Karl von Perfall
Der kluge Pitter
Karl von Perfall

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Siebzehntes Kapitel

Auf dem kurzen Weg nach seinem Atelier besann sich ten Holten mit ernstem Bemühen darauf, wer denn in dem Bekanntenkreise der Übeltäter sein könne, der Julie so gänzlich verrückt gemacht habe. So viele Gestalten er auch an sich vorüberziehen ließ, kam er nicht darauf. Dabei sah er sich allerdings auch zu dem Selbstbekenntnis gezwungen, daß er auf den Schwarm, der seiner Frau den Hof machte, nie sonderlich geachtet hatte, sondern immer viel zu sehr von sich selber in Anspruch genommen war. Daß ihr der Hof gemacht wurde, war ihm sogar wertvoll, denn es festigte seine gesellschaftliche Stellung, aber daran hatte er überhaupt nicht gedacht, daß sein 278 braves Frauchen, das ja eigentlich ungern in Gesellschaft ging, dabei auf abenteuerliche Ideen kommen könnte. Mit der Arbeit kam er heute nicht von der Stelle. Die häusliche Angelegenheit wurde von Viertelstunde zu Viertelstunde schwieriger, so etwas wie eine Gewissenserforschung, die weit in die Vergangenheit zurückreichte. Frau Hedwig Benthoff stand wieder mit ernstem Blicke vor ihm, und an sein Ohr klangen die beißenden Redensarten, die die Orster an ihn gerichtet hatte, als er mit ihr brach. Hatte er sich nicht immer im stillen erhaben gefühlt über Riederauer und Ruwer, was ihre Beziehungen zu Weib und Ehe anging? Er fühlte deutlich, daß er jetzt in arger Verlegenheit vor ihnen stehen würde. Ja, in Verlegenheit, denn er konnte den Gedanken nicht abweisen, daß er irgend etwas verfehlt haben mußte, und ganz heiß wurde ihm bei dem weiteren Gedanken, daß da der »Bauer« in ihm die Schuld tragen könnte, der mit einer Dame, wie Julie, nicht richtig hatte umgehen können. Immer peinlicher wurde die Lage. Er war doch wahrhaftig kein schlechter und kein dummer Mensch, und es war die volle Wahrheit, als er zu Julie sagte, daß er sie lieb habe. Freilich war er kein verliebter Schwärmer, man war ja auch schon sechs Jahre verheiratet, und er hatte eben ein ernstes Lebensziel, von dem sie doch auch Nutzen zog, wenn sie nur wollte. Irgendwie mußte die Sache eingerenkt werden. Mußte er ihr nun den Reiseplan ausreden oder seine Genehmigung geben? Das erstere mochte sehr peinlich werden, und das letztere brachte ihn den Bekannten gegenüber in eine schiefe Lage, wenn diese irgendwie Verdacht schöpften, daß es sich da um einen sehr plötzlichen Zwischenfall handle. 279 Und später? Sollte er alle seine Verbindungen aufgeben müssen? Dann war Berlin ohne Bedeutung für ihn, dann konnte er wieder nach München oder gar nach Düsseldorf zurück, und sein ganzer Lebenstraum war zerstört. Es war nicht bloß eine Überspanntheit. Julie hatte doch eine ganz eigentümliche Haltung gezeigt, der nicht zu trauen war. Wer war der Mensch, der sie dazu gebracht hatte?

ten Holten fing an, seine ganze Bekanntschaft durchzumustern, und wieder kam er zu keinem Ergebnis. Major Flatten befand sich zwar unter den in Sicht tretenden Gestalten, aber er hatte sich mit diesem Herrn immer nur ganz oberflächlich abgegeben, kannte ihn eigentlich kaum und hatte gar keinen Anhaltspunkt, gerade auf ihn einen Verdacht zu lenken. Das war ja doch nur ein Offizier, wie sie eben sind, und da hätte die Sache wohl ein ganz anderes Gesicht haben müssen, als sie eben hatte. Auch August Einhorn war wieder, wie schon zuvor, dabei, und zwar glaubte ten Holten Anhaltspunkte zu haben, daß dieser einigermaßen verliebt in Julie sei, aber er war doch nicht die Persönlichkeit, in dieser Art auf Julie einzuwirken. Dabei fiel ihm ein, daß August, der sein Atelier ganz in der Nähe hatte, immerhin der einzige war, mit dem er sich über seine Not offen aussprechen konnte. Der kannte doch seine Lebensanschauungen, war selber durch schwere Erfahrungen, allerdings wesentlich anderer Art, gegangen, und mochte er auch ein bißchen in Julie verliebt sein, er gab dann vielleicht gerade deshalb einen brauchbaren Wink und half auf die Spur des Anstifters des ganzen Unheils. Nach kurzer Überlegung machte er sich auf den Weg zum 280 Freunde. Seine knappe Mitteilung an diesen schloß er mit den Worten: »Was sagst du dazu?«

August Einhorn legte sein Malzeug beiseite, und mit gerunzelter Stirne einen finsteren Blick auf ten Holten richtend, antwortete er: »Es tut mir aufrichtig leid, daß die arme Frau in eine solche Lage kommen konnte.«

»Hast du vielleicht eine Ahnung,« fragte ten Holten jetzt, »wer der Mensch ist, der ihr den Kopf verdreht hat?«

»An deiner Stelle würde ich mich etwas anders ausdrücken,« entgegnete Einhorn, seine düstere Miene beibehaltend. »Mir scheint, daß du die Sachlage noch gar nicht erfaßt hast. Allzu überrascht bin ich nicht davon. Es entspricht auch der hohen Meinung, die ich immer von deiner Frau hatte, daß sie dir mit so schönem Freimut entgegentritt und dir noch Möglichkeiten offen läßt. Nicht jede hätte der Sache diese Wendung gegeben.«

Erregt sagte jetzt ten Holten: »Das klingt ja gerade so, als wärst du in alles eingeweiht. Da möchte ich doch bitten –«

»In nichts bin ich eingeweiht,« unterbrach ihn Einhorn. »Ein erbärmlicher Schuft wäre ich aber, wollte ich mit Vermutungen dir zu Hilfe kommen, ihre Lage noch peinlicher zu machen. Nach ihrem Verhalten wäre es überdies höchst unritterlich, ja brutal, wolltest du noch weiter nach ihrem Herzensgeheimnis schnüffeln.«

ten Holten sah den Freund mit einer unwirsch verlegenen Miene an und entgegnete in ärgerlichem Ton: »Du stellst dich also auf die Seite meiner Frau? Ich hatte mit dem sachlichen Rat eines alten Freundes gerechnet. Aber es war eigentlich zu erwarten gewesen.«

»Hör' mal, lieber Pitter,« sagte jetzt Einhorn. »Ich will dir was sagen. Du hast mir vor Jahren sehr unverhohlen 281 die Meinung gesagt, und du hast Recht gehabt. Jetzt komme ich an die Reihe, denn wenn ich reden soll, dann muß ich auch deine ganze Ehe, wie ich sie seit Jahren zu beobachten Gelegenheit hatte, in kritische Beleuchtung bringen dürfen. Ich rate dir nämlich dringend, den Empfindungen deiner Frau zartfühlend entgegenzukommen, sofern dir überhaupt noch an dem Bestand deiner Ehe gelegen ist.«

»Was soll das heißen?« fuhr ten Holten auf. »Natürlich ist mir daran gelegen. Ich habe meine Frau lieb. Es hat darin wohl jeder Mann seine persönliche Art. Ich habe es aber immer mit ihr sehr gut gemeint.«

»In deiner persönlichen Art,« fiel Einhorn ein. »Da sitzt der Haken. Diese Art war eben nicht die, die für eine Frau wie Julie paßt. Sie hätte für keine Frau von einiger Selbstachtung gepaßt. Du hast sie eben gerade so weit lieb gehabt, als es dir bequem war und deine sonstigen Absichten nicht störte. Sie hat das geduldig hingenommen, bis eben kam, was sie nicht vermeiden konnte. Ein schlechtes Weib begeht frischweg Ehebruch, eine anständige Frau wird niemals irre in ihren Gefühlen, wenn der Mann sich richtig gegen sie verhält.«

ten Holten unterbrach: »Meine Frau ist anderer Meinung. Sie fühlt sich selber schuldig.«

»Und darauf willst du dich stützen? Schäm' dich, Pitter! Der Schuldige bist einzig und allein du. Du bist ein tüchtiger Kerl gewesen, bist's im Grunde wohl auch noch. Aber von jeher hat es dir an Gemüt gefehlt. Du hast dir dein Leben mit dem Verstand berechnet, hast es damit weit gebracht, aber schließlich hast du dich doch verrechnet, weil es eben von Anfang an trotz deiner Klugheit eine falsche Rechnung war. Auf der Akademie, ja, da konnte man 282 glauben, du seiest ein Kerl, der, zu kaltblütig zwar für einen Künstler, ein großes Ziel mit eisernem Willen erreichen will. Dann, damals nach deinem Erfolg auf der Ausstellung, ist dir was in die Quere gekommen, das du nicht mehr überwunden hast. Du glaubtest, über deine Herkunft hinauswachsen zu müssen, wolltest ein Gesellschaftsmensch werden. Das war dir wichtiger als dein Künstlertum, das dir nur mehr Mittel zum Zweck wurde. Mittel zum Zweck war wohl auch deine Heirat, wenn auch ein bißchen Verliebtheit dabei gewesen sein mag. Ich rede nicht weiter von deiner Kunst, mit der es, unter uns gesagt, bergab geht. Jawohl! Hast dein Vergnügen daran, wenn dich die Leute für einen Holländer halten, liebäugelst mit der Manier des van Gogh, malst schlechter als du könntest, um modern zu erscheinen, spielst bei Hinz und Kunz, Katz und Wolf das Künstleroriginal, stellst die Schönheit deiner Frau vor Krethi und Plethi aus, hetzt sie, nachdem sie dir vier Kinder geboren hat, durch diese Salons der Emporkömmlinge und bist selber nichts als ein Emporkömmling. Daß du auswärts wolltest, nehme ich dir wahrhaftig nicht übel, aber du hast es falsch angefaßt, bist in der falschen Richtung emporgestiegen. Bauerntüchtigkeit steckt in dir, aber die Bauernschlauheit hat dich irregeleitet. Darunter muß deine Frau leiden, die, ich sage es dir ganz offen, ich anbete, seit ich sie kenne. Laß sie ziehen, hoffe, daß sie den Weg zu dir zurückfindet, dränge dich aber nicht auf, sondern warte geduldig, bis sie dich ruft. Dann falle ihr zu Füßen und bitte sie um Verzeihung. Da hast du meine Meinung.«

ten Holten hatte mit wachsender Unruhe zugehört. Seine Gesichtsmuskeln arbeiteten dabei in ständiger Bewegung. Als Einhorn geendet hatte, sagte er bitter: »Na, für 283 meine vormaligen Strafpredigten hast du ja gründlich Revanche genommen. Aber ich meine, die Sache läge doch etwas anders.«

»Allerdings,« unterbrach ihn Einhorn. »Wir sind beide um neun Jahre älter geworden. Ich war ein junger Mensch mit toller Leidenschaft, du bist ein gereifter Mann.«

»Der sich den Fußfall noch überlegen wird. So modern ist der Bauer doch nicht geworden,« versetzte ten Holten.

»Da hätten wir also den richtigen Bauernprotz, der nur ja nicht zugestehen will, daß er unrecht hat,« bemerkte Einhorn. »Nimm' dich in acht, Pitter, daß du mit deiner Rechnung nicht vollends Bankrott machst! Ein gründliches Defizit ist ja doch schon da.«

»Ich bin kein Schwindler, kein Emporkömmling, wie du es nennst. Ich verbitte mir das,« sagte jetzt ten Holten in vollem Zorn.

»Du brauchtest es allerdings nicht zu sein,« antwortete Einhorn trocken. »Das ist ja der Wahnwitz so vieler Menschen in dieser tollgewordenen Gesellschaft, daß sie den eigenen Wert nicht geltend machen, sondern es klüger finden, den Schein des Minderwertigen anzunehmen. Sie halten sich selbst zum Narren. Wenn ich kann, was ten Holten kann, wenn ich eine Frau wie ten Holten habe, dann mache ich diesem Volk des Westens und Ostens nicht den Hanswurst!«

Was war das? Das hatte sich ja vor neun Jahren in Düsseldorf zugetragen. Wie konnte August die alte Geschichte hervorholen? – –

»Ich habe ein anderes Freundeswort von dir erwartet,« sagte ten Holten und wendete sich zum Gehen.

284 »Überlege dir's, Pitter!« erwiderte August Einhorn, ihm die Hand entgegenstreckend. »Ich hoffe, du erkennst, daß es echte Freundschaft ist, die mich so reden ließ.«

*

ten Holten hatte noch eine Unterredung mit seiner Frau gehabt, bei der er sich so gedrückt und befangen gezeigt hatte, daß sie den festeren Ton anschlug, die Notwendigkeit einer zeitweiligen Trennung mit klarer Entschlossenheit betonte und ihm doch, wenn auch nur in leisen Wendungen, Hoffnungen auf einen versöhnlichen Ausgang machte. Gern gewährte er den als sanfte Bitte geäußerten Wunsch, die Kinder mitnehmen zu dürfen, denn er erkannte darin eine Bürgschaft ihres lauteren Willens. Als sie dann abgereist war, kam eine Zeit angstvoller Gemütsbedrängnis über ihn. Das war wie ein völliger Zusammenbruch seines scheinbar so erfolgreich gewesenen Lebens. In zaghafter Unsicherheit sah er sich nach allen Richtungen um, und wohin er blickte, glaubte er ein Wanken und Brechen wahrzunehmen. Als selbstverständliche Alltäglichkeit hatte er das Behagen seines Heims kaum beobachtet, jetzt graute ihm vor der lautlosen Öde, in der doch noch die Spuren verschwundenen Lebens peinigende Erinnerungen weckten. Wenn er vor der Staffelei stand, klangen ihm unablässig die harten Worte August Einhorns ans Ohr, daß es abwärts gehe mit seiner Kunst, die er an die Tagesmode verraten habe. Es war ja wahr, er hatte sich mehr und mehr angewöhnt, dieser Manier des Impressionismus, die von Händlern, Kritikern und Käufern so hochgewertet wurde, Zugeständnisse zu machen, die nicht aus dem eigenen beseelten Schauen der Natur kamen, sondern nur Kunstgriffe waren. Aber das 285 war nicht die nackte Geschäftslist gewesen. Von all dem Gerede, das man ringsum hörte, kam der Antrieb, sich den Erfolg zu erleichtern, aus dem Dunstkreis, in dem man lebte, drang ein Hauch auch unwillkürlich ins Atelier. Unrecht war es gewesen, sich dessen nicht zu erwehren. Die künstlerische Persönlichkeit hätte er sich wahren müssen. So war es ja auch in seinem Lebensplan gedacht gewesen. Höchst unbehaglich wurde es ihm jetzt, Gesellschaften zu besuchen. Da wurde er immer nach der Frau gefragt und mußte immer Redensarten machen, daß deren angegriffene Gesundheit die schleunige Abreise nach dem Süden nötig gemacht habe, und dabei kamen zuweilen unangenehm dreist forschende Blicke zum Vorschein oder zudringliche Fragen, die im Tone des Mitgefühls noch weiter forschten. Dagegen hatte Major Flatten, der doch öfter in seinem Hause verkehrt hatte, nichts anderes zu sagen gewußt, als: »Die Frau Gemahlin ist nach Oberitalien gereist? Wohl etwas überanstrengt gewesen vom Gesellschaftsleben? Wird sich hoffentlich bald wieder machen.«

Das war nun wieder gar zu trocken. Diese Offiziere gebärden sich immer, als seien sie Götter, die sich gelegentlich unter die Menschen niederlassen, mit denen sie eigentlich keine Gemeinschaft haben. Das klang gerade so, als ob diese Frau ten Holten, bei der er oft Tee getrunken hatte, für den Herrn Major nicht mehr bedeute als irgendeine Madame Schultze oder Piefke. Warum war er denn dann ins Haus gekommen? Mit diesen Leuten kam man nie zu einem richtigen Verständnis. Aber auch die übrige Gesellschaft sah ten Holten jetzt mit mißtrauischen Blicken an. Diese Witzelchen und Späßchen, diese geistreichelnden Oberflächlichkeiten waren ja alle Maske, Schein. Man 286 hielt es nicht für weltstädtisch, ernsthaft zu sein. Wenn es einmal geschah, dann besann man sich nach einer Weile und war bemüht, den Eindruck mit einer leichtfertigen Redensart, einer ironischen Wendung wieder zu verwischen. Sie machten alle den Hanswurst, wie es August Einhorn ausgedrückt hatte. Sie gebärdeten sich also alle wie Emporkömmlinge. Über dieses Wort dachte er viel nach, es kränkte ihn tief, aber trotz alles Sträubens kam er mehr und mehr dazu, daß sein Ehrgeiz wirklich nach und nach die falsche Richtung eingeschlagen habe von dem Tage an, da er das Hagenbachsche Haus in Düsseldorf betreten hatte. Ein Irrtum war es gewesen, der Irrtum eines unfertigen jungen Menschen, und den sollte er mit dem Zusammenbruch seines ganzen Lebens büßen? Er besann sich auf den Ernst seines Denkens und Strebens als Akademiker, gerade in den Jahren, in denen andere ihre Jugendkraft vergeuden, er dachte an die Tapferkeit, mit der er sich in München tüchtig gehalten hatte, und so weh wurde ihm manchmal ums Herz, daß er laut hätte aufheulen können. August Einhorn hatte ganz richtig gesehen, aber er hatte auch mit seinen Worten alles aus den Fugen gebracht. Schließlich fand er aber in seiner Not doch keinen anderen Weg als wieder zum Freunde, der sich jetzt angelegen sein ließ, ihn aufzurichten.

»Arbeite,« sagte er ihm, »glaube mir, in der Arbeit liegt die einzige Erlösung von Gemütsnot, und durch die Arbeit machst du dich frei von den Menschen, wenn du ehrlich arbeitest. Einen Kerl wie dich darf der Modepöbel nicht unterkriegen. Mußt Frau Julie zeigen, daß dich Berlin zwar einigermaßen besoffen gemacht hat, daß du aber noch deinen Weg findest.«

287 Und ten Holten arbeitete, arbeitete mit dem erwachten Gewissen eines reuigen Sünders. Als der Frühling kam, trieb es ihn fort von Berlin. Er hatte an Julie geschrieben mit schüchternen Andeutungen, als könnte er mit einem Besuche bei ihr Studienzwecke verbinden. Sie hatte ihm geantwortet, bei zunehmender Wärme wolle sie nach der Schweiz an einen stillen Winkel des Vierwaldstättersees übersiedeln und dabei deutlich zu erkennen gegeben, daß sie noch einige Zeit der Schonung ihres leidenden Gemütes bedürfe. Nach Bayern, das er sonst jeden Sommer aufgesucht hatte, wollte er nicht. Die Schwiegereltern mochten seine Anwesenheit im Lande irgendwie erfahren und es ihm verübeln, wenn er sie nicht aufsuchte. Aber das war doch jetzt nicht tunlich. Er stand bei ihnen ohnehin nicht sonderlich in Gunst, seit sie die Wahrnehmung gemacht hatten, daß Julie sich nicht wohl in Berlin fühle. So entschloß er sich dazu, auf längere Wochen nach der Heimat zu fahren. In den letzten Jahren war er immer nur flüchtig dort gewesen. Julie und die Kinder hatten ihn dabei begleitet. Sie hatten dann jedesmal bei Benthoffs vorgesprochen, und Frau Hedwig hatte immer große Sympathie für Julie gezeigt. Um Erörterungen auszuweichen, waren jetzt auch Benthoffs zu meiden. Er berührte Düsseldorf gar nicht, sondern fuhr auf der anderen Rheinseite in die Heimat. Dort erkannte man gleich in den ersten Tagen, daß in Pitters Ehe etwas nicht stimme. Man hatte Julie gern, war stolz auf die feine Schwiegertochter und freute sich über ihre umgängliche Art. Auf mißtrauische Fragen gab Pitter unzulängliche Antworten, aber man gab es auf, eindringlicher zu werden, denn er hatte schon lange in seinem Wesen, auch gegen Vater und 288 Mutter, eine gemessene Art angenommen, die nicht zu Vertraulichkeiten einlud. Jetzt war er einsilbig und beinahe ganz unzugänglich. Eine Frage der Schwester, ob er Geldschwierigkeiten habe, hatte er bissig beantwortet:

»Wenn einer bei euch nachdenklich erscheint, dann muß es ihm an Geld fehlen. Könnt euch beruhigen, meinetwegen braucht der Vater keine Hypothek aufs Haus zu nehmen.«

Den ganzen Tag saß er entweder draußen im Freien oder bei regnerischem Wetter in seiner alten Atelierstube an der Arbeit. Dabei wuchs in seinem Innern ein Gefühl neuen Werdens auf, neue künstlerische Erkenntnisse schienen sich dem Auge zu bieten. Aber wenn er sich dessen freuen wollte, dann besann er sich darauf, daß nichts Neues über ihn kam, sondern daß es nur Erinnerungen waren, die an den reifen Mann als Wohlbekanntes neu beleuchtet herantraten, und daraus gestaltete sich etwas wie ein großes Heimweh nach der Jugend und ihren trotzig tapferen Zukunftsträumen. So schmerzhaft war dieses Heimweh, weil es mit Reue gemischt war, und weil die Stille und Weite, die ihn umgab, zu einer unheimlichen Leere wurde. Er sah die Fülle des Lebens, und sie war ihm unerreichbar. An Julie und die Kinder dachte er und rief sie sehnend herbei. Die waren weit, weit weg, und er war heimgeschickt worden aus der Welt als Untauglicher, die Heimat war Verbannung, Strafort. Es kam vor, daß er sich ins Gras warf, das Gesicht in die Arme bergend und stöhnend. Dann sah und hörte er sie, die Herren und Damen, wie sie schwatzten, kicherten, ihre Witzchen machten, seine Gönner und Gönnerinnen, um deren Gunst er geschäftig gebuhlt, deren Schmeichelworte ihm Hochgefühle 289 bereitet hatten, als sei er ein glücklicher Lebenssieger. Und sie sahen jetzt aus wie ein grotesker Spuk, der mit Grimassen und Gliederverrenkungen ihn umtanzte, ein Rudel von trunkenen Faschingsnarren. Nein, Räuber und Diebe waren es, bestehlen, ausplündern wollten sie ihn, der unter sie geraten war, wie der dumme Bauer unter die Gauner.

Die heißen, bangen Tage vor dem Weltgewitter kamen. Ein Telegramm aus der Schweiz meldete, daß Julie mit den Kindern kommen werde. Julie brach in Schluchzen aus, als sie den Gatten zur Begrüßung umarmte.

Die drei Brüder Pitters wurden zur Feldarmee einberufen, er selber kam als garnisontauglich in die nahe Festung Wesel, wo das Regiment stand, bei dem er gedient hatte. Ein Herzfehler war an ihm entdeckt worden. Der Vorsitzende der Untersuchungskommission hatte eine mürrische Bemerkung gemacht, daß der kräftige Vizefeldwebel der Landwehr nur garnisontauglich sein solle. Der Stabsarzt hatte darauf geantwortet: »Es geht nicht. Die Zeitkrankheit. Wir haben zu gut gelebt.«

ten Holten kam zur Beschäftigung als Zeichner in das Bureau des Festungsgouvernements. Frau Julie mietete sich mit den Kindern in einem Gasthofe ein. Ein eigenartiges Dasein begann die Familie in der alten Festungsstadt, vom Berliner Leben gründlich verschieden. ten Holten hatte reichlichen Dienst. Die schöne Frau des Vizefeldwebels war bald eine bekannte Persönlichkeit bei den zahlreichen Offizieren, die gerade in demselben Gasthof, in dem sie wohnte, lebhaft verkehrten. Das war ihr unbehaglich, aber sie erfuhr dadurch doch keine eigentliche Belästigung. Man erwies der ernsten Dame die gebührende Achtung. Sie war mit sorgsamem Eifer bemüht, 290 dem Gatten die Lage möglichst zu erleichtern. Zu einer Erörterung der ehelichen Verhältnisse kam es gar nicht. Beide Teile schienen sich hinter die Erregung der Zeit zu verstecken, die gerade hier, in der Rheinfestung, die einem Feldlager glich, besonders lebhaft sich ausprägte. Es gab unter den gegebenen Umständen viel zu bereden, man unterhielt sich auch lebhaft über den Krieg und über Nachrichten, die das Schicksal von Freunden und Bekannten betrafen. August Einhorn war zu einem Divisionsstab gekommen, wo er wesentlich als Kriegsmaler Verwendung finden sollte. Juliens Schwager, der Professor der Chemie, leitete ein artilleristisches Laboratorium, Benthoff war daheim gelassen worden, weil er seine Maschinenfabrik militärischen Zwecken angepaßt hatte und Kraftwagen, Geschützlafetten und Gulaschkanonen erzeugte. Solche Gesprächsstoffe zog man mit Eifer heran. Die Kinder boten auch reichliche Beschäftigung, so daß ten Holten in der dienstfreien Zeit nicht über Langeweile oder über Verstimmungen zu klagen hatte. Aber das Gefühlsleben betrachtete man gegenseitig mit scheuer Befangenheit und vorsichtiger Zurückhaltung. ten Holten fühlte mit Wehmut, daß in Juliens Seele noch immer Hemmungen vorhanden waren, die sie zärtliche Annäherungen nur ganz passiv, mit sanfter Ergebung hinnehmen ließen. So war nicht nur eine Aussprache über Vergangenes behindert, sondern auch die augenblicklichen Empfindungen wagten sich nicht mit voller Aufrichtigkeit hervor. Das war für ihn um so härter, als das Kriegserlebnis seinen Gemütszustand noch mehr in Gärung gebracht hatte; das große Geschehende verband sich mit seiner eigenen Not zu Betrachtungen, an die er bisher nie gedacht hatte, und darüber 291 wäre vieles zu reden gewesen mit Julie, denn ihm war es, als ob alles Gewesene immer mehr in die Tiefe versänke und ein gänzlich Neues kommen müsse. Der Krieg vollführte sein Vernichtungswerk. Frau Juliens Bruder, der vor kurzem das juristische Staatsexamen gemacht hatte, fiel in den Argonnen. Das tat ihr bitter weh, zumal da sie des Leides gedachte, das dem Vater der Tod des einzigen Sohnes bereitete. Ein paar Monate darauf erlitt ten Holtens jüngster Bruder, der Förster, den Schlachtentod, und nicht lange darauf kam die Nachricht, daß sein anderer Bruder, der Lehrer, in Rußland als vermißt gemeldet und wohl gefangen sei. Man trug, was getragen werden mußte, aber man war still geworden und ging schweigsam nebeneinander her. Nur die Blicke suchten einander zuweilen und stellten die stumme Frage: »Hast du mir gar nichts zu sagen?« Und es kam immer noch keine Antwort von der anderen Seite.

Da straffte sich auf einmal Juliens ganze Haltung, in ihre Augen kam etwas wie ein starkes Wollen, und ten Holten dünkte es, als rücke sie ihm näher mit einer heischenden Gebärde.

Eines Tages las er in der Frankfurter Zeitung, daß der Kommandeur eines Infanterie-Regimentes, Oberstleutnant Flatten, an der Spitze seines Regimentes bei einem Sturmangriff vor Verdun gefallen sei. Die Todesanzeige war aus Hanau datiert. Das mußte der Major vom Generalstab sein, den er in Berlin gekannt hatte. Er sprach diese Mutmaßung gegen Julie aus, als er, vom Dienst kommend, sich zu ihr setzte. Ihre Augen wurden größer, ein Zucken flog über ihr Gesicht, sie faltete die Hände und sprach: »Herr, gib ihm die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihm!«

292 »Der!« murmelte ten Holten und starrte seine Frau an.

Sie richtete einen bittenden Blick auf ihn und sagte: »Gönne ihm das kleine Gebet!« Dann nahm sie seine Hand, und diese streichelnd sprach sie: »Wir bekommen ein Kind, Peter. Ich hab's ersehnt, und mein Sehnen ist in Erfüllung gegangen! Es wird uns erlösen.«

Da zwang es ihn auf die Knie, und er barg stumm seinen Kopf in ihren Schoß. Sie streichelte seinen Scheitel.

 


 


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