Karl von Perfall
Der kluge Pitter
Karl von Perfall

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Sechstes Kapitel

Eine schwere, bitterschwere Stunde, eine Stunde unheimlichen Bangens war es, als Peter ten Holten, Abschied zu nehmen, am Ufer des Stromes beim Heimatdorfe stand. Der weite Himmel, die große Ebene, das gleichmäßig schnell sich dahinwälzende Wasser, sie waren lautlos still. Still waren auch etliche Vögel, die den Raum mit raschem Flügelschlag durchschwebten. »Du gehst uns nichts mehr an, Treuloser!« sprach es grollend aus diesem Schweigen. »Geh' deiner Wege und laß uns ungeschoren. Wir kennen dich nicht mehr, wir reden nicht mehr zu dir!« Die funkelnde Sonne aber lachte:

»Unbeholfener Knabe, läßt es dich nicht los, dies kleine Fleckchen Niederrhein? Als ob ich weniger leuchtete, schlechter wärmte in andern Ländern!« Er fürchtete diese große, leuchtende Sonne, die ihn blendete. – –

Der Schnellzug rasselte dahin, immer am Rhein, vorbei an Köln, ließ Bonn, ließ Koblenz, ließ alles, was noch zur Heimat gehörte und vertrauten Klang hatte, zurück. Und während Peter ten Holten mit ängstlicher Begierde die Bilder festzuhalten suchte, gingen ihm Erinnerungen an die Akademie durch den Kopf, an August Einhorn dachte er, von dem er sich gar nicht verabschiedet hatte und der ihm doch lange ein lieber Freund gewesen war, die Männer vom Stammtisch fielen ihm ein, und schließlich kam Herr Hagenbach an die Reihe, der ihn so sichtlich ungnädig entlassen hatte. »Ich bin nicht euer Hanswurst! In mir habt ihr euch geirrt!« grollte es dann in ihm, und er spürte einen höhnischen Eigensinn, als hätte er den Düsseldorfer Herrschaften mit seiner Flucht 85 einen boshaften Streich gespielt. Jetzt war der Rhein verschwunden, neuartige Landschaften reizten seine Aufmerksamkeit und brachten mehr und mehr fröhlichen Mut in die Seele. Schöne Gegenden waren es, die der Zug durchfuhr, bis die einbrechende Dunkelheit die Sicht wegnahm. Mitreisende hatten ihn mehrmals ins Gespräch ziehen wollen. Die Leute gingen ihn aber nichts an, und ihm stand auch gar nicht der Sinn nach dem politischen Gerede, das der Zweck dieser Anknüpfungen zu sein schien. Hätte er der tastenden Neugier eines Geschäftsreisenden anvertrauen sollen, wie ein Künstler fühlt und denkt, der die Reise nach der Zukunft macht?

Mitternacht war schon nicht mehr weit, als er in München ankam. In einem nahegelegenen Gasthof nahm er Wohnung. Eine große Bierhalle befand sich im Erdgeschoß, die er nach der kurzen Verhandlung mit dem Pförtner betrat. Der dunkel getäfelte Raum, der mit Hirschgeweihen und einem Altmünchen darstellenden, großen Ölgemälde ausgeschmückt war, zeigte sich dicht besetzt. Die mit Bierkrügen herumeilenden Kellnerinnen waren für ten Holten sofort eine ihm ungeläufige Eigentümlichkeit. Er hatte an einem Tische mitten unter anderen Herren Platz genommen. Da klang eine Sprache an sein Ohr, die er zwar als deutsch erkannte, aber doch nur bruchstückweise verstand. Als dann von einem Nachbartisch Töne herüberkamen, die eine norddeutsche Zunge erkennen ließen, erfaßte ihn ein lebhaftes Gefühl der Freude darüber, daß er doch nicht ganz allein war. Es hatte zwar nicht rheinisch geklungen, er empfand es aber doch ungefähr wie einen Heimatsgruß. Am andern Morgen fragte er den Pförtner des Gasthofes nach der besten Art, zu einer Wohnung mit 86 Atelier zu kommen. Dieser nahm seine Anfrage mit besonderer Lebhaftigkeit auf und sagte gleich:

»Das trifft sich gut, daß Sie gleich mich gefragt haben. Es muß doch nicht gerade in der Nähe der Akademie sein?«

Als ten Holten dies verneinte, fuhr er fort: »Ateliers gibt's hier an allen Ecken und Enden. Aber man muß aufpassen, wo man gerade hinkommt, denn es sind richtige Zigeunerlager dabei. So was werden der Herr aber nicht wollen.« Dabei streifte er den Gast mit einem Blick vom Kopf bis zu den Füßen und sprach weiter:

»Da wäre nämlich meine Schwester – ihr Mann ist Eisenbahnbeamter. Die hat in der Goethestraße ein sehr schönes Zimmer zu vermieten. In der Straße gibt's aber auch Ateliers, und da ist vielleicht eines oder das andere zu vermieten. Sehen Sie sich dort einmal um. Weit zu laufen haben Sie von hier aus nicht. Die Lage ist gut, näher an der Stadt als da draußen bei der Akademie, und nahe am Bahnhof, wo doch die Herren Maler öfter über Land fahren.«

ten Holten nahm den Wink an und begab sich zunächst nach der Goethestraße. Er war sehr erfreut, als sich die Angelegenheit sofort seinen Wünschen entsprechend ordnete. Das Zimmer genügte ihm, und in nächster Nähe fand er ein Atelier.

Zwei Empfehlungen hatte er mitgebracht, die eine an den Professor Wieland, der bei der vorjährigen Ausstellung in Düsseldorf gewesen war, und die andere an den Maler Ruwer, der vor Jahren an der Düsseldorfer Akademie studiert hatte und dort noch Beziehungen besaß. Als er sich aber auf dem Stadtplan des gekauften Fremdenführers überzeugte, daß die beiden in weitentlegenen, 87 ganz entgegengesetzten Vororten wohnten, wollte er zunächst die Jahresausstellung im Glaspalast und die Sezession besichtigen, dann in den Museen und zumal auch in der Stadt selber Umschau halten. Die Ausstellungen – im Glaspalast befand sich ein Bild von ihm – hauchten ihm die besondere künstlerische Lebensfreude ein, die er darüber empfand, jetzt auf breiterer Plattform mit den Zeitgenossen ringen zu dürfen; aus den Museen kam dann noch ein mächtiger Akkord, die Schwungkraft der Seele zu beflügeln. In solcher geistigen Verfassung nahm er nach und nach das Bild der Stadt in den alten und neuen Teilen auf. Sie war schön, sehr schön mit ihren breiten Straßen, reichen Kirchenfassaden, stolzen Prachtbauten, Denkmälern und Brunnen in grünen Anlagen. Ein leichtes, heiteres Pathos ging von ihr aus, eine lächelnde Vornehmheit sprach aus diesen Bauten, die freundlich einluden, nicht prahlerisch sich zur Schau stellten, auf daß der arm Schelm aus der Provinz demütig staunend sie begaffe. Köstlich fügte sich in das freundliche Bild das helle, leuchtende Blau der elektrischen Straßenbahnwagen. Vergnügt lächelnd besah ten Holten es sich immer wieder, wie so ein hellblauer Fleck, aus der Ferne kommend, allmählich von starker Wirkung im Bilde wurde und dann wieder verklang. Was ihm aber gar nicht gefiel, das war die schlichte Art, wie die meisten Menschen, Männlein und Weiblein, die ihm begegneten, gekleidet waren. Das paßte nicht in diese schöne Stadt. Zumal die meisten Straßen auch sehr still waren, kam es ihm gerade so vor, als sei sie von besseren Leuten verlassen und nur einfacheres Volk zurückgeblieben. Da ging man in 88 Düsseldorf doch ganz anders gekleidet. Auch als er in das berühmte Hofbräuhaus einen neugierigen Blick warf, gefiel es ihm gar nicht dort. An den Klang der Sprache hatte er sich binnen weniger Tage so ziemlich gewöhnt. Des Scherzes halber begann er mit einer Gasthauskellnerin eine Unterhaltung. »Was ist denn jetzt dös für a Sprach? Dös versteh' i aber fei net!« sagte das Mädchen, und als er ihr dann erklärte, daß dies seine eigentlich dem bayerischen Dialekt entsprechende Heimatsprache sei, meinte sie: »Dös is aber g'spaßi! Dös versteht ja kein anderer Mensch.«

Ja, weit, weit war es vom Niederrhein, und ein bißchen Bangigkeit kam doch über ihn, ob die Menschen hierzulande ihn verstehen würden oder ob er in eine Vereinsamung im schönen München geriet.

Gelegentlich hatte er bei vornehmen Kunsthändlern vorgesprochen und unter Hinweis auf sein Bild im Glaspalast Verbindungen anzuknüpfen gesucht. Die Herren waren sehr höflich, aber auch sehr zurückhaltend. Das tat wieder ein bißchen weh. Da mußte man ganz von vorne anfangen, und in Düsseldorf war man schon darüber hinaus gewesen, kannte einen schon jeder Kunsthändler. »Aber ihr werdet mich schon kennen lernen!« knirschte es in ihm.

Professor Wieland, der in dem Villenvorort Gern eine stattliche Villa mit Garten bewohnte, empfing ihn in seinem Atelier mit behaglicher Freundlichkeit und bemerkte auf seine Begründung der Übersiedelung:

»Düsseldorf ist Ihnen also zu klein geworden? Na, hier werden Sie auch nicht über Nacht weltberühmt. Das dürfen Sie sich nicht einbilden!«

89 Als dann ten Holten auf gesellschaftlichen Anschluß hindeutete, meinte er kühl:

»Sie werden schon mit der Zeit Bekannte finden. Im Zylinderhut Visiten machen ist hier bei den Künstlern nicht Brauch, hülfe auch wenig. Ich bin morgen abend in der Allotria. Wenn Sie hinkommen wollen, will ich Sie gern dort einführen.«

ten Holten sprach weiter von einem Wege zur Aufnahme in die Sezession, zu der Wieland gehörte; dieser sagte wieder:

»Mit der Zeit wird sich das machen lassen. Vielleicht treffen wir schon morgen jemand vom Vorstand. Vor allem müssen Sie sich einmal in der Gegend orientieren, wo und wie Sie's mit Ihrer Kunst anpacken wollen.«

Als er nun am nächsten Tag im Lokale der Kunstgesellschaft »Allotria« an der Barerstraße erschien, war gerade niemand vom Sezessionsvorstand anwesend, andere Herren begrüßten ihn nicht allzu zuvorkommend und unterhielten sich, von flüchtigen Fragen über Düsseldorf abgesehen, so ausschließlich über engere Angelegenheiten, daß er sich ziemlich gelangweilt fühlte. Die Verstimmung darüber wurde aber weggewischt durch einen Ausflug nach Starnberg, der ihm das Bergpanorama, das in den letzten Tagen nur in schwachen Umrissen erkennbar gewesen war, in voller Herrlichkeit vor Augen führte. Die Eigenart dieses vielgezackten, leuchtend blauen Gebildes mit den blendend weißen Flecken und Streifen, das den Horizont so wunderlich abschloß, wie er dergleichen nie geahnt hatte, verwirrte ihn zunächst wie eine bizarre Naturerscheinung, bis sich das Auge soweit gewöhnt hatte, den Farben- und Formzauber, der sich 90 hier kundgab, in seiner Schönheit zu genießen. Wie so etwas künstlerisch zu fassen wäre, das wurde ihm bei diesem Anblick freilich nicht klar, denn alle bisherigen Gewöhnungen des Auges wurden davon über den Haufen geworfen. Nur so viel fühlte er, daß die in ihm schlummernde Farbensehnsucht ihn richtig gelenkt hatte, als sie auf München wies, und daß jetzt künstlerische Fragen an ihn herantreten würden, die in Düsseldorf ihm ganz fern geblieben waren. Er fürchtete sich nicht vor den Kämpfen, die ihn hier erwarteten, aber es regte sich in ihm doch der Wunsch nach irgendwelchen Winken, die ihm ein langes Tasten und Suchen auf dem fremden Gebiete ersparen könnten. Da mochte der andere Künstler, an den er empfohlen war, der rheinische Landsmann Ruwer, vielleicht ein Helfer werden. An der Prinz-Ludwigs-Höhe wohnte er. Das lag weit draußen außerhalb der Stadt über dem Isartale. Peter hatte schon mehrmals von der Maximiliansbrücke aus die weißlich-grünen, milchig-dicken Fluten des mit Wellen und Wirbeln dahingehenden Flusses beobachtet, der so recht ins Bergtal oder ins Wiesenland paßte, aber an den vornehmen Straßen der schönen Stadt doch arg ungehobelt vorbeikam, an die Schleusenwerke wie ein grober Bursche anrempelnd. Wenn da der Rhein vorbeigerauscht wäre: das wäre ein Bild edlerer Größe gewesen. Aber draußen im Freien mochte der ungebärdige Geselle wertvolle Reize bieten. Das Isartal bis Wolfratshausen hinauf war einmal zu besehen, und damit ließ sich, wie der Stadtplan zeigte, zweckmäßig ein Besuch bei Maler Ruwer verbinden. Ruwer wohnte nicht an jenem Teil der Höhe, der eine prächtige Sicht auf das Flußtal und 91 die vieltürmige Stadt im Hintergrund bietet, sondern in der geschlossenen Straßenzeile der einstöckig sich aneinander reihenden kleinen Villen, die vom Höhenrande weiter zurückgeschoben lagen. Hinter der öffnenden Magd stand auf dem Flur eine große, dunkelhaarige Dame in noch jugendlichem Alter, Frau Ruwer offenbar, die ihn mit ausgeprägter Mundart ins obere Stockwerk wies.

Ruwer war ein zierlicher Mann mit langem, glatt zurückgestrichenem Haar und einem kurzgehaltenen, am Kinn geteilten Vollbart von pechschwarzer Farbe. Ein freundliches Lächeln lag bei der Begrüßung auf seinen Lippen, und in raschem Redefluß, aber mit leiser Stimme fing er gleich zu plaudern an von Düsseldorf, vom Rhein und von seiner engeren Heimat, Trier. Allerlei bunte Lappen, Waffen, farbige Holzfiguren lagen und standen im Atelier herum und auf der Staffelei, die ten Holtens Blick sofort anzog, ein farbig leuchtendes Bild. Vor einem dunklen Fichtenwald, über dem der Himmel leuchtend blaute, ritt auf schwerem, weißem Pferde ein Ritter in goldener Rüstung mit mächtigen rosenfarbenen Federbüschen auf dem Helm, gefolgt von seinem Knappen und einer gefleckten Dogge. In der Bildecke sah man ein weißes Schloß. Pferd und Reiter hatten in der Formgebung den schnörklich auszierenden, dabei derb kräftigen Stil der alten Stiche der Barockzeit, die Ausführung war mit höchster Feinheit in den zeichnerischen Elementen behandelt, vor allem aber bot das Bild eine leuchtende Farbenpracht, die an Böcklin erinnerte. ten Holten betrachtete das Bild mit großer Aufmerksamkeit, denn so fern es den eigenen Zielen stand, erkannte er darin die Bedeutung seines Schöpfers. Nach 92 Art ernster Künstler untereinander machte er nur leise anerkennende Bemerkungen über Einzelheiten der Tongebung. Ruwer führte ihm noch ein zweites Werk vor. Auf einer Wiese vor einem Fichtenwalde verfolgte ein Bär Kinder, die schreiend auf eine Kapelle zuliefen, vor der ein Einsiedler die Hände zum Himmel emporhob. Ein junger, ritterlicher Jäger trat dem Bären mit dem Speer entgegen. Das seitwärts an eine einzelnstehende Fichte gebundene Pferd des Ritters bäumte sich hoch auf.

ten Holten fragte: »Bei wem haben Sie denn in Düsseldorf studiert?«

»Bei Gebhardt,« lautete die Antwort. »Gelernt habe ich viel bei ihm, aber da ich Kirchenmaler werden wollte, habe ich mich mit dem ausgeprägten Protestantismus der Charakteristik, aus dem er einen doch nicht losließ, auf die Dauer nicht vertragen. Darum bin ich hierher gegangen, und hier habe ich die Kirchenmalerei bald, so viel Gelegenheit dazu auch gewesen wäre, aus den Augen verloren, und ich bin in so was hineingekommen, was ich bayrische Romantik nennen möchte. Es gibt da viel Anregungen dazu, wenn man das Land einmal kennt.«

Kindergeschrei wurde im Erdgeschoß hörbar.

Ruwer sagte mit einer Miene, die lächelnd um Entschuldigung zu bitten schien: »Ja, in so was kommt man auch hinein mit der bayrischen Romantik.« Dann rief er lebhaft: »Wir wollen aber einen guten Tropfen Mosel trinken, nicht wahr? Und Sie erzählen mir dann vom heutigen Düsseldorf.«

Damit schritt er zur Tür. Vor dieser wendete er sich noch mal um und fügte noch hinzu: »Und einen Löffel 93 Suppe nehmen Sie dann auch mit uns ein! Sehen Sie sich einstweilen in meinen Mappen um.«

Gleich darauf hörte ten Holten eine laut scheltende Frauenstimme.

Als Ruwer zurückkehrte, sagte er, wiederum sanft lächelnd, aber auch mit deutlicher Verlegenheit: »Sie müssen entschuldigen, lieber Landsmann, aber meine Frau ist gerade heute nicht vorbereitet, einen Gast zu empfangen. Es ist Wäschetag, und da wird in der Küche kurzes Verfahren gemacht. Schreiben Sie mir einmal eine Karte, wenn Sie uns das Vergnügen über Mittag machen wollen. Nicht wahr, Sie schreiben?«

Ein Dienstmädchen erschien mit einer Flasche und zwei Gläsern. So viel verstand ten Holten von einer Hauswirtschaft, daß des Mädchens Kleidung nicht einem Wäschetag entsprach. Es waren also andere Gründe, weshalb die Hausfrau ihm die Gastfreundschaft verweigerte.

»Ist das hübsche Häuschen Ihr Eigentum?« fragte er Ruwer, der darauf antwortete, er habe es vorläufig gemietet, und dann mit lustiger Miene den Landsmann willkommen hieß.

»Das habe ich noch beibehalten,« sagte er dazu, »ein gutes Moseltröpfchen ist mir noch immer ein Stück Lebensfreude. Auf den Pfälzer, den man hier zumeist trinkt, lasse ich mich nicht gern ein.«

Er fragte nach Düsseldorfer Bekannten, erzählte von seiner Akademiezeit und sagte schließlich: »'s ist mir nicht leicht geworden hier, aber jetzt bin ich wohl über den Berg. Man kultiviert wieder das Altmünchnerische, und da hat man meine Sachen auf einmal stilgemäß gefunden. Volkstümlich sind sie angeblich auch, und so werde ich 94 gelegentlich mit Thoma zusammengekoppelt. Ich laß es mir gefallen, aber ich male so doch nur, weil es mich eben freut, weil es mir die Lust an der Kunst gibt.«

Als dann ten Holten davon sprach, daß er erst sich in der bayerischen Landschaft orientieren müsse und das wohl längere Zeit dauern könne, meinte er:

»Ich kenne ja nichts von Ihnen und weiß daher nicht, wie Ihr Sinn gerichtet ist. Mit dem Hochgebirge aber, meine ich, sollten Sie nicht viel Zeit verlieren. In der blauen Ferne sind die Berge am schönsten, vom Vorland gesehen, und da finden Sie noch mancherlei Schönes. Auch die Menschen sind da so nebenher ein ganz interessantes Studium, urwüchsige Rasse, unverfälschtes Bauerntum. Im Gebirge drinnen ist alles auf Sommerfrische frisiert, berechnende Fremdenindustrie in jedem Worte, in jeder Gebärde.«

ten Holten offenbarte seinen Drang nach kräftigeren und freieren künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten, als sie in der Düsseldorfer Art gegeben seien.

»Ich verstehe Sie wohl,« sagte Ruwer lächelnd, »man ist vorsichtig in Düsseldorf, erschreckt nicht gern die Herren Kommerzienräte durch Verwegenheiten. 's ist eine feine Stadt mit noblen Manieren.«

Die Redewendung kam ten Holten gelegen, sich nach den gesellschaftlichen Verhältnissen Münchens und nach der Art zu erkundigen, wie Beziehungen anzuknüpfen seien.

Ruwer sah ihn eine kleine Weile prüfend an und sagte dann sehr ernst: »Ich bin nur Künstler und habe nie nach gesellschaftlichen Verbindungen ausgeschaut. So halten es wohl auch die meisten anderen Künstler hier. Bekanntschaften macht man hier übrigens sehr leicht. 95 Wenn Ihnen darum zu tun ist, kann ich Ihnen wenigstens nach einer Richtung dienlich sein. Ich mache Sie mit dem Bildhauer Riederauer bekannt, einem tollen Gesellen, aber bedeutendem Künstler, der hier in allen möglichen Kreisen eine beliebte Erscheinung ist. Er lebt ein bißchen wüst. Das braucht man ja nicht nachzumachen. Wir suchen ihn einmal in seinem großen Atelier am Güterbahnhof auf. Er arbeitet viel Architekturplastik, aber auch feinere Sachen. Mir hat er auch schon Aufträge verschaffen wollen für Wandmalereien. Ein großes Bierlokal hätte ich in meiner Art ausmalen sollen, aber es hat mir widerstrebt, die Sachen, die ich mir so ersinne, biertrinkenden, zigarrenqualmenden Philistern vor die Nase zu setzen.«

»Sie sind Idealist,« warf ten Holten mit leisem Lächeln ein.

»Bin ich auch,« rief Ruwer darauf energisch. Gleich schwatzte er aber wieder munter: »Ein schlimmer Knabe ist er schon, der Riederauer, und ich teile seine Lebensanschauung beileibe nicht, aber echte Künstlerrasse, ein vollsaftiger Mensch, dem es in die Wiege gelegt worden ist, als Sieger durch die Welt zu gehen. Der dürfte Sie interessieren, und der kann Ihnen auch behilflich sein, in gesellige Kreise zu kommen, wenn Ihnen daran gelegen ist. Ich meine freilich, man hat dazu in München gar kein Bedürfnis. Es ist ganz merkwürdig hier. Auf den Straßen herrscht kein sonderlicher Verkehr, und doch fühlt man sich immer umflutet von warmem Leben, sogar hier draußen.«

»Sie sind sehr gern hier?« fragte ten Holten.

»Möchte nirgends anders leben,« lautete Ruwers Antwort. »Das Moselweinchen darf allerdings nicht dabei fehlen.«

96 Er machte einen langsam schlürfenden, tiefen Schluck und fuhr dann fort: »Der Künstler kann nur da eine Heimat finden, wo Kunst wächst, und die wächst leider nicht überall. Ja, wenn sie in Trier mit einem Maler was anzufangen wüßten, dann wäre ich vielleicht dort geblieben. So habe ich mir davon nur den Weingeschmack zurückbehalten. Ich bin kein Kneipbruder, das dürfen Sie nicht glauben, aber die idealste Natur kann die Materie nicht ganz entbehren.«

Er kicherte vergnügt vor sich hin.

Indem er ten Holten den Rest aus der Weinflasche einschenkte, sagte er: »Geben Sie mir Ihre Adresse, damit ich Sie aufsuchen kann, so in ein paar Wochen, wenn Sie was zum Zeigen haben, daß ich Sie auch künstlerisch kennen lerne. Wir wollen uns dann schon verstehen. Es hat jeder seine eigene Sprache, mit dem Pinsel wie mit der Zunge. Und verübeln Sie es uns nicht, daß wir Sie heute nicht zu Mittag behalten können. Ein andermal, wenn Sie nur ein Kärtchen schreiben.«

Als ten Holten sich verabschiedete, begleitete er ihn bis an die Haustür und hielt ihn dort ein Weilchen mit eifrigen Freundlichkeiten fest.

Gewinn ließ sich aus dieser Bekanntschaft zunächst auch nicht schöpfen, doch hatte ten Holten das Gefühl, daß er den Weg zu diesem von der eigenen Art so ganz verschiedenen Mann, der ein großer Künstler war, über kurz oder lang wiederfinden würde. Einstweilen blieb nichts Besseres zu tun, als auf eigene Faust Forschungsreisen in der Umgebung Münchens zu machen. Einige Ausflüge ins Gebirge bestätigten Ruwers Anschauung. Da gab es wohl viel Schönes für das Auge, gänzlich neue Eindrücke, die 97 aber seinem malerischen Wollen keinen besonderen Antrieb gaben. In Vergnügungsfahrten wollte er aber keine Zeit verlieren, es drängte ihn zur Arbeit. So zog er im Vorlande zwischen München und den Bergen kreuz und quer und kam nur auf einen Tag oder zwei nach der Stadt, um sich zu einer neuen Ausfahrt zu verschnaufen. Die verschiedenen Bilder, die er in sich aufnahm, ordneten sich immer deutlicher zur Erkenntnis des zu wählenden Arbeitszieles, und jeder Tag brachte neue Offenbarungen, die den Schaffensdrang anschwellen ließen, bis schließlich vor der tatenlustig jubelnden Seele eine neue Welt dastand, in deren reiche Fülle hineinzugreifen nunmehr die gesegnete Stunde gekommen war. Er hatte sein Wirkungsfeld auf der oberbayrischen Hochebene in der weiteren Umgebung Münchens gefunden, wo die dunklen Fichtenwälder den ganzen Horizont umsäumten, von den bald deutlicher hervortretenden, bald nur leise sich ankündenden Alpenbergen überragt, und in weitem welligen Ackerland große Dörfer ihre schneeweißen Kirchtürme mit seltsamen, dicken Zwiebelhauben oder in sattelartiger Giebelung zum tiefblauen Himmel emporstreckten.

In einem kleinen Marktflecken mit alten Toren und stattlichen, buntfarbigen Häusern, in deren Mitte sich eine stolze, zweitürmige Barockkirche erhob, hatte er sein Hauptquartier aufgeschlagen. Bäuerliches, Kleinbürgerliches und Beamtenschaft mischten sich dort zu einem Volkstum, dem er neugierig näher trat. Erst mußte er hier, wie auf den Dörfern, die Erfahrung überwinden, daß die hochdeutsche Sprache, die doch ein einigendes Band aller Deutschen hätte sein sollen, statt dessen trennend, Mißtrauen weckend wirkte. Wer so sprach, wie man es in der Schule lernte, aber nicht 98 wie im Elternhause geredet wurde, war ein hochfahrender Geselle, der was Besseres scheinen wollte, als die Leute hierzulande, eben ein – »Preiß'«. Zwar stieß er immer wieder aufs neue auf dieses Hemmnis, aber er kam da und dort doch den Leuten näher, daß sie zu der Meinung gelangten, er sei trotz der preußischen Sprache ein ehrlicher Geselle, und selber gab er sich Mühe, sich diese und jene gangbare Ausdrucksweise anzueignen. Daß er sich als Katholiken bekennen konnte, brachte ihm auch Vorteil, und das lustige Mienenspiel, das er zeigte, flößte den Leuten, die ihn öfter sahen, allmählich Zutrauen ein. Die gebildeten Personen, Schulmeister, Förster und Beamte aber meinten, wenn er seine Heimat nannte: »Vom Rhein sind Sie? Dös is was anderes, dann sind's ja gar kein richtiger Preiß'.«

Was sich aber immer wieder in seine künstlerische Gedankenwelt und ihren Wechsel ringenden Zweifelns und freudigen Gelingens eindrängte, war das rege Interesse für das Bauerntum, wie er es an den stattlichen Gehöften und an den Menschen beobachtete, in ihrer schwerfälligen und selbstbewußten Art. In der Heimat waren die Bauern, so erkannte er, dem Städtertum in ihrer ganzen Artung viel näher gerückt, von höherer Kultur wohl, aber was er hier sah, das hatte auch mehr Eigenart, gab sich viel bewußter als Bauernweise. Wenn auch die Trachten, die man auf alten Bildern sah, nicht mehr gezeigt wurden, so war es doch an den mannigfachsten Anzeichen erkennbar, daß sich dieses Bauerntum noch als »Stand« fühlte und das Dorf noch eine Sonderwelt bedeutete, in der alte Vätersitten noch herrschten und städtische Einflüsse nur nebensächliche Erscheinungen waren. Er hatte seine Freude daran, 99 und der Wunsch regte sich in ihm, mit diesen Menschen das heimische Platt sprechen zu können; aufmerksam lauschte er auf das laute Gespräch, das sie im Wirtshaus führten und aus dem er nur ein Gewirr von hellen und dunklen Vokaltönen heraushören konnte.

Etwas ganz anderes suchte er doch in München. Übte das Bauerntum also wirklich eine so große Macht über die prächtige Kunststadt aus, wie es zahllose Malereien zu künden schienen, oder war's der Bauernjunge in ihm, der sich zu gleicher Art mächtig hingezogen fühlte? Er ärgerte sich über die dummen Einfälle und Regungen, die ihn überkamen. Er war kein Figurenmaler, was gingen ihn also die Bauern an? Die Landschaft hatte er zu erfassen, und die hatte mit dem Niederrhein wahrhaftig keinerlei Beziehungen, denn alle Töne waren ganz anders.

 


 


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