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8.

In Begleitung Elisabeths sah ich nun des öfteren ein Mädchen, das, seit einigen Wochen in der Heilanstalt, bisher wegen Fieber bettlägerig war.

Dieses Mädchen schritt meistens mit noch immer etwas bettschweren, trittunsicheren Füßen an der Seite Elisabeths, diese um ein Vieles überragend, an den gewöhnlichen Abendspaziergängen langsam auf der Terrasse auf und ab, unruhig mit den zarten, überlangen Händen hin und her schlenkernd. Dabei schob es den leicht gebückten, wie eine römische Gemme edel geformten Kopf, um den ein nie geordnetes blondes Lockengewirr im leisesten Luftzug wie feinster Flaum bebte, nach vorn, als wäre es in einer ewigen Ungeduld über die Krankheit, die seine Füße zu dieser Schneckenbewegung zwang.

Seine grauen Augen, die im Verhältnis zu dem übergroßen, schlanken Körper und dem kräftig modellierten Kopf klein zu nennen waren, hatten einen stetig wechselnden Ausdruck in ihrem Blicke. Bald lag darin die noch unangetastete Keuschheit und schamhaft staunende Lebensfremdheit eines Kindes, bald las man aus ihnen die ängstliche, frierende Scheu eines seiner Schwäche und Hilflosigkeit bewußten Wesens. Aber gleich darauf konnten sie einen starren, grausamen Ausdruck bekommen, der von einem frühreifen, entsetzlichen Wissen zeugte. Dann nahmen die harmlos grauen Pupillen eine harte, grüne Färbung an, so wie ein tiefer, gefährlicher Wassertümpel.

Die Stimme dieser neuen Freundin oder, besser gesagt, Leidensgefährtin Elisabeths hielt sich immer in einem dunkelgedämpften Alt, der nur sehr selten seine Tongrenze überschritt und dem ich gern lauschte, obzwar er in mir immer die Vorstellung von etwas lebendig Begrabenem erweckte.

Dieses Mädchen trug zu den meisten Stunden des Tages einen silbergrauen enganliegenden Regenmantel aus dünnem Clothstoff, der die Schlankheit, die diesem jungen Körper gegeben war, noch schärfer heraushob und das Mädchen noch jünger erscheinen ließ, als es in Wirklichkeit war. Stand es aber mit seinen achtzehn Jahren neben Elisabeth, so bewirkte es deren stille Fröhlichkeit, daß diese trotz ihrer vierundzwanzig Jahre jünger aussah als ihre blutjunge Freundin, über deren Gesicht gar selten das Lächeln ungetrübter Freude huschte.

Im Kreise der übrigen Patienten wurde viel über dieses Mädchen herumgesprochen, das so ganz anders war als der große Durchschnitt der weiblichen Pfleglinge. Durch seine manchmal ganz absichtslos hingeworfenen kühnen Worte hatte es sich in den Ruf einer zwar sehr gebildeten, aber auch leichtfertigen Person gebracht, so daß einige ihrer harmlosen und nichtssagenden Bewegungen und Blicke genügten, es als eine raffinierte Erzkokette zu verschreien.

Es dauerte deshalb nicht lange, so war dieses junge, sehr kranke Mädchen eines von den Leuten, um deren Worte, Schritte und Handlungen sich dreiviertel Teile der von Langeweile heimgesuchten Insassen der Heilanstalten kümmerten, ohne daß es zur Erlangung dieser zweifelhaften Ehre irgendwie bewußt beigetragen hätte.

Erna – so hieß das Mädchen mit dem Vornamen – hatte sich anfangs Elisabeth angeschlossen, weil sie ihre Bettnachbarin im Schlafsaal war und auch in der Liegehalle den Platz neben ihr hatte. Da sich nun Elisabeth gleich an dem ersten Tage ihrer Bekanntschaft Ernas freundlich und hilfsbereit annahm, wollte diese nicht mehr von deren Seite weichen und folgte Elisabeth in allem und jedem. Das führte dazu, daß ich in Kürze mit dem Mädchen bekannt wurde.

Wenn ich mit Elisabeth sprach und Erna neben uns stand oder einherging, schaute diese immer zuerst auf mich, als wollte sie fragen, ob ich ihre Nähe erlaube, mischte sich selten in unsere Gespräche und verschwand nach einer kleinen Weile von unserer Seite wie windverweht. Sie hatte eine seltsam feine Art, diskret zu sein und ihre Bekannten von ihrer Unaufdringlichkeit zu überzeugen. Mir kam es oft so vor, als könnte sie sich zur gegebenen Zeit taub und blind machen und als ginge dann nur ein seelenloser Menschenautomat an unserer Seite dahin, vor dem wir ungescheut die geheimsten Regungen des Innern in Worte umprägen konnten wie vor einer Marmorstatue.

Ihre grauen Augen nahmen bei solcher Gelegenheit einen kindlichen, keuschen Ausdruck an, der dem Gesicht eine süße, reine Güte lieh.

Merkwürdig und zugleich abstoßend mutete mich manchmal Ernas wildes Herumbalgen mit einer Schar junger männlicher Patienten an, die von uns anderen die »Borussen« genannt wurden.

Es waren dies sechs oder sieben Studenten und Beamte, die das Ehrenwort »deutsch« auf ihren Nasen herumbalancierten und es mit dem Beiwort »national« zur Karikatur erniedrigten; die als einzig erstrebenswertes Ziel die Niedermetzelung aller Slawen und die Verkündigung eines geeinigten deutschen Weltkaisertums mit autokratischen Regierungsformen ansahen und Karl May als dem größten Dichter deutscher Zunge huldigten. Sie sangen Lieder von deutscher Bier- und Tabakfreiheit und trugen mit heroischen Heldenstimmen Variationen auf Gedichte von Goethe und Schiller vor, die ohne Unterschied einen stark lüsternen Beigeschmack hatten. Waren frech wie die Spatzen und auch so feig wie diese gefiederten Allerweltsvagabunden. Dieser Schar »Jungdeutschland« hatten sich noch einige »alte Herren« angeschlossen, arme Menschen, denen ihr Alter nichts als eine leider unheilbare Gehirnverkalkung eingetragen hatte und die nun ihre abnorme Geistesverknorpelung von den begeisterten »Jungmannen« anstaunen ließen, die in diesen greisen Biertöpfen ihre leuchtenden Vorbilder sahen.

Mit diesen Gesellen raufte Erna in der Vorhalle oder auf den Gängen oft so lange herum, bis sie sich atemlos, keuchend, vom Husten überfallen, an die Wand lehnen mußte, umringt von einer Horde johlender Burschen, vor deren frechen Zudringlichkeiten sie sich kaum wehren konnte.

Als ich einmal Elisabeth auf eine solche tolle Szene aufmerksam machte und meinem Unmut darüber mit Worten Ausdruck gab, sprach diese, indes sie die bebende Gestalt Ernas mit einem mütterlichen, liebkosenden Blick streifte:

»Mein lieber Freund! Diesem armen Mädchen ist viel von seiner Kindheit und späteren Jugend, die Felder, freie Straßen und ein freies Herumtollen zum Gedeihen braucht, gestohlen worden. Jetzt holt es sich halt einen kümmerlichen Rest davon zurück!«

Ich konnte dieser gütigen Entschuldigung in meinem Innern nicht zustimmen. Die katzenhafte, wilde Gier, die jede Bewegung von Ernas Körper im raufenden Spiel annahm, und der harte, grausame Blick, den dabei ihre Augen aussendeten, ließen mich anderes denken, ich schwieg aber vor Elisabeth darüber.

Diese mochte jedoch wohl gefühlt haben, daß ich mit ihrer Entschuldigung für Erna nicht zufrieden war, denn nach einer kleinen Pause sagte sie:

»Manche Menschen haben die schöne Gnade mitbekommen, in jeder Leidenschaft, bis in das späte Alter hinein, ein Kind bleiben zu dürfen und wie dieses fühlen zu können. Ich glaube, daß Erna zu ihrem Glück ein solcher Mensch ist.«

In dieser Zeit schloß sich auch an mich ein Mitpatient näher an, mit dem mich bald eine schöne, innige Freundschaft verbinden sollte.

Es war dies ein junger Jude aus irgendeinem kleinen Landstädtchen in einer der östlichen Provinzen der Monarchie, den die Krankheit seiner Lunge vor zwei Jahren aus dem mittelalterlichen Dunkel der Talmudschule herausgerissen hatte und der nun durch das Zwielicht westlicher Kultur wanderte, mit dem einzigen heißen Wunsch, die volle Sonne der Menschenweisheit zu finden.

Schon um einige Wochen länger als ich in der Heilanstalt, war er mir nie besonders ausgefallen und niemand hatte mich auf ihn aufmerksam gemacht, da er ein in sich versunkener Mensch war. Obwohl mit dem starken Beobachtungssinn seiner feinnervigen Rasse begabt, wollte er nie den geringsten Anschein erwecken, als sei es ihm jemals darum zu tun, ein ihm fremdes Dasein unter die scharfe Lupe seines Erkennens zu ziehen. Höchstens daß er wegen einiger an das Ghetto erinnernden Eigenheiten hie und da die Zielscheibe mehr oder minder harmloser Neckereien war, die er ruhig über sich ergehen ließ. Sonst beschäftigte sich kein Mensch näher mit ihm.

Ein Gedicht von mir, das in einer in der Heilanstalt aufliegenden Zeitschrift veröffentlicht war, führte mir den Nachmann Feinhals – so hieß der junge Jude – zu.

Schüchtern, mit leiser, aber bestimmter Stimme bat er mich im Speisesaal, mit ihm nach dem Essen eine halbe Stunde spazieren zu gehen, er möchte mit mir gern über mein Gedicht sprechen. Aus der erbetenen halben Stunde wurden bald zwei, und als wir schieden, wußte ich, daß ich in Nachmann Feinhals einen Freund gefunden hatte, der mich reich beschenken würde.

Feinhals und ich gingen nun jeden Tag zusammen spazieren, verbrachten die Zeit zwischen dem Abendessen und dem Schlafengehen gemeinschaftlich, und am vierten oder fünften Tage unseres Bekanntwerdens stellte ich ihm Elisabeth und Erna vor. Von da an verbrachten wir oft zu viert die Stunde vor dem Abendessen auf der Terrasse, bis die Glocke unsere Gespräche zerriß.


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