Karl von Perfall
Der kluge Pitter
Karl von Perfall

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Neuntes Kapitel

Seit langem nahm ten Holten seine Mittagsmahlzeiten in einem besseren Speisehause der Sonnenstraße ein, das nicht wie andere überfüllt war, sondern aus ihm unbekanntem Grunde eher spärlichen Besuch aufwies, trotz der guten Zubereitung der Speisen, die er früher gerade an besuchteren Orten vermißt hatte. Sorgfältigere Bedienung war der Gewinn dieses geringeren Andranges. Ihm war es aber eben darum zu tun, namentlich in der Zeit der kürzeren Tage, die Mahlzeit tunlichst rasch zu beenden, um bald wieder im Atelier bei der Arbeit zu sein. Als er nun nach seiner Rückkehr vom Rhein das Speisehaus wieder betrat, sah er an dem durch einen schmalen Gang von ihm getrennten, gegenüberliegenden Tische einen eleganten Herrn und eine noch ziemlich junge Dame sitzen. Der Herr fiel dadurch auf, daß sein Kopf zwischen hohen, scharf eckig abfallenden Schultern saß. Man sah zwar keinen Höcker, aber die Gestalt mußte immerhin, da der Mann auch sehr klein war, als krüppelhaft gelten. Die Dame, die den Hut abgenommen hatte, zeigte starkes, hellblondes Haar, sehr hellen, rosig-weißen Teint und eine schön gewachsene Figur. Eine unregelmäßige Mundbildung, die beim Sprechen sehr häufig die Zähne sehen ließ, beeinträchtigte den guten Eindruck der Gesamterscheinung nicht erheblich. Zunächst betrachtete ten Holten das Paar als Zufallserscheinung nicht sonderlich, er wurde erst aufmerksamer darauf, als es in den nächsten Tagen regelmäßig erschien. Auf seine Frage gab ihm die Kellnerin Bescheid, die Herrschaften kämen seit einer Woche regelmäßig zum Mittagstisch, der Herr sei nach 137 seiner Aussprache offenbar Ausländer, es handle sich weder um ein Ehe- noch um ein Liebespaar, denn sie redeten sich mit »Sie« an. Die weitere Mitteilung, daß sie nach ihren Gesprächen wohl »was mit der Kunst zu tun haben« dürften, schärfte ten Holtens Aufmerksamkeit. Er machte die Wahrnehmung, daß der Herr, dessen feines, blasses Gesicht mit dem pechschwarzen, Oberlippe und Kinn zierlich umspielenden Bart einen kränklichen Eindruck machte, eine Höflichkeit gegen die Dame bekundete, die etwas Werbendes an sich hatte, was die Dame mit kühler Gelassenheit entgegennahm. Sie war einfach, aber mit sorgfältiger Sauberkeit gekleidet, das reiche Haar wohlgeordnet, und die schlanken Hände, deren rechte zwei Ringe mit schönen Steinen trug, hatten vornehme Bewegungen. Die Unterfläche des Kinns und was hinter den Ohren und am Nacken von der Haut sichtbar wurde, hatte einen Ton, wie ganz leise rosig angehauchte Milch. Künstlerisches hatten beide gar nichts an sich, sie trugen völlig das Gepräge von Angehörigen der höheren Stände; aber ten Holten hörte diesen und jenen Satz aus ihren Gesprächen, der künstlerischen und zwar kunstgeschichtlichen Inhalts war. Wenn er kam, waren die beiden meist schon beim Fleischgang. Die Dame erhob sich gleich nach dem Essen, setzte einen großen braunen Plüschhut auf, schlüpfte, von dem Herrn, der kleiner war als sie, nur scheinbar unterstützt, in eine elegante Winterjacke, schüttelte ihrem Begleiter die Hand und entfernte sich, während dieser eine Zigarette anzündete und Zeitungen heranholte. ten Holten machte seine Beobachtungen aus bloßem Zeitvertreib. Zuweilen flog von der anderen Seite ein flüchtiger Blick zu ihm herüber. Nach mehreren Tagen 138 fiel es ihm ein, ehe er Platz nahm, höflich hinüber zu grüßen, was eben so höflich beantwortet wurde. Nachdem man so eine Weile auf Grüßfuß gestanden hatte, geschah es eines Tages, daß die Kellnerin, in der Mitte des Ganges stehend, von einem unbedeutenden Straßenunfall, der vor dem Hause geschehen war, erzählte und sich dabei nach beiden Seiten wendete. ten Holten machte eine scherzhafte Bemerkung, die von dem Herrn der anderen Seite eine Ergänzung erfuhr. Es kam dann öfter vor, daß kurze Bemerkungen ausgetauscht wurden, wie auch an die Stelle des stummen Grußes ein freundliches »Guten Tag« trat.

*

ten Holten wurde durch Riederauer darauf aufmerksam gemacht, daß die Zeit gekommen sei, sich wieder einmal bei einem Teeabend der Baronin Wehrenburg einzufinden. Er wollte diese Verbindung nicht vernachlässigen und nahm die nächste Gelegenheit wahr. Als beim Betreten des Salons sein Blick über die Anwesenden streifte, sah er zu seiner Ueberraschung die Dame aus dem Speisehaus. Die Baronin stellte ihn einigen ihm noch fremden Gästen, darunter auch dieser Dame vor, und er hörte, daß sie Fräulein Orster heiße. Das Fräulein verneigte sich sehr zeremoniell, errötete dabei und sah ihn mit einem starren Blick der graublauen Augen an, der ihm deutlich zu sagen schien: »Du sollst mich nicht kennen.«

Die Sachlage machte ihm Spaß. Da kam ja etwas von den »Geheimnissen Münchens« heraus. Er fand bald die Möglichkeit, sich ihr in einer Weise zu nähern, die ein unbelauschtes Gespräch gestattete. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen, als er sich der neuerdings 139 Errötenden mit den Worten näherte: »Es freut mich, Sie näher kennen zu lernen, Fräulein.«

Sie machte jetzt eine ganz harmlose Miene und sagte: »Sie kennen den Herrn nicht, mit dem ich Mittag esse? Es ist der Radierer, Herr von Bilewirski, ein hervorragender Künstler. Wir haben uns im Kupferstichkabinett, wo wir beide Studien machten, vor einiger Zeit getroffen. Er ist ein Kenner, auch im Kunstgewerbe. Ich bin nämlich Kunstgewerblerin, Textilfach. Herr von Bilewirski ist mir mit seinen Kenntnissen schon sehr nützlich gewesen.« Sie sprach ganz langsam, etwas mit der Zunge schleppend.

»Der Herr scheint kränklich zu sein?« sagte ten Holten.

»Er ist herzleidend, wie er mir sagte,« lautete die Antwort.

Im weiteren Verlaufe der Unterhaltung erfuhr ten Holten, daß sie aus Hannover stamme, die Tochter eines höheren Staatsbeamten sei und daß nahe Verwandte von ihr in Köln lebten.

Schließlich, als man sich nicht länger abseits halten konnte, sagte sie raschen Tones, etwas stockend: »Es handelt sich, wie Sie sehen, um eine sehr harmlose Freundschaft mit einem kranken Menschen. Aber es entsteht leicht eine Klatscherei, wie nun die Menschen einmal sind. Es wäre also sehr lobenswert von Ihnen, wenn Sie über diese Speisegemeinschaft nicht weiter sprächen.«

ten Holten versprach dies mit der Bemerkung, er finde den Fall völlig einwandfrei. Das Fräulein erzählte nun noch, daß sie verschiedenen jungen Damen der höheren Gesellschaft Unterricht gebe, darunter der Baronesse Steinbrück, durch deren anwesende Mutter sie hier eingeführt worden sei.

140 »Solche Herrschaften haben ja merkwürdige Ansichten vom Künstlerleben,« fuhr sie fort, »und denken gleich Übles, wenn ihnen derlei zu Ohren kommt. Von den Lebensbedingungen eines selbständigen Mädchens haben sie keine Ahnung. Ich leugne übrigens gar nicht, daß ich mit Herren lieber verkehre als mit Damen. Man lernt mehr dabei.«

»Wir werden uns also morgen mittag wiedersehen?« fragte ten Holten munter.

»Natürlich!« antwortete das Fräulein lächelnd. »Wenn ich jetzt fortbliebe, würden Sie sich Gedanken darüber machen.«

ten Holten fand es hinterher doch nicht so ganz harmlos und einwandfrei, daß sie die Sache so umständlich behandelt hatte. Er kam daher am anderen Tage mit einer gewissen Spannung zum Mittagstisch. Fräulein Orster dankte seinem Gruß mit einem vertraulichen Lächeln und machte ihn gleich mit ihrem Genossen bekannt. Es entstand nun eine lebhafte Unterhaltung von Tisch zu Tisch, die von gemeinsamen Berufsinteressen bestimmt war. Dabei erfuhr ten Holten, daß Herr von Bilewirski seine ersten Kunststudien in Berlin gemacht, dann mehrere Jahre auf der Münchener Akademie verbracht und darauf sich in Paris niedergelassen hatte, von wo er vor einem Jahr nach München zurückgekehrt war.

»Paris war meiner Gesundheit nicht zuträglich,« sagte er mit schmerzlich ironischem Lächeln.

Am folgenden Tage lud Fräulein Orster ten Holten ein, doch an ihrem Tische Platz zu nehmen. Die Unterhaltung sei dann bequemer. Er nahm die Aufforderung an, und es dünkte ihm, als flöge ein Schatten über die 141 Stirne des Herrn von Bilewirski, der sich dann nur mit einigen kurzen Bemerkungen am Gespräche beteiligte. Fräulein Orster sprach leise in einem gedehnten Ton, als läge ihr nichts an der Unterhaltung, und doch war sie es, die das Gespräch immer in Bewegung hielt. Es fiel ihm auf, daß der Pole heute das Fräulein gegen seine sonstige Gewohnheit, als es aufbrach, begleitete. Auch in den nächsten Tagen wollte es ihm scheinen, als sei diesem seine Anwesenheit am selben Tische nicht sonderlich angenehm, und zugleich glaubte er wahrzunehmen, daß Fräulein Orster in die eifrige Unterhaltung mit ihm eine ihm unklare Absichtlichkeit lege. Er fing dazu gewisse Blicke zwischen den beiden auf, die ihm höchst unbehaglich waren. Es dünkte ihm, als sei er da in eine peinliche Lage gekommen, der er sich nicht mehr allzulange aussetzen wollte. Seinen Mittagstisch zu wechseln, paßte ihm aber auch ganz und gar nicht. Ehe er sich aber klar geworden war, welches Verhalten er in dem sonderbaren Handel, in den er geraten zu sein schien, einschlagen sollte, zeigte Herr von Bilewirski eines Mittags ein ganz verändertes Verhalten. Er sprach sehr lebhaft über München, dessen Verhältnisse er sehr gut kannte. Auf eine verwunderte Bemerkung ten Holtens antwortete er: »Ich habe mich früher leidlich gesund gefühlt. Am Biertrinken lag mir nichts. Berge konnte ich allerdings schon damals nicht steigen, aber ich habe doch viel Verkehr gehabt und mich sehr gut unterhalten. Jetzt ist das anders geworden. Seit drei Jahren macht mein Herz dumme Sachen, und es ist nicht lustig, vor anderen Leuten immer den kranken Mann zu spielen. So lebe ich sehr zurückgezogen. Man kann sich das hier ganz erträglich machen. In Paris ist es zu 142 traurig, wenn man sich in einen Winkel verkriechen soll und dem Leben nur von ferne zusehen darf.«

Damit kam er auf Paris zu sprechen und hielt sich an den Gegenstand, als er erfuhr, daß ten Holten dort gewesen sei. Fräulein Orster beobachtete den eifrig Sprechenden mit einer Aufmerksamkeit, die in deutliche Überraschung überging, als Bilewirski ten Holten mit einer sanften Höflichkeit einlud, ihn doch einmal zu besuchen und seine Radierungen zu besichtigen, namentlich eine demnächst zu veröffentlichende Folge von sechs Blättern, von denen fünf bereits in Erstdrucken vorlägen. Die Folge sollte den Titel führen: »Das zwanzigste Jahrhundert.«

ten Holten sagte mit großer Bereitwilligkeit zu, und zwar wollte er noch diesen Nachmittag sich in der Wohnung Bilewirskis an der Schwanthalerstraße einstellen, sobald die einbrechende Dunkelheit ihn selbst am Arbeiten verhindern würde. Der Pole richtete einen heiteren Blick auf Fräulein Orster, der wie triumphierend aussah. Diese senkte die Augenlider und betastete mit der Gabel spielend die auf ihrem Teller liegenden Überreste.

Bilewirski bewohnte zwei Zimmer von der besseren Art der möblierten Wohnungen. Die Hauptstube war überdies durch Kunstblätter an den Wänden und verschiedene Gegenstände der Kleinkunst aus dem Eigenbesitze des Bewohners auf eine höhere Kulturstufe gehoben. Bilewirski wies seinem Besuch zunächst die fünf Blätter jener neuesten Veröffentlichung vor, von der er gesprochen hatte. Sie stellten eine Arbeiterkneipe mit Betrunkenen, einen Exerzierplatz, ein Dirnenkaffee und eine sehr gewagte Szene eines Paares in einem Salon dar. Er wies auch die Platte und den gezeichneten Entwurf des sechsten 143 Blattes vor, einer phantastischen Nachtszene mit modisch gekleideten Tänzerinnen, die die Leiche eines Mannes im Frack umtanzten, der von einem Kronleuchter herabhing. Die Hauptbilder waren umrankt von reichen, rahmenartig sich zusammenschließenden Motiven grotesker Menschen- und Tiergestalten symbolischer Bedeutung. ten Holten rühmte mit warmer Ueberzeugung die glänzende Technik dieser Blätter. Für das Gegenständliche hatte er keine Empfänglichkeit. Er hatte ähnliche Phantasien schon gesehen, sie lagen ihm aber so fern, daß er keine Stellung irgend welcher Art dazu nehmen konnte. Bilewirskis fragender Blick schien aber auch darüber ein Urteil zu begehren. Als dieses nicht erfolgte, sagte er, die Blätter an sich nehmend: »Über das Thema ließen sich ja noch mehr Blätter schaffen. Das ist das Reizvolle an der Radierung, daß man so beweglich mit ihr phantasieren kann.«

Er zeigte noch einige ältere Blätter, kleine, zierlich saubere Sächelchen darunter, die alle einen satirischen Zug an sich hatten.

»In früheren Jahren,« sagte er, »ging ich mehr auf das Kokette und Pikante aus, schielte ich nach dem Rokoko. Jetzt bin ich Zeitmensch geworden, prickelt mir der Trieb zur Tendenz in den Fingern.«

»Simplizissimus,« warf ten Holten lächelnd hin.

»Nur das nicht!« rief darauf Bilewirski mit abwehrender Gebärde. »Das Blatt ist mir gräßlich mit seinem stillosen Gemisch von Parisertum, bayrischem Bauernwitz und Sozialdemokratie gröbsten Schlages. Ich bin überhaupt kein Revolutionär in demokratischem Sinn. Ich hasse den Pöbel. Aber der Witz für mich besteht eben darin, daß unsere 144 moderne Kultur die Pöbelhaftigkeit aller Färbungen großgezogen hat und eben darum zugrunde gehen wird, während sich die Zeitgenossen einbilden, sie seien mit ihren Üppigkeiten und Weltstadtzaubern auf einen Gipfel des Glanzes gelangt.«

Da nahm ten Holten eine straffere Haltung an und sagte scharf: »Herr . . . Bilewirski, ich muß Ihnen bemerken, daß ich ein Bauernsohn bin.«

Bilewirski wurde einen Augenblick verlegen und versetzte dann mit lebhafter Höflichkeit: »Bitte sehr, mich nicht mißzuverstehen, Herr ten Holten. Was ich als Pöbel bezeichne, das ist die großstädtische Masse, die sich aus den verschiedensten Elementen zusammensetzt und eine Charakteristik an sich trägt, die man niemals beim Bewohner des flachen Landes finden kann. Diese Großstadterscheinung würde auch Ihnen nicht sympathisch sein, wenn Sie sie näher kennten.«

»So wären wir also nicht im Fortschritt, sondern im Niedergang begriffen?«

»Aber ohne Zweifel, im vollsten Niedergang.«

»Auch in Deutschland?«

Die Miene des Polen wurde ein wenig spöttisch, als er sagte: »Auch in Deutschland, trotz der hohen Meinung, die die Deutschen von ihrer Vorzüglichkeit haben. Kennen Sie Berlin?«

ten Holten schüttelte verneinend den Kopf.

»Das ist auch Ihre Reichshauptstadt, der die Provinz schleunigst alles nachmacht, was Berlin selbst wiederum mit größtem Eifer anderen Weltstädten entlehnt hat und, um ja nicht in der sogenannten ›Kultur‹ zurückzubleiben, noch zu steigern bestrebt ist.«

145 Der Pole berührte da Dinge, mit denen sich ten Holten noch recht wenig beschäftigt hatte. Aber aus einem dunklen Empfinden heraus sagte er trocken und beinahe übellaunig: »Berlin ist nicht Deutschland. Bei uns am Rhein gibt es wohl auch manche Modedummheiten, aber von Niedergang wird dort nicht gesprochen, sondern von Aufschwung.«

Er wußte nicht, wie es kam, daß die Gestalt des Fabrikanten Benthoff auf einmal vor ihm stand.

»Es wird dort verdammt ernst gearbeitet,« fügte er hinzu.

Bilewirski lächelte überlegen und sagte: »Sie denken an die Industrie. Ihnen imponiert die Kraftentfaltung des Kapitalismus.« Dann hielt er einen Augenblick inne, sah ten Holten eindringlich an und fragte ganz unvermittelt: »Was halten Sie von Fräulein Orster?«

ten Holten zeigte eine etwas überraschte Miene und antwortete dann kühl: »Ich kenne die Dame ja nicht weiter, aber sie scheint mir sehr klug.«

Etwas unruhig Flackerndes war in die Augen Bilewirskis gekommen. »Sehr klug ist sie,« sagte er mit großer Lebhaftigkeit, »eine außerordentlich begabte Künstlerin. Sie interessiert mich ganz außerordentlich. Sie ist aber auch tadellos anständig. An eine frivole Annäherung ist da nicht zu denken, ganz ausgeschlossen.«

Den letzten Satz hatte er mit solcher Dringlichkeit und mit einem solchen großen Blick gesprochen, als wollte er ten Holten vor einem Versuche warnen. Dieser konnte sich eines kurzen Auflachens nicht erwehren, als er erwiderte: »Von mir hat sie nichts zu fürchten.«

Der Pole geriet in eine verlegene Unsicherheit, lachte auch, aber mit etwas gemachtem Klang, und sagte dann 146 scheinbar leicht hingeworfen: »Nun, sie ist eine stattliche Erscheinung, die immerhin Anregungen geben könnte.«

ten Holten zuckte die Achseln. Bilewirskis Augen sahen aber unruhig suchend an ihm herum. Endlich sagte er, wiederum lächelnd: »Offen gestanden stehe ich ihr nicht so kühl gegenüber. Sie ist selbst Norddeutsche und blond, daher ist es erklärlich, daß Ihre Empfindung weniger reagiert.«

Dabei lag doch immer noch etwas Fragendes in seinem Blick.

ten Holten erwiderte mit einer schmunzelnden Miene: »Na, wenn es sein soll, reagiere ich auch auf blond.«

Darauf versetzte Bilewirski in einem beinahe ärgerlich klingenden Ton: »Sie erfreuen sich, wie mir scheint, einer robusten Gesundheit.«

»Das stimmt,« lautete die Antwort. »Richtige Bauernrasse.«

»Und Sie haben wohl die Erfahrung gemacht, daß manche Weiber darin einen besonderen Anreiz finden.«

Wieder klang aus der Stimme Bilewirskis ein Gemisch des Scherzes und der Schärfe.

ten Holten sah sich jetzt den Polen doch etwas befremdet an und antwortete schroff: »Ich bin kein Schürzenjäger. Dazu ist mir meine Zeit zu wertvoll.«

Geschmeidig erkundigte sich Bilewirski jetzt nach ten Holtens eigener Kunst und knüpfte daran allerlei Bemerkungen über moderne Landschaftsmalerei, die diesen im Grunde sehr anregten. Aber der Mann war ihm unbehaglich geworden, und so suchte er bald nach einer geeigneten Wendung, den Besuch zu beenden.

147 Auf der Straße überlegte er den Hergang. Offenbar war es dem Polen nur darum zu tun gewesen, ihn nach etwaigen Gefühlen für dieses Fräulein Orster zu betasten. Er war eifersüchtig. Im übrigen schien er auch kein gemütlicher Umgang zu sein. Da gab es ja eine Möglichkeit, das Pärchen loszuwerden und wieder allein beim Mittagsmahl zu sitzen. Man brauchte nur dem Fräulein tüchtig den Hof zu machen. Dann mochte es der edle Pole anderswohin schleppen, denn enger als durch Künstlerkameradschaft hingen die beiden doch zusammen. Wenn es noch keine Liebschaft war, so strebte der Herr von Bilewirski wenigstens nach diesem Ziele. Die Unantastbarkeit der Dame war nur so stark betont worden, um ihn einzuschüchtern. Dabei hatte der kranke Mann Angst vor dem Bauernjungen.

In den nächsten Tagen verhielten sich die beiden nun wirklich wie ein Liebespaar und zwar in der Weise, daß Bilewirski seine Gefühle kaum zu beherrschen vermochte, während das Fräulein ihn mit warnenden Blicken im Zaum hielt. ten Holten setzte aber mit seinem Feldzugsplan ein. Er zog Vergleiche zwischen seiner niederrheinischen Heimat und den ländlichen Verhältnissen in Bayern und ließ dabei gelegentlich das heimische Platt einfließen. Daran fand Fräulein Orster sichtliches Gefallen und sprach dann mit Selbstgefühl vom Musterland Hannover, und wenn sie auch die kühle, langsame Redeweise beibehielt, gab es doch eine sehr rege Unterhaltung, die ihr gelegentlich auch eine ganz frische Heiterkeit entlockte. Bilewirski sah sich durch solche Gesprächsweise ganz lahmgelegt, denn seine Versuche, der Unterhaltung eine weniger enge stoffliche Unterlage zu geben, wurden immer wieder vereitelt, indem 148 nach kurzer Ablenkung die beiden wieder zu ihrem alten Thema zurückfanden. Er suchte sich zu rächen, indem er allerlei boshafte Bemerkungen über deutsche Verhältnisse machte. Da war es aber gerade Fräulein Orster, die ihm mit größter Schärfe entgegentrat, so daß es einmal sogar zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen beiden kam, die ten Holten erst nach längerem Bemühen beschwichtigte, und zwar kam er in die Lage, Bilewirski in Schutz nehmen zu müssen, denn Fräulein Orster war arg in Zorn geraten. Der Pole war zu der Behauptung gekommen, die Deutschen besäßen keine höhere Lebenskultur. Da hatte Fräulein Orster, den ganzen Stolz der Hannoveranerin hervorkehrend, diese Behauptung wie eine persönliche Beleidigung genommen und war sehr ausfällig gegen die slawische Gesittung geworden. Bilewirski war ganz bleich, seine Schläfen glänzten wie schweißbedeckt, die Nasenflügel zitterten, und mit bebenden Lippen die Worte hervorsprudelnd, mit denen er die Ehre Polens verteidigte, fand er nur mühsam Atem. ten Holten gab dem Streite, sich gegen Fräulein Orster richtend, die Wendung, daß Tischgespräche nie tragisch genommen werden sollten und kehrte sich dann gegen Bilewirski mit der Meinung, daß solche allgemeinen Anklagen gegen eine Nationalität oder auch eine Landschaft immer von Übel seien, wenn man unter dieser Nation mitten in einer bestimmten Landschaft lebe.

»Ich glaube,« sagte er, »in Paris würden Sie es nicht wagen, in ähnlicher Weise französische Art zu kritisieren. Aber wir sind hier unter uns im engsten Kreise. Fräulein Orster kennen Sie ja sehr gut, und ich bin in dieser Richtung nicht übelnehmerisch. Es mag ja sein, daß Ihnen hier manches von dem fehlt, was Sie unter Lebenskultur 149 verstehen, aber es lebt sich doch, wie ich meine, ganz gut bei uns in Deutschland. Sie haben ja deshalb München als Aufenthaltsort gewählt. Und,« schloß er mit einem pfiffigen Blick und einem Lächeln, »Fräulein Orster wird Ihnen doch auch nicht gar so unkultiviert erscheinen.«

»Vielleicht doch,« warf diese achselzuckend ein und wendete den Blick absichtsvoll zur Seite.

Jetzt suchte Bilewirski nach Entschuldigungen, sprach davon, daß er gewisse allgemeine Lebensbedingungen unpersönlicher Art, nicht das persönliche Wesen gebildeter Deutscher gemeint habe, lobte die deutschen Damen und deren Ernst gegenüber der Flatterhaftigkeit der Polinnen, und als ihn Fräulein Orster immer weiter reden ließ, ohne ihre verdrossene Haltung zu ändern, bat er sie inständig um Verzeihung. ten Holten ärgerte sich jetzt über die demütig bettelnde Art, mit der er das Fräulein lange vergebens zu erweichen suchte, bis es endlich heroisch sagte: »In Zukunft lassen Sie derartige Redensarten, wenn Sie weiter mit mir verkehren wollen. Merken Sie sich das.«

Er küßte ihr die Hand, und als sie aufbrach, ging er, wie ein Diener, hinter ihr her, nachdem er ten Holten die Hand besonders kräftig als Ausdruck stummen Dankes geschüttelt hatte. War das eine Komödie von der Orster gewesen, und zu welchem Zweck? Dieses Gerede von Lebenskultur war doch nicht, meinte ten Holten, eine solche Erregung wert.

Gelegentlich einer Zusammenkunft in der Weinstube erzählte er Riederauer und Ruwer von seinen Mittagsgenossen und ihrem Spiele. Riederauer bemerkte dazu mit einer beinahe übellaunig klingenden Rauheit: »Scheint 150 der richtige Weiberhandel zu sein. Du bist der Dame wohl gerade recht gekommen, um als Puppe zu dienen, die sie dem Polacken vor der Nase tanzen läßt, ihn zu reizen.«

»Dabei ist er ein völlig kranker Mensch,« warf ten Holten dazwischen.

»Was schadet's,« versetzte Riederauer. »Er ist ein Pole, das kitzelt so ein Ding, und vielleicht hat ein kranker Pole noch einen besonderen niederträchtigen Reiz. Vielleicht will sie ihn auch zur Heirat treiben, um später die polnische Witwe spielen zu können. Das ist dann wieder für die Mannsleute eine besondere Nummer.«

»Es mag sich unter den vielen Fremden hier mancher Roman abspielen,« warf Ruwer ein.

»Fremd oder nicht,« sagte Riederauer. »Die Weiber sind immer daran, mit dem zu spielen, was sie einen Roman nennen. Das is halt einmal ihr Lebenszweck.«

»Ich meine, Fremde haben eben kein rechtes Heim, keinen rechten Stützpunkt,« versetzte Ruwer, »und da schafft das haltlose Dasein allerlei abenteuerliche Zufälle. Aber einen Lebenszweck suchen wenigstens deutsche Frauen doch nicht darin. In solcher Allgemeinheit dürfen Sie nicht sprechen, lieber Riederauer.«

Er hatte mit einem sanften Ernst gesprochen, der erkennen ließ, daß ihn in Riederauers Rede etwas verletzt hatte.

Riederauer schwieg, ten Holten bemerkte aber, daß er einen kurzen, suchenden Blick auf Ruwer warf und dann seine Aufmerksamkeit auf einen Nachbartisch richtete, an dem gar nichts Besonderes zu beobachten war. Ruwer wendete sich an ten Holten mit den Worten: »Sein Sie 151 nur vorsichtig, lieber Landsmann. Ich weiß es aus den ersten Jahren meines hiesigen Aufenthaltes, ehe ich verheiratet war. Man kommt hier als Fremder durch ähnliche Zufälle, wie Sie ihn getroffen haben, leicht in Verwicklungen, die folgenschwer sein könnten. Ich selbst habe ja nichts Besonderes erlebt, aber an Bekannten habe ich doch manches erfahren.«

ten Holten antwortete: »Mich gelüstet auch gar nicht nach Abenteuern. Im gegebenen Falle möchte ich nur nicht meinen Mittagstisch wechseln.«

Riederauer drehte sich gegen ihn mit den Worten: »Du hast doch eben gesagt, das Mädel sei ganz gut gewachsen.«

»Nun ja, aber deshalb –« entgegnete ten Holten.

Da hob Riederauer sein Glas und sagte ganz grimmig: »Na, dann auf die Gesundheit des Polacken, und ›Lieb Vaterland, magst ruhig sein‹.«

Ruwer forderte, als er aufbrach, die beiden anderen auf, doch wieder einmal nach der Prinz-Ludwigs-Höhe zu kommen, wo sie sich mehrere Wochen nicht mehr hatten sehen lassen. Beide versprachen es in unbestimmter Weise. Als sie dann allein waren, kam ten Holten darauf zurück und wollte einen bestimmten Tag mit Riederauer verabreden. Da sagte dieser geräuschvoll: »Ich habe jetzt viel zu tun und kann gar nichts versprechen.«

»Na, dann verschieben wir es eben,« sagte ten Holten darauf. »Aber warum bist du denn eigentlich heute so gereizt?«

»Ich bin nicht gereizt,« lautete die Antwort. »Aber dieser Ruwer, das mußt du doch sagen, war heute doch langweilig mit seinen salbungsvollen Redensarten.«

152 »Er fühlte sich als Ehemann gekränkt,« meinte ten Holten.

»Das ist eben der Blödsinn!« schrie Riederauer beinahe.

ten Holten schwieg, von solcher Art verletzt, und beeilte sich, mit dem Reste in seiner Flasche zu Ende zu kommen. Beim Auseinandergehen sagte dann Riederauer scherzhaft, in offenkundiger Absicht, versöhnlich zu wirken: »Dreh' dem Polacken doch das Mädel ab, wenn's dir gefällt, und lauf' nicht länger so einschichtig herum. Das ist nur so ein Getue mit dem interessanten Schlaviner, ein gesunder Hahn ist ihr im Grunde doch lieber als ein kranker Piepmatz.«

Als er in den nächsten Tagen allein auf die Prinz-Ludwigs-Höhe kam, fand ten Holten Frau Ruwer in ziemlich schlechter Laune. Sie brachte bei seinen Scherzreden kaum ein Lächeln auf die Lippen, stichelte und nörgelte wieder gegen den Gatten und ließ die meiste Zeit die Herren ohne ihre Gesellschaft.

Eine später erfolgende schriftliche Einladung zum Christabend war ihm aber trotzdem sehr angenehm. Frau Ruwer würde bei dieser Gelegenheit wohl keine schlechte Laune zeigen, und er brauchte den Abend nicht, wie voriges Jahr, in öder Einsamkeit zu verbringen.

Als er Riederauer, der zu seiner Schwester nach Traunstein zu verreisen gedachte, davon erzählte, sagte dieser: »Da kannst du mir ja dann berichten, was mein Pelzwerk für einen Eindruck gemacht hat.«

»Dein Pelzwerk?« fragte ten Holten in höchstem Erstaunen.

»Na ja, Ruwer hat mir den Auftrag gegeben, ein schönes Pelzwerk für seine Frau zu besorgen,« antwortete Riederauer. »Er meinte eben, wenn ich auch, wie er 153 selber, nichts davon verstehe, so hätte ich doch sachkundige Mittelspersonen an der Hand. Werd's auch besorgen.«

ten Holten hatte darauf weiter nichts zu bemerken, aber er wurde den Gedanken nicht los, daß Ruwer dieses Ansuchen nicht an Riederauer hätte richten sollen.

Als nun am Christabend Ruwer seiner überraschten Frau nach einer Weile mitteilte, daß Riederauer die Auswahl besorgt habe, beobachtete ten Holten die Frau und sah, wie ihre Züge eine gewisse Spannung annahmen und sie dann neuerdings das Pelzwerk aufnahm und wiederholt mit der Hand streichelnd darüber hinfuhr, und nach seiner Meinung nahm jetzt ihr Gesicht einen sinnenden Ausdruck an. Ruwer selbst schien ganz erfüllt von Weihnachtszauber; seine Augen strahlten, ein beglücktes Lächeln lag auf seinem Mund, unter Liebkosungen spielte er mit den Kindern, und dazwischen kam er wieder an die Frau heran, sie auf die Schulter klopfend oder an der Taille umfassend. Diese bekundete aber auch im Laufe des Abends eine unbefangene Fröhlichkeit, und bei einem vortrefflichen Mahl verlief der Abend in einer echten Weihnachtsstimmung, bei der neben dem Scherzworte gehobene Gefühlsklänge sich geltend machten. Namentlich fand der Hausherr immer wieder Anlaß zu einer sinnigen Bemerkung oder zu einer träumerischen Erinnerung. Die Frau erschien im Laufe des Abends verschönt, und ihr lebensvoll feuriger Reiz leuchtete dem Gatten lockend und verheißend entgegen. 154

 


 


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