor dem Podium sitzenden Patienten heimlich zu wippen begannen.

Die lockenden Töne der Musik mischten sich mit dem Leuchten der Lampions und mit dem süßen Duft der blühenden Sträucher und Blumen und verdichteten sich zu einer wohligen Atmosphäre keuscher Sinnlichkeit.

Alles war vergessen: Krankheit, materielle Sorgen, Heimweh. Die Leute saßen wie Kinder da, tranken Musik, Licht, Freiheit und bewegten sich wie in einem Traum. Im Dunkel lag das große Haus. Niemand sah es und dachte an seine Räume, in denen die Sorge herumschlürfte und die Angst vor Siechtum und nahem Tod. Seine Fenster blickten heute wie starblinde Augen in die helle Nacht. Nur der schläfrige unlustige Schein der Nachtlämpchen schlich sich aus ihnen wie Bettler in den frohen Kreis der Lichtstrahlen auf der Terrasse.

Ich setzte mich neben Elisabeth und sog wie köstlichen Wein diese schwebende, einfache Musik ein, die weich, hingebungsvoll, im Glück weinend, in der Trauer, leise lächelnd, bald taumelnd und jubelnd vor Freude, bald ergeben und demütig vor einem harten Schicksal steht wie alles Echte, das aus dem Boden der Märchenstadt an der Donau, meiner Heimat, kommt.

Eine Hand nahm die meine und führte mich auf einer waldbekränzten Straße meiner Heimatstadt zu.

Nun stand ich auf einem mäßig hohen Berg, und zu meinen Füßen lag das mondbeglänzte Wien. Aus einem blausilbernen Nebel hoben es langsam meine Blicke zum Schauen für meine Seele empor.

Und ich staunte über ein Wunder.

War das, was sich da in einem herrlichen Bilde vor mir ausbreitete, die dumpfe, steinkalte Stadt, die mit ihrem grauen Qualm meine Kindheit erstickte, in deren schrecklichen Fabriken meine Freude am Leben starb und deren Staub, Rauch und die Granitsplitter ihres Straßenpflasters mir die Lunge zerrissen und den Blick in die Sonne trübten?

Was hat auf einmal diesen ungezählten Steingiganten der Fabriksschornsteine, diesen rot- und schwarzgeschieferten Dächern, die wie Gletscher gleißten, diesen Quadernklötzen Hunderttausender Häuser ihre geheime Stimme gegeben, mit der sie nun zu mir sprachen, ihre eigentümliche Schönheit, die ich nun wie eine Offenbarung empfand? Warum sahen mich auf einmal Millionen Fenster mit den Augen der tiefsten Freundschaft an, und warum sang mir jede Gasse und Straße und jeder Platz, die ich früher wie ein heimatloser, feindlicher Knecht begangen, die herzsüße Strophe von der Heimatliebe vor?

Wie kam es doch, daß eine große, unendliche Liebe für diese gewaltige Stadt in meinem Herzen wie Frühlingswind aufsprang und mich die Anhöhe, auf der ich stand, hinuntertrieb, und daß ich durch die Gassen ging mit Tränen in den lachenden Augen und einem Gebet in der andächtigen Seele, das nur aus einem Worte bestand:

»Heimat!«

Und daß ich Tore küßte und Mauern streichelte und einen Baum umarmte, der in einem Parke stand, in sein Laub hineinjauchzend:

»Heimat, Heimat!«

Und daß ich mich in eine kleine Vorstadtschenke setzte, darinnen es von dünnem Branntwein, Tagschweiß und müder Liebe roch, und zu den zittrigen Klängen eines verstimmten Orchestrions mit Innigkeit und heiliger Begeisterung sang:

»Heimat, Heimat, Heimat!«

Und daß …

»Karl, lassen Sie doch ein wenig meine arme Hand aus, Sie haben sie mir ja schon halb wundgedrückt!«

Ich sprang aus meinem Traum in die Wirklichkeit zurück, schlug die verzückten Augen auf und saugte mit ihnen das Lächeln Elisabeths ein, deren Hand ich immer noch in der meinen hielt.

Nun wußte ich, wer es war, der mich soeben in die Stadt meiner Geburt und meines vergangenen Lebens geführt hatte, der die Heimat zu mir reden ließ wie die Mutter zum trotzigen Kind, liebevoll, gütig, verzeihend, der mir die Heimat zu schauen gab, so wie ich sie noch nie gesehen: gewaltig schön und voll menschlichen Verstehens.

Es war die Liebe zu Elisabeth.

Nach dem Theaterstück – einer einaktigen Posse von Nestroy – das von einigen Patienten mit übermütiger Lustigkeit gespielt wurde, gab es eine halbstündige Pause, während der auf der lichtüberfluteten Terrasse, die der schwarze Wald- und Wiesengrund gleich
einem nachgedunkelten, alten Rahmen umspannte, Promenade abgehalten und Erfrischungen herumgereicht wurden.

Nachdem ich für Elisabeth und mich zwei Gläser Limonade erkämpft hatte, schritten wir beide langsamen Schrittes und ohne ein Wort zu sprechen dem Walde zu, der mit einer dichten Tannengruppe wie mit einer mächtigen Gotteshand in die leuchtende Buntheit und den fröhlichen Lärm der Abendunterhaltung hineingriff.

Mir war es so zu Mute, als hätte ich Elisabeth schon alles gesagt und verkündet: von meiner großen, heiligen Liebe zu ihr, meiner innertiefen Umwandlung, die diese Liebe bewirkte, und als gingen wir nun beide, jedes begnadigt durch des anderen Leben, einem herrlichen Ziele entgegen.

Aber es war noch alles zu sagen …

Bald umfing uns der schwüle, kräftige Atem des Waldes, der, obzwar geheimnisschwarz und rätselstumm, dennoch voll des brennenden, schaffenden Ewigkeitsdranges war. Seine Stille kam uns wie ein mütterliches Verstehen entgegen, umarmte uns mit weichen, fraulichen Händen und führte uns in ihre
lebendige Einsamkeit, indes hinter uns das Dunkel zusammenschwebte wie ein samtweiches, faltiges Vorhangtuch.

Nur wenn wir die Augen zurück und zur Höhe der Baumwipfel wendeten, konnten wir zwischen den türmigen Tannen einen bleichen Schimmer hängen sehen, gleich einem feinmaschigen fraisefarbigen Schleier: der Lichtreflex der Bogenlampen auf der Terrasse, die wie kleine Siriusse über dem lauten Gewimmel vieler Menschen brannten.

Wir standen allein in einem riesigen Raume. Eines sah nur das andere und begriff den Lebensinhalt dieser Minuten nur durch ihn.

Keines sprach das kleinste Wörtchen. Nur unsere Herzen tönten. Es war, als lägen sie in unseren Händen.

Nun nahm Elisabeth das meine und drückte mir dafür ihr glühendes Herz in meine zitternde Hand.

Wie das brannte. Eine Flamme zuckte daraus empor. Das Leuchten, das in der Höhe hing, mischte sich mit dem Glühen, das auf einmal aus jedem Baum des Waldes hervorzubrechen schien.

Geigen- und Flötentöne sprangen über die Wege zu uns herein in den Wald. Sie wurden Funken, die wie kleine Sönnchen von meinen Augen aufstrahlten.

Und meine Blicke fanden in die silberblaue Tiefe zweier Sterne. Das waren die Augen Elisabeths.

Und meine Lippen preßten sich auf eine duftende Blüte. Es war Elisabeths Mund.

Eine nachtschwärmende Grasmücke erhob ihre Stimme. Sie sang es in die nächtliche Welt hinein, das hohe Wunder dieser Stunde; Elisabeth war mein Weib geworden.

Einer gütigen Mutter gleich schob uns der Wald auf den kiesglänzenden Weg hinaus. Die fröhlichkeitdurchzogene Muschel des Wiesengrundes breitete sich vor uns aus. Hand in Hand wie Kinder schritten wir zur Terrasse empor.

Oben sang ein Frauenmund Brahms' »Wiegenlied«.

Mir war es so, als müßte ich mich zurücklehnen in die Obhut zweier guter Frauenhände und mein größtes Glück, das mir je geworden, in meine Träume hinübertragen.

Da ließ Elisabeth meinen Arm frei und flüsterte:

»Du, Karl, jetzt müssen wir wieder vernünftig sein. Für den Spott und die Klatschsucht der Menschen sei uns unsere Liebe zu heilig!«

Wir trennten uns und verloren uns, eines da, eines
dort, in der Menge.

Aber ich ging den Rest des Festes wie ein seliger Traumwandler umher, fühlte Elisabeths Herz an meiner Seite singen und grüßte die silbernen Wanderer der Milchstraße, die mich mit dem Glanze ihrer himmlischen Augen segneten.


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