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10.

Aus jener Zeit sind mir Tagebuchblätter in die Hände gefallen. Auch andere dürfen sie lesen.

12. Juni 19..

Nun fühle ich erst, daß ich lebe; daß ich mehr bin als die Maschine, die ich vor Monaten verlassen habe und deren eisernes Schwungrad ich nach mir rufen höre, auch jetzt, wo ich so weit von ihr entfernt bin.

Ich bin wie aus einer langen, sehr langen fiebrigen Nacht erwacht; wie aus einem Nebel der erstickendsten Qual tauche ich auf und meine mißhandelten Sinne müssen über eine steile, hohe Mauer klettern, bis sie begreifen dürfen, daß sie nun in der Wiese der Freiheit stehen.

Meine Augen schleichen noch wie scheue, verprügelte Waisenkinder umher und wollen es gar nicht recht glauben, daß ihnen eine solche Welt von Schönheit gehört.

Meine Ohren verschließen sich noch immer zur Hälfte, gleich den Türen eines Siechenhauses, vor dem Tone der Freude, der sie nun allenthalben umtönt.

In meiner Nase hockt, wie ein zudringlicher Bettler, der Öldunst aus den Fabriken und kämpft einen stummen, erbitterten Kampf mit dem Blumenduft.

Mein ganzes Fühlen und Denken ist noch zum Teil im Banne der hastenden Arbeit.

Oft drehe ich mich plötzlich, erschrocken bis ins Mark, um, in der Vorstellung, der mürrische Werkführer stehe hinter mir, und ich fühle seine harten, eisernen Blicke vernichtend auf mir und meinem Nichtstun ruhen.

Oder es kommt mir vor, als stände ich wieder vor der ächzenden Drehbank und ließe in ihr lautes Gekreisch mein hohles Husten wie ein Verbrechen verschwinden.

Aber dann johlt ein Kuckuck in Waldesnähe und aller böser Spuk ist verschwunden.

Ich sehe wieder köstliche Wirklichkeit: Felder, Berge, Wälder und Dörfer und mitten darin mich, den freien, glücklichen Menschen.

Meine Lunge gibt Ruhe und heilt. Der Hauch der Bäume und Blumen streicht über ihre Wunde und ist wie der Wunderbalsam heiliger Einsiedler.

Auch mein Gehirn, das früher so wilde, zuckende, haßzerwühlte, ist seltsam gütig und abgeklärt geworden und sinnt nun über Dinge nach, die fern allem Streit um Brot und Herrschaft liegen.

Die erdstarken Instinkte sonnenkräftiger Menschen, deren Blut heiß war und unklug ihr Sinnen, die aber unsagbar glücklich waren in der Welt und den dunstbegrenzten Raum einer Hütte verachteten, die hunderte Jahre schon tot sind und deren Gräber im Winde liegen, heben sich zaghaft in mir auf und tasten aus dem kranken Leibe des Enkels erst sacht und vorsichtig, dann kühner und kühner wieder an dem Leben und seinen Erscheinungen herum.

In der Tiefe meiner Seele spüre ich, wie sich allmählich mir fremdartige und doch wieder vertraut vorkommende Besonderheiten aus den Eisensesseln der knechtischen Gewohnheiten lösen und wie jeder Nerv, jeder Gedanke in einem breiten Atemzug sich ausdehnt und neue Grenzen sucht.

Einstweilen bitte ich noch jeden Grashalm, an den ich streife, mir zu sagen, welcher Art er ist.

Es wird aber eine Zeit kommen, wo ich tief in die Reihenfolge ihrer Geschlechter blicken und sie alle kennen werde.

Und das wird bald sein, denn ich liebe sie schon sehr, diese tanzlustigen hin und her schaukelnden, schmaldünnen Messerchen, die so fein ziseliert sind.

Noch bleibe ich vor allen Bäumen stehen und messe meine Zwergheit an ihrem himmmelstürmenden Wuchs und fühle, wie mein Staunen an den Wäldern hängen bleibt, die sie nah und fern bilden.

Jede Blume ist für mich eine Erscheinung aus einer anderen, schöneren Welt.

Daß es so etwas gibt!

Niederkniend senke ich meine Blicke in die Farbenwunder der Bäume, und wenn ich einen Blumenstern heimtrage, so komme ich mir vor wie Maria, die das Kind Jesu über die Straße trägt.

Das Reinste auf Erden!

Ohne Bäume, Blumen und Wolken gäbe es keine Legenden, Märchen und Sagen, die unser Herz an die große Heimat binden.

Bäume, Blumen und Wolken tragen unsere Sehnsucht als Erfüllung in sich und machen damit die Heimat schön und reich.

Es gibt nur eine Heimat – die Natur!

Lange, lange Jahre war ich in der rauhen Fremde, schritt durch Kälte, Schnee und Eis, das oft bis an das Herz reichte.

Nun bin ich in der Heimat.

Wie singt die Sonne und blüht mein Weg!

15.Juni 19..

Schleppend ist mein Schritt und keuchend.

Die sanfte Anhöhe, in der die hochgrasige Wiese verläuft, ist meiner kurzatmigen Brust ein Montblanc.

Doch alles in mir strebt dort hinauf. Immer und immer wieder springt mein Blick zum Bühel hinan und lauscht mein Ohr zu den breitästigen Holzapfelbäumen hinauf, die über den Hügel ihren väterlichen Schatten werfen und in deren ewig unruhigem Laub ein Geist sitzt, der meiner Sehnsucht winkt.

Winkt und singt:

Von seltsam geformten, unirdisch strahlenden Blumen, in deren Kelchen die wundersamsten Geschehnisse liegen. Von Vögeln, die mit menschlichen Stimmen reden und weise sind in ihren Worten, die von Anfang und Ende der Dinge reden.

Von Infekten mit Glanzaugen, die wie kleine Sonnen leuchten und mir den Weg zu den Schatzkammern dieser Landschaft zeigen wollen.

Und von einem Tiere, halb Katze, halb herrliche Jungfrau, das noch kein Mensch gesehen und das man nur singen hört, traurig und klagend, in den Nächten, da eines der keuschen Dorfmädchen zum wissenden Weibe wird.

Ich weiß es ganz sicher.

Alles dies würde ich sehen, und noch vieles andere Unbegreifliche würde mir enthüllt werden, wäre meine kranke Brust nicht das Hindernis, das mir den Weg zur Gralshöhe hinauf verschließt.

Die Sehnsucht läßt mir keinen Frieden. Sie brennt im Herzen, flammt im Gehirn auf, und ihre Glut frißt alle Gedanken, die sich nicht mit dem baumgekrönten Hügel beschäftigen.

Sie zwingt mir die Füße zum bedächtigen Schritt und legt ihre Hand auf die zitternde Brust, in der die Lungenflügel wie Maschinenkolben schlagen.

Etwas in mir, das mächtiger ist als die Krankheit, schiebt mich vorwärts.

Meine Willenskraft schwellt jeden Muskel des Leibes. Alles drängt vorwärts, der Höhe zu.

Hinter den Schläfen pocht die Anstrengung, heiße Ströme rinnen über meine Brust und Schultern, dampfenden Nebel entstößt mein Mund.

Das grüne Land vor mir glimmt im grauen Glanz, sprüht silberne Funken, und meine Hände fingern nervös, als wollten sie der armen Lunge helfen und Luft einatmen. Die Atemlosigkeit steigert sich mehr und mehr. Plötzlich bleibe ich wie versteinert stehen.

Ich muß eine ganze Welle ruhen, neue Kräfte sammeln für meine Entdeckungsreise.

Ich pruste wie eine Lastzugslokomotive bei einer Bergauffahrt. Dabei ist es mir, als wäre ich aus glühendem Eisen geformt.

Eine große Weinbergschnecke schleppt im schaukelnden Kriechen ihre Kalkhütte an mir vorbei.

Gestern sah ich sie schon weiter unten auf dem Wege. Sie hat wohl das gleiche Ziel wie ich.

Über mir in der flirrenden Bläue zieht eine Krähe in gemächlichem Gleitflug dem Norden zu.

Sie hat nicht die Pfeilflügel des Seeadlers, der so schnell wie die Seele des Sturmes Meile um Meile besiegt; aber sie wird wie dieser eines Tages die kühlen Fluten des nördlichen Meeres schauen.

Ein Erschrecken über mein feiges Nachsinnen zur Umkehr steht in mir auf.

Ich raffe mich zusammen, straffe aufs neue jede Sehne, atme mit verbissenen Zähnen und trachte nach besten Kräften, der Weinbergschnecke zu folgen und sie zu überholen, die mich mit der Krähe Ausdauer lehrte, Ausdauer, die eines der große Werke schaffenden, ewigen Weltgesetze ist und von der ich in meinem früheren Staubleben keine Ahnung hatte.

Endlich!

Die Höhe ist erklommen. Ich lehne an dem Stamm eines der Baumgreise, halte die Augen geschlossen, esse gierig Luft wie ein zu Tode gehetztes Tier und – lache das Lachen eines Siegers.

Ich bin bei den strahlenden, Geheimnis bergenden Blumen und höre der Weisheitsvögel Zaubergesang.

19. Juni 19..

Wie lebt ihr Menschen?

So fragt mich der Wald.

Er wartet nicht auf meine zage Antwort, sondern rauscht mir sie selbst in mein schamrotes Gesicht:

»Ihr lebt wie Narren, wie irrsinnige Verbrecher, die ihre Tat nicht messen mit dem Maße der ewigen Logik!«

»Auf euren Körpern lastet die Schwere des Samtes und der Seide, und ihr denkt nicht an die Vielzuvielen von euch, denen kein Hemd gewoben wird, um ihre elende Nacktheit zu verbergen!«

»Der freche Glanz der Perlen, Edelsteine und anderer Zieraten aus Gold und Silber, die auf euch hängen, erstickt den wahrhaften Strahl eurer Augen, der ein Fünkchen heilige Sonne ist, und ungezählte Grollende und Tagverfluchte haben nicht einmal den griffblanken Heller, den eine Schnur zum Aufhängen kostet.«

»Ihr entzündet künstliche Feuer und versteckt euch vor der gütigen Sonne!«

»Ihr lasset die Helle des Mondes und der Sterne nicht in eure Stuben strömen und scheuet euch vor dem Hauch des Windes wie vor dem Atem eines Pestkranken!«

»Tote Steine, ermordete Bäume mauern euch ein, und ihr segnet nicht die Kraft eurer Füße, die, wenn ihr nur wolltet, euch hinaustragen würden zu uns, den lebendigen Wäldern, auf die ewigheiteren Stirnen der Berge.«

»Aber ihr habt nicht mehr den Willen zur Schönheit, zur Reinheit der Natur!«

»Euer Herz ist eine Uhr geworden, das Gehirn eine Rechenmaschine!«

»Ihr sucht neue Weltteile, wollt selbst auf den Sternen neue Erde gründen und habt noch nicht gelernt, auf dieser Erde glücklich zu sein!«

»Jeden Tag lügt einer den anderen einen neuen Gott vor und verleugnet den Gott in sich.«

»Jedes Schwingen eurer Nerven, jede Welle eures Blutes, die kleinste Silbe eurer Sprache, alles um euch, in euch, was Mensch heißt und seine Tat ist unwahr, ist Lüge und abermals Lüge!«

»So lebt ihr, so leben tausend Millionen Menschen, deren Häupter die Sonne salbt und deren Füße die starke und geduldige Mutter Erde treten!«

So spricht der Wald, und mein Herz zuckt und schmerzt in arger Scham.

Und der Wald predigt weiter:

»Wie schönheitverklärt, erhaben vor sich selbst, mächtig in Güte vor den anderen Dingen könnte euer Leben sein.«

»Eine ewige göttliche Trunkenheit, ein Glück, klar wie der Sommerhimmel, tief wie der unendliche Lichtbrunnen der Sonne, könnte euch durchdringen, umfassen.«

»Sagt mir nicht, es sei unmöglich, der Welt eine glückliche Menschheit zu geben!«

»Nur schaffen müßt ihr lernen, ohne Lüge, in der vollen Helle der Wahrheit!«

»Schaffen mit dem Herzen in der Hand und der Liebe im Gehirn!«

»Schaffen mit dem Sinne des Gebenden und nie mit dem heimlichen Hohn und Spott des Nehmenden!«

»Schaffen im Raum der Freude!«

»Dann wird Arbeit Tanz sein. Dann wird kein Mund mehr »Bruder« sagen, indes das Herz heimlich »Narr« und »Schuft« zischt.«

»Hände werden sich fassen und ohne Worte und Gebärden Freunde suchen und finden.«

»Und die Wälder und Wiesen und die Sterne, Mond und Sonne werden euch nahe sein, so wie einst, als die große Lüge noch klein und königsverborgen in einem Stalle von Judäa schlief.«

Der Wald schweigt.

Schamgeduckt schleiche ich heim.

21. Juni 19..

Wenn ich über mich nachdenke in dieser grünen Einsamkeit, in der ich das Blut der kleinsten Pflanze rauschen höre, so fühle ich mit starker Sicherheit, daß mein Dasein nicht höher gewertet werden darf als die Existenz irgend eines Wesens im Kreise seines Erkennens.

Der seichte Hochmut meiner Vergangenheit, der mit einer hündischen Demut mein Dasein ausfüllte, verkriecht sich hier, eine lichtscheue Kröte, vor dem Leuchten der Wahrheit, das hier alles, selbst der kleinste Moosstern aussprüht.

So fällt aber auch die Furcht vor den Riesenerscheinungen der Welt von mir ab.

Ich weiß nun, daß ich mit der Erikablüte und mit der drohenden Gewitterwolke in einer Linie stehe. Nicht mehr ein Wesen göttlicher Abkunft, das, verkannt und getreten in ewig zitterndem Bangen, zu seinem Schöpfer aufschielt, oder eines, das sich im plötzlichen Größenwahn aufreckt und sich als Herr über alle Dinge fühlt, sondern ein Teil, der sich mit allen anderen Teilen des All zum harmonischen Weltganzen zusammenfügt und in Wolke und Erikablüte das gleiche sieht.

Hinter zwanzig solchen Wäldern, so lärmscheu und in sich versonnen wie der, in dem mir diese Gedanken kommen, spreizt eine riesige Stadt ihre steinernen Glieder in das verängstigte Land.

Die Luft in dem gewaltigen Ziegelreich ist durchdröhnt von dem Getöse werdender Werke, erfüllt von dem Geschrei der Kaufleute, von dem Gestöhn vieler Art Leides und des Hungers, und nur zutiefst in der Nacht verrinnt dieser Lärm auf eine Stunde in ein zitterndes Seufzen.

Die Seelen aller Dinge und Wesen der Großstadt weinen. Die Seelen der Menschen, Tiere, Pflanzen und der sogenannten »toten« Dinge: der Mauer und Pflastersteine, Dachbalken, Eisenschienen, Motoren, alles dessen, was, aus Holz und Metall geformt, tagsüber knechtisch stumm bleibt und vor dem die Menschen mit toten Händen, Herzen und Augen sitzen, stehen oder daran vorübergehen in der hochmütigen Starre ihres oberflächlichen Erlebens, das fern allem wahren Verstehen ist.

Eine eisige Fremdheit mauert alles ein, was nur ein innerliches Geschehen aufweist und das nur die Seele des Weltliebenden aufspüren und schauen kann.

Und die Großstadt tötet jede Weltliebe, vernichtet schon im Kinde das Bewußtsein des Zusammengehörigkeitsgefühls, das den Gegenständen neben sich Leben einhaucht.

Der Arbeiter steht neben dem mächtigen Schwungrad seiner Maschine und sieht in ihm nichts als ein verderbnisschweres, heimtückisch-stummes Symbol seines Elends und seiner Schmach.

Der Schreiber beugt sich über das knisternde Papier und haßt dieses schweigende, trostlose Feld, auf dem seine Feder ackert, sät, aber nicht erntet.

Der Kaufmann nimmt täglich unzählige der verschiedensten Waren in seine Hände, und sie wecken in ihm keine andere Tat als das Klappern der Rechenmaschine in seinem Hirn.

Und so stehen sie, alle diese armen Großstadtmenschen in ihren wie eine trübe Regenflut dahinströmenden Tagen, Stunde um Stunde vor einem oder vielen Dingen, die sie mit ihrer Profitgier, Teilnahmlosigkeit, ihrem blinden Haß mißhandeln und zu dunklen Feinden machen.

Ohne daß es die Menschen wissen und ahnen, graben ihnen diese Feinde den Schacht des Lebendigbegrabenseins, der immer tiefer wird.

Nur in einer heiligen Stunde, im Mittelpunkt des Zeitkreises jeder Nacht, wenn der Orkan des Großstadtlärms sich wie das Schnauben eines müden Drachen in den verfinsterten Häusern verkrochen hat, finden sich die Seelen der Lebendigbegrabenen und die der Eisummauerten im tastenden Wimmern ihrer bebenden Sehnsucht.

Fühlen sie ihre gemeinsame Not, die der gräßliche Fluch der großen, glänzenden Städte ist:

Das Schauen des Todes im fremden Körper.


Die Meerkatze der deutschen Wälder, ein Eichhörnchen, saust, ein brauner Blitz, im verknüpften Sommergeäst der Buche, unter der ich weile, herum.

Ich betrachte das Tierchen mit der Weltliebe, die mir seit einigen Tagen jede Stunde segnet, und bringe mir seine scheue Seele näher und zum Sprechen.

Das Epos der Erde erzählt sie mir. Den Hirten- und Jägermythos der Urtage, wo es nur Wälder, Steppen und Meere gab und freie Tiere und Menschen.

Wo nichts auf dem Boden dahinkroch als das erdgewohnte Tier und der Mensch sich die Stirn an den Ästen wund riß, nicht gewohnt, den Kopf zu beugen.

Wo das Tier den Menschen grüßte, ihm vertrauensvoll entgegenkam, weil er es nicht für das Geld anderer tötete, sondern es nur erwürgte, wenn ihn selbst hungerte.

Wo die Sonne rein blieb von dem Nebel der Städte.

Und wo die Arbeit eine königliche und gottähnlichmachende Tat freier Menschen war.

Das kecke Tierchen läßt eine Buchennuß auf mich fallen.

Sie zerschellt und stäubt ihren fahnenartigen Samen über mich.

Eines der Samenfähnchen bleibt auf meinem rechten Rockärmel hängen, und ich höre ein feines Stimmlein wispern.

Es raunt mir eine Geschichte zu, so zart und kinderlieb wie ein Märchen der Brüder Grimm.

Und es ist doch die Geschichte des Weltwerdens.

Denn so wie dieses Samenkörnlein sein Fahnensegel hat, damit es der Luftzug dorthin trägt, wo es ein neues Leben schaffen soll, so hat jedes Ding sein äußeres oder inneres Segel, das es an den Platz bringt, wo es ein neues Dasein schaffen kann.

Der Laubatem der Buche weht mir das gelbe Fähnchen vom Rockärmel herab.

23. Juni 19..

Die Kinder des Gärtners – vier Bengel und Engel zwischen vier und zehn Jahren – springen Heuschrecken gleich mit jauchzenden Beinchen über die Wiese.

Ihre rotblonden Kraushaarkrönchen leuchten aus der Vielfarbigkeit der blumigen Fläche wie riesige gelbe Butterblumen.

Sie spielen um mich und den Mechaniker Scheidel herum, einen Patienten, der in die Meinung verbissen ist, daß man alles durch mechanische Werkzeuge erschaffen und reparieren kann, und der vor einigen Minuten zu mir getreten ist, um mir die Materialität alles Lebens zu erklären.

Er ist ein wütender Alkoholabstinent, nachdem er sich früher bald ins Grab getrunken hätte. Dabei raucht er die stärksten Zigarren, anscheinend ohne jeden Protest seiner kranken Lunge.

Mit seiner heiseren, aber trotzdem sehr lauten und bestimmten Stimme, die jedes Wort unsichtbar unterstreicht, sagt er: »Anstatt da wie wahnsinnig gewordene Maikäfer herumzuspringen, sollten die Fratzen lieber ein Schulbüchel in die Hand nehmen und lernen, daß aus ihnen was Tüchtiges wird.«

Ein etwa vierjähriges kugliges Kerlchen purzelt gegen meine Knie und quietscht vor Vergnügen in meine lächelnde Antwort hinein.

»Glauben Sie denn, Scheidel, daß das Lernen die Seligkeit ist oder bringt?«

In Scheidel erwacht der Fanatiker der Idee und er schreit begeistert über die Wiese, so daß die erschrockenen Kinder Reißaus nehmen:

»Seligkeit hin, Seligkeit her! Kommen S' mir doch nicht mit so einem unlogischen Schmarren. Das Lernen ist die eiserne Basis alles Fortschritts, der eine geschichtliche Notwendigkeit ist. Karl Marx sagt in seinem ›Kapital‹ …«

Und er zitiert nun Marx, Engels, Kautsky und noch eine ganze Reihe von Theoretikern, die er wie Götzen anbetet, um mir zu beweisen, daß der einzelne Mensch kein Anrecht habe, seinen eigenen Traum zu träumen, seinen eigenen Himmel zu bauen. Dabei lästert er, wie jeder unkritische, bedingungslos Glaubende, durch die Proselytenmacherei, die hinter jedem seiner Worte hockt und die immer nur bekehren will, den Geist dieser großen Lehrer des Sozialismus und befleckt die Reinheit ihres Denkens, das eine frohe, glückliche Welt schaffen wollte und mir darum wie die Seelen Christus' und Buddhas heilig ist.

Der trockene Gesell stapft, mit dem Spazierstock Blumen und Gräser köpfend, in den Wald, aus dem noch lange seine heisere, lautstarke Stimme an mein Ohr schlägt.

Er predigt dort inmitten der frohen Mystik hundertjähriger Bäume gewiß einem Ungläubigen von der alleinseligmachenden Kraft der materialistischen Lebensauffassung.

Die verscheuchten Kleinen kommen langsam zurückgetrippelt und springen und kugeln wieder fidel um mich herum. Sie nehmen sich bei den Händchen und tanzen einen Reigen um mich. Dazu piepsen sie:

Wie die Offizieren
Gehen wir spazieren.
In dem schönen Garten
Tut dort einer warten,
Dem sein' Braut ist g'storben,
Den Himmel hat erworben.
Jetzt sitzt er auf den Steinen
Und tät' bitter weinen.
Wollen ihm ein Kranzerl machen,
Daß er kann wieder lachen.
Die Blumen sind ja engelrein,
Die aus dem Himmel 'kommen sein.

Die Kinder lösen den Reigen, flattern über die Wiese und kehren jedes nach einer Weile mit einer Handvoll Blumen wieder, aus denen das größte Mäderl einen bunten Kranz für mich windet.

Während des Kranzbindens erzählt es mir mit wichtiger, geheimnisvoller Miene von den seltsamen, zauberhaften Eigenschaften der einzelnen Blumen.

Da ist einmal vor allem der Rittersporn: wenn man jeden Tag bei nüchternem Magen drei Blüten von ihm ißt, wird man so stark wie der Held Simson, von dem eine so schöne Geschichte in der Bibel steht.

Dann der Storchenschnabel: den soll man sich auflegen, wenn man sich bös verbrannt hat.

Die Pfefferminze dagegen ist eine gar schlimme Hexe, die vor vielen hundert Jahren eine Menge kleiner Kinder in ihrem Hausbrunnen ersäufte und zur Strafe dafür von dem lieben Gott in ein Kraut verwandelt wurde, das auf ewig mit den Füßen in nasser Erde stehen muß.

Auch von dem seltsamen »Judenbart«, dem zwerghaften Thymian, der eitlen, spitzenbesetzten Wiesenkresse und der stolzen, keuschen Glockenblume weiß die Kleine süße, einfache Märchen zu erzählen, denen ich mit der gleichen Andacht und Gläubigkeit lausche wie einst als Kind den Sagen und Märchen der Mutter.

Indessen haben sich die Buben verschiedene Tierchen eingefangen und spielen mit ihnen, als ob sie ihresgleichen wären und verständen jedes ihrer Worte.

Da hat einer ein knallrotes Sonnenkäferchen eingefangen, setzt es sich auf die flache Hand und singt es an:

Frau'nkäferl, flieg',
Flieg' nach Maria Brunn,
Bring' uns heut' oder morgen
Eine schöne Sonn'!

Sr, sr, sr summt es, und ein goldigleuchtender Punkt erhob sich von der kleinen, wutzeligen Kinderhand. Ernsthaft blickt ihm der kleine Kerl nach, höchlich zufrieden, daß es morgen auf seine Anregung hin eine schöne Sonne geben wird.

Sein Brüderchen kniet vor einer riesenhaften Weinbergschnecke und schmettert ihr unzähligemal die fürchterliche Drohung zu:

Schneck', Schneck', kriech' heraus,
Sonst kratz' ich dir die Augen aus.

Aber die Schnecke trägt kein Verlangen danach, ihr sicheres Gehäuse zu verlassen, und ihr Beschwörer klagt mir, traurig über das Versagen seiner Kunst:

Dös is a törrische Schneck'n, dös arme Viecherl hört nix.

Die kranzwindende Schwester jedoch ist anderer Meinung und belehrt:

»Dö Schneck'n san faule Viecher. Sö woll'n, wann dö Sunn fest scheint, nix hör'n und nix seg'n!«

Wie viele ungezählte Menschen gleichen doch dieser Schnecke!


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